Ein Stück Alfons

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Leovinus

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Schon seit Stunden konnten die Gardinen das Sonnenlicht nicht mehr völlig aus dem Zimmer sperren.
„Körnchen?“ fragte er.
„Ja, mein Grashalm?“
„Körnchen.“
„Was ist denn?“ Sie drehte sich zu ihm.
„Ach Körnchen ...“
Mit ihrer Bettdecke kuschelte sie sich an ihn. „Welcher Wind hat meinen starken Grashalm geknickt, dass er so triese-truse-traurig ist?“
„Ich halte das nicht aus.“
Sie schüttelte die Haare. Ihre Faust sauste auf seine Brust. „Los, jetzt sag schon, was ist!“
„Ach, Körnchen ...“
Mit Schmollmund setzte sie sich auf und sprach: „Wenn du nicht im Augenblicke, auf der Stelle und ohn’ Umschweife damit herausrückst, was dein Herz beklemmet, so bin ich längstens dein Körnchen gewesen, sondern fürderhin nur noch „Luise“ bitte schön. – Puh, welch lange Rede statt Zigarette danach.“
„Weißt du, ich glaube ... nein ... egal.“
Die Luise verdrehte die Augen. Sie schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Im Hinausgehen sagte sie zu ihm: „Mein werter Herr von und zu. Glaube Er nicht, dass Er damit durchkommt. Du hast drei Minuten Bedenkzeit. Wenn du dann nicht sprichst, erwartet dich die Müllersche Fragefolter.“
„Ach Körnchen...“
Stöhnend verließ sie das Zimmer.
Als sie mit dem Aschenbecher und der roten Zigarettenschachtel wiederkam, hatte er die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte lächelnd an die Decke.
Sie öffnete weit die Fenster. Ein Strom warmer Frühlingsluft breitete sich aus. Er trieb Schweißgeruch und Kerzenrauch der letzten Nacht hinaus in das Geäst der Esche. Dort verhakte sich auch Körnchens Drohung.
Luise wand sich gekonnt unter die Bettdecke und paffte.
Ihr Grashalm seufzte „Oje, es ist wahr.“
„Bist du immer noch nicht fertig? Was hat dich denn erwischt?“ Sie stupste ihn in die Seite.
Er stützte sich auf, nahm ihr die Zigarette aus den Fingern.
„Körnchen, es ist etwas Furchtbares passiert.“
„Letzte Nacht? Fand ich nicht.“ Sie zündete sich eine neue Zigarette an. Still rauchten die beiden vor sich hin. Draußen, unter dem Fenster, unterhielten sich zwei Tratschtanten. Eine dritte Frauenstimme kreischte über die Straße: „Olymp – kommst du jetzt her!“ Olymp gehorchte: „Ja, Mama.“ In ihrem Bette schauten die beiden sich an und grinsten. Ihr Kind, irgendwann, würde Alfons heißen, das stand fest. Oder Alfonsia, je nachdem.
Die Luise versuchte, Kringel zu blasen. Es gelang, wie immer, nicht.
„Weißt du, Körnchen, es ist nur so ...“
„Pschscht – jetzt stör mich nicht. Hast es bis eben nicht sagen wollen, also ist’s nicht wichtig. Nun bin ich beschäftigt.“
Er blickte sie aber mit so treuen Hundeaugen an, dass sie nicht widerstehen konnte.
„So. Genug beschäftigt gewesen sein tun. Und jetzt raus damit. In einem Satz! Sonst muss ich dich leider zu Tode kitzeln.“
„Ich wollte dir einfach nur sagen, dass ich glaube, dass ..., also, ich halte es immerhin für denkbar ...“
Sie stürzte sich auf ihn und ehe er sich versah, kniete sie auf seiner Brust. „... und ich halte es immerhin für denkbar, dass der grausame Konrad gleich des Todes ist! Sprich zu deinem armen Weibe, sonst muss ich wegen niederträchtigen Mordes für lange und für immer in den Kerker!“
„Körnchen, ich bin glücklich. Ich bin so glücklich, dass es einfach nicht mehr schöner werden kann. Ist das nicht traurig?“
Aus Luisens Mund kam ein perfekt gerundeter Rauchkringel.
Und dann: „Ich finde es traurig, dass du das erst jetzt merkst. Du hattest vor genau einem Jahr das Vergnügen, mich zu ehelichen! Warst du die ganze Zeit unglücklich?“
„Natürlich nicht, Wolkenschaf. Aber man kann doch nicht nur glücklich sein, oder?“
„Herrje, du bist ja richtig in Grübellaune am Sonntagmorgen.“ Das Wolkenschaf entschwebte wieder auf die eigene Betthälfte. „Jetzt gib erst den Zigarettenstummel her. Sonst verbrennst du noch vor lauter Glück.“
Der Rest wechselte in den Aschenbecher hinüber. „Wenn du glaubst, dass ich die Gelegenheit nutze, ebenfalls grübelig zu werden, hast du dich getäuscht. Ansonsten aber geb ich dir Recht. Es muss auch Unglück geben.“
Konrad setzte sich auf und legte die Stirn in Falten. „Jetzt hab ich den Anschluss verpasst. Woher die Ehre, Recht zu haben? Wer war jetzt unglücklich? Du? Ich? Olymp?“
„Niemand, Dummkopf! Und da wir dies nun geklärt haben, wird es Zeit, dass einer von uns beiden aufsteht und Frühstück macht. Hopp, auf mit dir.“
Die Sonne hatte weit über die Hälfte ihres Tageswerks vollbracht, als die beiden nach einem ausgiebigen Frühstück auf die Straße traten. Luise war bester Laune, weil die Mai-Temperaturen den dunkel-orangefarbenen Rock erlaubten. Ihr Grashalm trug die weiß-braun karierte Jacke, ein Geschenk seines Vaters.
„Heute nach rechts“, befahl er, ohne gefragt worden zu sein. Sie gehorchte.

