Ein Tag im Dezember

Masterofweil

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I Aussetzer

„Das ist gotteslästerlich! Diese Schweine handeln wider die Natur! Ich verlange, sofort irgendwo anders untergebracht zu werden!“

Die junge Frau an der Rezeption blickte auf, als der untersetzte Mann mit dem Babygesicht, der am Vortag bei ihr eingecheckt hatte, mit hochrotem Kopf wieder in den Empfangsraum gerannt kam und unflätig herumbrüllte. Er hielt direkt auf sie zu und schrie dann, wobei sein Gesicht die Farbe einer überreifen Tomate annahm: „Gotteslästerliche Drecksäue! Man sollte Pack wie dieses töten!“

Die Empfangsdame rief sich kurz in Erinnerung, was sie über den jungen Mann vor sich wusste. Es war nichts, was über die routinemäßig bei der Anmeldung erhobenen Daten hinausreichte: Er war am Vortag in New York angekommen und hatte sich hier, in der Niederlassung der YMCA in der 63. Straße, ein Zimmer genommen. Bei der Ankunft hatte er einen ruhigen, wenn auch etwas linkischen Eindruck gemacht. Sie hatte ihm ein Zimmer im zweiten Stock gegeben, ein Doppelzimmer, weil alle Räume mit lediglich einem Bett derzeit belegt waren. In dem Zimmer neben ihm lebten zwei junge Männer, die bereits einige Tage vor ihm hier angekommen waren.

Sie hatte bereits zu viel merkwürdiges Verhalten bei den Gästen gesehen, als dass der Wutanfall des Mannes vor ihr sie aus der Ruhe hätte bringen können. Höflich fragte sie: „Gibt es ein Problem?“

Der Mann blieb vor ihr stehen, schnappte nach Luft und fragte dann mit schriller Stimme: „Ob es ein Problem gibt? Na, und ob.“ Er deutete heftig erregt hinüber zum Treppenaufgang und stammelte dann: „Da oben…, da oben… da neben meinem Zimmer…“ Er rang sichtbar nach Luft, wobei ihm Speichel aus dem Mund trat. Die Frau konnte jetzt auch sehen, dass seine Stirn mit feinen Schweißperlen übersät war und er nach allen möglichen Körperausdünstungen stank. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück.
„Gotteslästerung!“, platzte es aus ihm heraus, dann ging sein Schreien in undeutliches Gemurmel über, aus dem sie nur einige Wortfetzen hervorhören konnte: „…verdorben, unrein und verdorben…“ Sie glaubte auch etwas zu hören, dass sich wie „Clawfield“ oder etwas in dieser Richtung anhörte. Da es aber für sie keinen Sinn ergab, vergaß sie das im selben Moment wieder. Jetzt galt es erst einmal, dieses Häufchen Elend hier zu besänftigen.
„Ganz ruhig“, meinte sie leise. „Sagen Sie mir einfach, wo das Problem liegt, dann werden wir versuchen, es gemeinsam zu lösen.“

Der kindlich wirkende junge Mann vor ihr atmete hörbar ein und aus und verdrehte dabei die Augen hinter seiner Brille so, dass nur noch das Weiße zu sehen war und sie schon fürchtete, er werde in Ohnmacht fallen. Dann meinte er mit leiser Stimme, die hysterisch schwankte: „Die da oben tun Dinge, die von Gott nicht gewollt sind.“ Er fing an, am ganzen Körper zu zittern, dann stieß er hervor, wobei er sie mit einem Schauer feiner Speicheltropfen eindeckte: „Diese verfluchten schwulen Säue!“

Nun verstand sie, worin der Grund für diesen Auftritt lag. Die religiöse und offene Ausrichtung der YMCA verbot es grundsätzlich, bei der Ankunft Fragen zum Privatleben von Gästen zu stellen. Jeder hatte hier Anspruch auf größtmögliche Diskretion, das war so und würde immer so bleiben.
Betont sanft, aber auch kühl fragte sie: „Und was soll ich nun Ihrer Meinung nach tun? Die privaten Vorlieben eines Menschen sind grundsätzlich dessen eigene Angelegenheit.“
Er verdrehte schon wieder die Augen, wobei er den Mund öffnete und schloss wie ein Fisch auf dem Trockenen. „Treiben Sie diese Säue aus der Stadt, hängen Sie sie auf. Ich werde jedenfalls keine Minute länger hier bleiben. In was für einer Welt leben wir eigentlich?“
Ohne auf seine hasserfüllten Tiraden auch nur im Geringsten einzugehen, griff sie nach dem Hotelverzeichnis unter der Theke und blätterte einige Zeit gedankenverloren darin. „Hm, ich könnte im Sheraton Centre Hotel fragen. Das Sheraton ist zwar gewöhnlich in den Wochen vor Weihnachten ausgebucht, aber ein Einzelzimmer wird sich sicherlich noch finden lassen.“

