Ein Tag in meiner Kindheit

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Franziska

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Ein Tag in meiner Kindheit

Der Wecker schrillte laut und vernehmbar. Es war so einer, der an die gute alte Zeit erinnerte. Doch nur vom Design her – mit zwei Schellen links und rechts, die der Schlägel in der Mitte abwechselnd traktierte und einen Höllenlärm machte. Ich hatte ihn mir selbst rausgesucht, da ich ein Faible für alte Sachen habe. Außerdem werde ich morgens immer so schlecht wach, so dass mir dieser Krach gerade entgegenkam. Die Farbe: orange, wie es in den 70er-Jahren so üblich war.
Ich quälte mich aus dem Bett und war froh, dass ich meinen Traum noch nicht in die Tat umgesetzt hatte und mir den Weg zum Waschbecken mit Weckern gepflastert hatte, von denen einer nach dem andern im Abstand von 2 Minuten losging; oder war es eher ein Albtraum?
Während ich mir die Zähne putzte, hörte ich meine Katze vor der Haustür miauen. Da mein Zimmer sich direkt neben der Haustür befand, konnte ich sie gut hören. Micky kam jeden Morgen und wollte noch mit mir schmusen, bevor ich das Haus verließ. In den Ferien ging das ja. Aber während der Schulzeit? – Die Versuchung war groß, und oft erlag ich ihr auch, was ich hinterher aber immer umso bitterer büßen musste...
Nun, ich ließ sie rein. Sie strich um meine Füße und versuchte, mich zu verführen. Aber diesmal blieb ich stark. Zu viel Zeit hatte ich verträumt zwischen dem Klingeln des Weckers, bis ich es dann endlich aus dem Bett geschafft hatte. Ich sah Mickys Augen, die mich anbettelten. Sie waren noch ganz groß, grün und leuchtend von der Nacht. – Ob sie wohl gute Beute gemacht hatte? Ich wünschte es ihr.

Der Weg zur Schule gestaltete sich wie immer mühsam. Es war ein grauer, verregneter Morgen. Ich musste vorbei am Kindergarten und dem Haus unseres Rektors, was mich immer in eine besonders missmutige Stimmung versetzte, seit ich ihn in Mathe hatte. Eigentlich war ich ja froh, dass ich es vom B-Kurs in den A-Kurs geschafft hatte, denn das wurde ja im Zeugnis vermerkt. Und da im A-Kurs die besseren Schüler waren, war ich schon stolz auf meinen Erfolg. Doch der Rektor war ein strenger Mann, und man wusste nie richtig, woran man bei ihm war.
Heute hatte ich ihn wieder. 3. Stunde. Von der letzten Mathe-Stunde hatte ich wenig mitbekommen. Er hatte alles so kompliziert erklärt. Und da Mathematik mir sowieso nicht lag, hatte ich abgeschaltet. Hoffentlich würde es heute besser werden...

In der Schule angekommen, wurde ich erst einmal begutachtet. Ich hatte meine neuen Jeans angezogen, die meine Mutter das erste Mal gewaschen hatte. Die waren so steif gewesen, als wir sie in die Waschmaschine geräumt hatten, dass es schon fast eine Kunst war, sie zusammenzudrücken. Ich hatte mich gefragt, ob das bei Jeans immer so ist. Schließlich waren es meine ersten Jeans, und ich hatte keinerlei Erfahrung mit dem Waschen solcher Art von Hosen... Aber schließlich hatten meine Schulkameraden ja auch alle Jeans. Da musste es ja irgendwie gehen. – Doch die Hose war nach der Wäsche voller Streifen an den Stellen, wo der Stoff geknickt worden war.
Und jetzt fragten alle, was das denn wäre und wie ich das denn hinbekommen hätte! War das schlimm? Sah das irgendwie komisch aus? – Wohl schon, sonst würden sie nicht alle fragen... Ich versuchte mich zu drehen und zu winden, doch sie ließen nicht locker. Und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich hatte doch gar nichts Besonderes gemacht! – Zum Glück kündigte die Schulglocke den Unterrichtsbeginn an.