Nach wenigen Schritten langten sie im Park an. Auf den Wiesen lagerten Familien, einige Mutige sonnten sich bereits, drei Halbwüchsige warfen sich eine Frisbee-Scheibe zu. Ein kleiner Junge pflückte eifrig wild wachsende Blumen. Körnchen sprang auf ihn zu, Konrad folgte vorsichtig.
„Für wen ist denn der schöne Strauß?“ Erschrocken blickte der Junge zu Luise auf.
Für Anna waren die Blumen, und er wandte sich geschäftig wieder der Wiese zu.
„Ist Anna deine Freundin?“
Nein, Anna war die Freundin seiner Mutter. Im übrigen säße sie dort drüben auf der Bank und links daneben, das sei die Mutti.
„Hat denn die Anna Geburtstag?“
Anna wird zweiunddreißig. Aber jetzt müsse er sich beeilen, weil doch die Anna schon so alt sei.
„Ist er nicht süß, mein Grashalm?“ umarmte die Luise ihren Konrad. „Zarte zweiunddreißig wird sie und er denkt an ihren Tod.“
Das wäre schon richtig, erwiderte Konrad. Man könne nicht früh genug damit anfangen.
„Aber, denkst du denn an dein Ende?“
„An meines und an deines noch viel mehr.“
Luise löste sich aus der Umarmung und hob ihre Brauen: „Du denkst über meinen Tod nach?“
„Stell dir vor, es gewittert und es trifft dich der Blitz. Was sollte ich tun?“
Luise stellte sich dicht vor Konrad und Nasenspitze an Nasenspitze erklärte sie ihm: „Dann nimm meine Asche und streu sie über den Wolken aus. Beim nächsten Regen würde ich auf dich fallen, wieder und wieder. Und wenn der Regen vorüber ist, dann schau in die Sonne, geh nach Hause und dusche mich von dir.“ Er versprach es.

Luise drehte sich um, sah den Jungen die Blumen an Anna überreichen und fuhr Konrad an: „Schäm dich! Wer wird denn an einem solch hellen Tag etwas so Düsteres denken? Zur Strafe musst du mich in die Eisbar dort einladen.“
Auf der Terrasse von „Luigis Eis Trattoria“ bediente sie eine graue Kleine mit knarziger Stimme. Luise verlangte wie immer einen Riesen-Milchkaffee und Extra-Zucker. Die Alte deutete stumm auf den Zuckerstreuer auf ihrem Tisch. Unbeeindruckt bestellte Luise dazu vier Kugeln Eis, aber mit ganz wenig Sahne, weil die bekanntlich nicht gut für die Figur sei. Ihr Grashalm begnügte sich mit schwarzem Kaffee und Banana Split.
Die Alte balancierte das Gewünschte herbei und Körnchen schaute ihr mit großen Augen hinterher. „Hast du gesehen, wie die mit dem Hintern wackelt?“
„Das habe ich nicht gesehen. Ich schaue alten Frauen prinzipiell nicht auf den Hintern.“
„Ach? Aber jungen Frauen schon?“
„Selbstverständlich“, murmelte er.
„Auch anderen als mir?“
„Ausschließlich“, kam es trocken aus seinem Mund.
In Körnchens Augen machte sich blankes Entsetzen breit. Konrad kramte die Schachtel mit den Zigaretten aus der Jackentasche. In der anderen Tasche suchte er vergebens nach seinem Feuerzeug. Schließlich schlenderte er in den Gastraum zur Theke, nahm aus einem Glas ein Päckchen Streichhölzer und zündete umständlich die Zigarette an. Lachfalten erschienen auf seinen Wangen. Luise trommelte ungeduldig mit den Fingern als er wieder auftauchte.
„Was soll das heißen: ausschließlich?“
„Deinen Hintern kenne ich. Da muss ich nicht mehr schauen.“
„Ich weiß gar nicht, warum ich mit einem Stiesel wie dir überhaupt noch zusammen bin. Küss mich!“ Gehorsam folgte er.