Sie klappte das Buch zu und musterte das Gesicht des Mannes, das sie am Tag darauf in den Abendnachrichten sehen sollte, noch einmal eingehend. „Wäre das für Sie ok?“
„Ja, natürlich“, meinte er, nun schon wieder etwas besänftigt. „Vielen Dank auch. Ich werde dann schon einmal meine Sachen zusammenpacken. Viel ist es ja nicht, was ich dabei habe.“ Er lächelte sie an, und beim Anblick des Ausdrucks in seinen Augen lief ihr zu guter Letzt doch noch ein kalter Schauer den Rücken hinunter. „Ich werde Sie in mein Nachtgebet einschließen, Schwester.“ Dann trottete er davon.

II Leute in der Wand

Der Mann, den bald die ganze Welt kennen sollte, war am Morgen des 6. Dezember ohne Rückflugticket von Hawaii gekommen, wo er als Pförtner arbeitete. Im Gepäck hatte er lediglich einige Kleidungsstücke und einen Revolver, den er sich zehn Tage vor seiner Abreise in Honolulu gekauft hatte. Kurz zuvor hatte er noch einmal kurz seinen Vater in Atlanta besucht, wo er aufgewachsen war.

Geboren war er in Fort Worth, Texas, am 10. Mai 1955. Er war ein einsames Einzelkind, dem die Helden der Fernsehsendungen und die Stars der Rockmusik echter und lebendiger erschienen als die Menschen in seiner Umgebung.

Als Zehnjähriger stellte er sich vor, sein Zimmer sei von kleinen Leuten bevölkert, die in den Wänden wohnten und deren König er war. Um ein guter Herrscher zu sein, hielt er regelmäßig Konzerte ab, auf denen er Schallplatten abspielte. Er war jeden Tag in der Zeitung und im Fernsehen dieser kleinen Leute zu sehen, und sie erwiesen ihm in seiner Phantasie jede nur mögliche Art der Ehrerbietung. Wenn er als König einmal schlecht gelaunt war, riss er Teile aus seiner Zimmerwand, wodurch viele der darin lebenden kleinen Leute getötet wurden. Aber sie verziehen ihm selbst das, denn in ihren Augen konnte er als ihr Idol nichts falsch machen.

Manchmal wachte er in der Nacht auf und hörte, wie seine Mutter nach ihm rief. Oft rannte er dann zu Tode erschrocken in das Wohnzimmer, wo sein Vater sie gerade schlug. Dann stieß er ihn oft weg und wollte dafür sorgen, dass er aufhörte. Später entwickelte er die Phantasie, sich einen Revolver zu besorgen und seinen Vater damit zu erschießen. Er beklagte sich darüber, dass sein Vater ihn niemals umarmte oder sagte, dass er ihn liebe. Bekannte zeichneten aber ein anderes Bild von der Familie. So gab der Vater Gitarrenunterricht und brachte auch seinem Sohn bei, dieses Instrument zu spielen. Selbst seine Frau wusste nur Gutes über ihren Mann zu berichten. Sicher, sagte sie, er schlage sie manchmal und zeige seine Emotionen nicht. „Aber mein Mann würde alles für unseren Sohn tun.“

Mit 14 Jahren begann er es seinen musikalischen Idolen gleich zu tun und Drogen zu nehmen. Einmal wurde er von der Polizei aufgegriffen, als er gerade LSD genommen hatte, woraufhin seine Mutter ihn einsperrte. Er riss seine Zimmertür aus den Angeln und floh nach Miami, wo er für zwei Wochen auf der Straße lebte, bevor ein Fremder ihm ein Busticket zurück in seine Heimatstadt kaufte.