Die beiden ersten Stunden vergingen ganz ordentlich. Deutsch und Englisch; das konnte ich. Jetzt kam Mathe. Der ganze A-Kurs war außer Rand und Band. Viele wollten den Lehrer endlich fertig machen, der uns so striezte. – Als er ins Klassenzimmer trat, flogen Papierkügelchen durch die Luft, und die Stimmung war aufgeheizt. Seine Miene erstarrte und seine Stimme hatte einen eisigen Ton: „Bitte alle auf die Plätze, die Bücher in die Taschen!“ Erlaubt war lediglich ein Stift und ein weißes Blatt Papier auf dem Tisch: Kurztest!
Die Stimmung, die gerade so aufgeheizt war, sank auf Null. Der Rektor diktierte: „Der Satz des Pythagoras“. Wir warteten darauf, dass er fortfuhr. Doch es kam nichts! Er machte uns begreiflich, dass dies die Frage war, um die es in diesem Kurztest ginge. Wir sollten den Satz des Pythagoras aufschreiben. Das war alles! Sonst nichts!
Es war totenstill im Raum. Ich saß stumm und bedrückt vor meinem Blatt Papier, keine Ahnung habend, was ich denn schreiben sollte außer dieser Überschrift, die mir absolut nichts sagte. Doch, ich konnte mich erinnern, dass er irgendetwas erzählt hatte von diesem Satz des Pythagoras. Aber was es damit auf sich hatte, und wie er hieß? – Fehlanzeige! – Ich beobachtete meine Kommilitonen. Jeder starrte auf sein Blatt, das vor ihm lag.
Nach 5 Minuten war der Spuk vorüber: die Blätter sollten abgegeben werden. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass der ganze Kurztest aus dieser einzigen Frage bestehen sollte. Doch der Unterricht nahm nun seinen gewohnten Gang. Diesmal passte ich auf. Ein solches Erlebnis wollte ich nicht noch einmal haben. Für das nächste Mal wollte ich gewappnet sein. Ich schrieb soviel mit, wie ich nur konnte. Am Nachmittag wollte ich mir Zeit nehmen, über all das noch einmal gründlich nachzudenken. Es war mir klar, dass das eine Sechs war, was ich da gerade fabriziert hatte. - Ob es die anderen gewusst hatten, was gefragt war?
Die nachfolgenden Stunden gingen an mir vorbei, ohne dass ich noch viel mitbekommen hätte. Wir hatten noch Religion und Zeichnen, was auch nicht besonders viel Konzentration verlangte.

Der Nachmittag verging wie im Flug. Nach dem Essen sollte ich noch helfen, das Geschirr abzutrocknen. Und da ich diese Arbeit aus tiefstem Herzen hasste, dauerte sie auch immer besonders lange. Oft nutzte ich die Gelegenheit, die Toilette aufzusuchen in der Hoffnung, dass meine Mutter, bis ich zurückkam, so viel gespült hatte, dass auf der Spüle kein Platz mehr war und selber wenigstens einen Teil abgetrocknet hätte. Leider ging diese Rechnung selten auf...
Nach dem Spülen versuchte ich, so schnell wie möglich, die Hausaufgaben hinter mich zu bringen, denn um halb 4 hatte sich meine Freundin Ute angemeldet, die mit mir in der gleichen Klasse war. Für Mathe reichte die Zeit nicht mehr. Zumindest für den Satz des Pythagoras. Und außerdem hatten wir sowieso Hausaufgaben aufbekommen in Mathe. Das musste reichen. Der Pythagoras war ja sowieso vorbei. Und den Rest vertiefen – vielleicht konnte mir mein Vater am Abend helfen?
Ute war, wie ich, eine Außenseiterin in unserer Klasse. Nicht besonders begabt, genau wie ich. Außerdem hatte sie auch 5 Geschwister, nur dass sie die Jüngste, ich dagegen die Älteste war. – Wir spielten ein bisschen mit Micky und hatten uns viel zu erzählen. Die Zeit mit ihr verging rasant. Oft beobachteten wir auch ihren Vater, der in der Kistenfabrik arbeitete, die sich hinter unserem Haus befand. Manchmal war er im Freien zu sehen, so auch heute.

Beim Abendessen gab es Krach, weil einer meiner jüngeren Brüder mal wieder etwas ausgefressen hatte. Ich war froh, dass ich nicht beteiligt war, denn mein Vater konnte sehr unangenehm werden. So verzog ich mich sofort nach dem Abendessen mit einem Buch in mein Zimmer. Für heute konnte ich von meinem Vater wohl keine Nachhilfestunden mehr erwarten.
 
Hallo Franziska!

Sicherlich sind es nicht die "großen Dinge", die Du in Deiner Skizze beschreibst - man erfährt nicht, warum der Mensch sterben muss, ob Gott gut ist oder ob es ein Ding-An-Sich gibt. Aber den Alltag - in Deinem Fall: den Schüleralltag - beschreibst Du mit einer bemerkenswerten stoischen Ruhe. Das erfordert sicherlich Geduld, die viele Leser nicht haben (wollen), mindert allerdings nicht die Qualität Deiner Beobachtungen.
Ich habe es jedenfalls gerne gelesen und mich an meine Schulzeit zurückerinnert.

Gute Nacht,
Alexander
 



 
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