Am Himmel waren Wolken aufgezogen. Luise begann zu frösteln. Er streifte ihr die karierte Jacke über.
Sie hatten ihr Eis gegessen, die letzte Zigarette geteilt und noch einmal gemeinsam der Alten auf den Hintern gestarrt, wofür sie böse Blicke vom Tischnachbarn zur Rechten ernteten. Schließlich verließen Körnchen und Grashalm die Lokalität. Erste Tropfen fielen in Luisens Haar.
„Konrad, sag denen, die sollen damit aufhören!“ quengelte sie und stampfte mit dem Fuß.
„Damit kann man nicht aufhören, mein Kind. Das nennt man Regen.“
Na, ob er denn denke, sie wüsste nicht, was Regen sei? Vielmehr müsse er sie doch vor diesen Witterungsunbilden schützen. Außerdem sei sie kein Kind.
„Regen – mein Kind“, betonte er, während sich nun die Wolkenschleusen vollends öffneten, „Regen ist wichtig für die Natur.“ Bereitwillig ließ sie sich von ihm um die Hüften fassen und in die Luft heben, während er weitersprach. „Und da wir alle Teil der Natur sind, ist es völlig falsch, sich diesem zu verwehren. Im Übrigen handelt es sich um ein Gewitter, wie du unschwer am Blitzen und Donnern erkennen wirst.“
Mit Schwung wirbelte er sie durch die sprühenden Tropfen. Körnchen breitete die Arme aus und ließ das Wasser von ihren Haaren auf seine Schultern rinnen. In diesem Karussell nur für sie drehten sich Luigis Eisbar, die nahe gelegene Straße, der Park, die Wolken. Und im Zentrum von allem war die einzig feste Größe nur ihr Grashalm Konrad.
„Grashalm!“ rief sie. Am Himmel zuckten Blitze.
„Ja?“ Noch einmal drehte er sich und stellte sie atemlos in eine Pfütze.
„Grashalm, mein Grashalm.“
„Was hast du denn, Luise-Kind?“
Es donnerte.
„Nenn mich nicht Kind! Ich bin erwachsen genug für eine großartige Erkenntnis.“
Er neigte den Kopf zur Seite.
„Ja, mein Grashalm, ich habe gerade etwas herausgefunden.“
„Was hast du entdeckt, meine Lieblings-Luise?“
„Das errätst du nicht.“
„Dann verrate es einem dummen grünen Grashalm.“
„Ich bin glücklich und es ist großartig.“
Er küsste sie, und sie küsste ihn wieder, und der Regen fiel, und ganz im Westen ging hinter den Wolken langsam die Sonntagssonne unter.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
hallo

leovinus, habe deine geschichte mit großem vergnügen gelesen. sie kommt in meine sammlung und bekommt 10 punkte. ganz lieb grüßt
 
P

Parsifal

Gast
Hallo Leovinus,

eine rundum gelungene Sommergeschichte mit viel Wärme, Humor und verspielten Dialogen - danke! Die Stimmung erinnerte mich an eine Geschichte, die ich vor langer Zeit einmal gelesen habe: "Rheinsberg" von Tucholsky.

Nur einen ganz kleinen Schönheitsfehler hat Deine Geschichte:
„Ist er nicht süß, mein Grashalm?“ umarmte die Luise ihren Konrad.
"Ist er nicht süß?" kann man sagen, aber nicht umarmen. :)

Herzliche Grüße
Parsifal
 

Leovinus

Mitglied
Hallo Parsifal - diese Ähnlichkeit ist keineswegs Zufall. Wollte einfach mal schauen, ob ich das auch - natürlich nicht so gut wie Kurtchen persönlich - hinkriege. Außerdem wars ein Test, weil ich die Geschichte irgendwann im November oder Januar verfasst habe, ob ich diese Frühlingsstimmung hinkriege.

Zum Zweiten:

»...«, umarmte sie ihn.

ist, denke ich, durchaus erlaubt. Es soll ohne überflüssige Worte ausdrücken, dass beides im gleichen Atemzug geschieht.

Besten Dank auf jeden Fall für die Kritik!

Leovinus.
 



 
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