Ein Wechsel kam erst zwei Jahre später über den rebellischen Jugendlichen, als ein kalifornischer Evangelist in der Stadt war. Der Wechsel war abrupt und vollkommen: Er schnitt sich die Haare, die er aus Bewunderung für seine Idole hatte wachsen lassen, und trat der YMCA bei, wo er ein Ferienlager leitete. Die Arbeit mit den Kindern schien ihn zu befriedigen, und er war bald bei allen von ihnen beliebt. Sie nannten ihn „Nemo“, nach dem Kapitän des Unterseebootes in Jules Vernes Roman „20 000 Meilen unter dem Meer“, und riefen ihn oft im Chor bei diesem Namen, wenn er da war. Später war er für die YMCA im Libanon tätig und erhielt die Chance, ein Camp für vietnamesische Flüchtlinge in den USA zu leiten. Für die vietnamesischen Kinder wurde er in kurzer Zeit ebenso zum Helden, wie er das zuvor bereits im Sommercamp gewesen war. Doch das Programm für die Wiedereingliederung der Flüchtlinge wurde bald aufgrund finanzieller Schwierigkeiten eingestellt. Bis zuletzt klammerte er sich allerdings an die Hoffnung, dass alle Mitarbeiter des Camps eines Tages wieder zusammen kämen. So sagte er am letzten Tag dort zu einem seiner Arbeitskollegen: „Eines Tages wird einer von uns wirklich jemand sein. Innerhalb von fünf Jahren wird einer von uns etwas machen, durch das er berühmt wird, und das wird uns alle wieder zusammenbringen.“

Als Jugendlicher lieh ihm ein Freund das Buch „Der Fänger im Roggen“ des amerikanischen Schriftstellers Jerome D. Salinger aus, das die Geschichte von Holden Caulfield erzählt, eines verwirrten und rebellischen jungen Mannes an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sofort hatte er sich mit der Hauptfigur des Romans identifizieren können. Er hatte sogar überlegt, seinen Namen entsprechend ändern zu lassen. Der größere Teil seiner Persönlichkeit war Holden Caulfield, der nie erwachsen werden wollte, der kleinere Teil war der Teufel, der ihn schließlich zu seiner Tat trieb. Immer mehr spaltete er sich auf in ein gutes und ein böses Selbst. Er litt immer mehr an der Verdorbenheit der Welt und hatte den Wunsch, „gut“ zu sein. Dieses Wort verband er mit Unschuld und Reinheit. Wie Caulfield glaubte er, diese Reinheit nur noch bei Kindern zu finden, die gesamte übrige Welt inklusive seiner selbst war bis ins Mark verdorben.

Drei Jahre vor seiner Reise nach New York war er zu seiner Mutter nach Honolulu gezogen, wo er für einige Zeit wie im Paradies lebte und alle Annehmlichkeiten Hawaiis genoss. Dann unternahm er einen Selbstmordversuch, nach dem er in eine Nervenheilanstalt eingewiesen wurde. Nach seiner Entlassung aus psychiatrischer Behandlung fand er einen Job bei einer Sicherheitsfirma und begann, sich für Waffen zu interessieren. In dieser Zeit fasste er auch den Entschluss zu der Tat, die ihm endlich inneren Frieden bringen würde. Er pflegte bei seiner Arbeit stets, ein Schild mit dem Namen des in seinen Augen gefallenen musikalischen Vorbilds über seinem eigenen zu tragen, und heiratete eine japanische Frau, die vier Jahre älter war als er selbst, weil sie ihn an die Frau seines Idols erinnerte. Da sie gut verdiente, beschloss er, nicht mehr zu arbeiten, und kündigte am 23. Oktober, wobei er mit dem Namen seines Idols unterschrieb.

Er unterhielt sich ein letztes Mal mit den kleinen Leuten in der Wand und erzählte ihnen, was er plante. Sie rieten ihm jedoch davon ab. „Denken Sie an sich, Herr Präsident, denken Sie an ihre Frau und Ihre Familie“, baten sie ihn, wie er später einem Psychiater erzählen sollte. Als er jedoch sagte, er sei innerlich dazu bereit und hoffe, durch die Tat herauszufinden, wer er selbst sei, schwiegen die kleinen Leute. Dann kamen sie aus ihrem Versteck in der Wand heraus und marschierten einer nach dem anderen, wobei der Innenminister des kleinen Volkes den Anfang machte, in seinen Kopf hinein.

III Der Fänger im Roggen

Am Morgen des 8. Dezember wachte er in seinem Zimmer im Sheraton Centre Hotel um etwa 10.30 Uhr auf. Er kleidete sich an, dann konstruierte er auf seinem Tisch ein kunstvolles Tableau, das die Polizei später finden sollte. Eine Kassette von Todd Rundgren, seinem neuen musikalischen Idol. Die Hotelbibel, wo er den Beginn des Buches „The Gospel of John“ mit Kugelschreiber um ein weiteres Wort erweiterte. Einen Brief, der über seine Verdienste in dem Camp für vietnamesische Flüchtlinge Auskunft gab und dem er zahlreiche Bilder beifügte, die ihn im Kreise der Kinder zeigten. Dann nahm er seinen Revolver des Kalibers 38 und die LP, die er sich signieren lassen wollte, an sich.

In der Stadt kaufte er ein Exemplar des „Fängers im Roggen“, da er sein eigenes auf Hawaii vergessen hatte, und schrieb die Worte „Dies ist meine Aussage. Holden Caulfield“ auf die erste Seite. Vor dem Dakota-Hochhaus, wo sein Idol gemeinsam mit zahlreichen anderen Showgrößen wohnte, unterhielt er sich eine Weile mit dem Pförtner und vertiefte sich dann so in das Buch, das er die Ankunft des Objekts seiner Begierde gar nicht bemerkte. Er wartete also weiter, Stunde um Stunde. Einmal kam der fünfjährige Sohn seines Idols gemeinsam mit seinem Kindermädchen aus dem Gebäude, und er schüttelte dem Jungen die Hand. „Er war der süßeste kleine Junge, den ich jemals gesehen habe“, gab er später zu Protokoll. „Es kam mir nicht in den Sinn, dass ich den Vater dieses armen kleinen Jungen töten sollte und er für den Rest seines Lebens keinen Vater mehr haben sollte. Ich meine, ich liebe Kinder. Ich bin der Fänger im Roggen.“

Als er sich später wieder mit dem Pförtner unterhielt, hörte er die Stimme seines großen Idols und drehte den Kopf, wo sein Opfer gerade gemeinsam mit seiner Frau und einigen Mitarbeitern aus dem Gebäude direkt auf ihn zukam. Er war sprachlos, als der Pförtner ihn mit seinem Idol bekannt machte und er nur wortlos die gekaufte LP hinhalten konnte, die sein Gegenüber ihm lächelnd signierte. „Ist das alles, was Sie wollen?“, fragte der Musiker freundlich. Er war so überrascht, dass er nichts antworten konnte und sein Gegenüber ihn noch einmal freundlich fragte, ob er noch etwas für ihn tun könne. „Danke“, brachte er schließlich nur hervor, und sein Idol ging hinüber zum Wagen, wo seine Frau bereits Platz genommen hatte. Zum Pförtner meinte er schließlich ekstatisch, wobei er die signierte Platte hochhielt: „Wartet nur, bis die Leute in Hawaii das sehen.“

„Ich war einfach überwältigt von seiner ehrlichen Art“, erzählte er später einem Gerichtspsychologen. „Ich hatte eine Abfuhr erwartet, aber es war genau das Gegenteil. Ich war im siebten Himmel. Ein kleiner Teil von mir fragte: Warum hast du ihn nicht erschossen? Und ich sagte: Ich kann ihn so nicht erschießen. Ich wollte das Autogramm haben.“

Er war, wie er später sagte, hin- und her gerissen zwischen dem Kind und dem Erwachsenen in sich. Das Kind gewann. Er blieb vor dem Dakota-Gebäude und betete zu Gott, dass er einfach seine Platte nehmen und nach Hause gehen könne, und gleichzeitig zum Teufel, dass er ihm die Chance gebe, seine Tat auszuführen. Um 22.50 Uhr fuhr die weiße Limousine vor. Zuerst stieg die Frau seines Idols aus, dann ihr Mann. Normalerweise fuhr der Wagen durch die Toreinfahrt des Dakota-Gebäudes in den Innenhof. An diesem Abend aber hielt das Auto am Bürgersteig, und seine Insassen liefen die wenigen Schritte zum Eingang.

Mark David Chapman rief: „Mr. John Lennon?” Der Angesprochene drehte sich um, kurzsichtig ins Dunkle des Torbogens blinzelnd. Chapman schoss fünfmal. Jeder einzelne Schuss wäre tödlich gewesen. Dann stellte er sich, ungeachtet des um ihn herum losbrechenden Tumults, unter eine Straßenlaterne, holte den „Fänger im Roggen“ heraus und begann darin zu lesen: „Jedenfalls stelle ich mir immer kleine Kinder vor, die in einem Roggenfeld ein Spiel machen. Tausende von Kindern und keiner wäre in der Nähe – kein Erwachsener, meine ich – außer mir. Und ich würde am Rand einer verrückten Klippe stehen. Ich müsste alle festhalten, die über die Klippe hinauslaufen wollen. Das wäre der Fänger im Roggen. Ich weiß schon, dass das verrückt ist, aber das ist das einzige, was ich wirklich gern wäre. Ich weiß natürlich, dass das verrückt ist.“
 



 
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