Ein Teil von mir

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„Manchmal sitze ich einfach nur hier am Fenster und schaue hinauf in die Nacht“, sagte Joshua leise, beinahe flüsternd, so als ob er befürchtete ein lautes Wort würde die Dunkelheit vertreiben. Mit erhobenem Kopf stand er regungslos da. Die letzten Schweißspuren auf seiner Haut waren beinahe verschwunden. Sein Atem war tief und gleichmäßig.
Sarah schwieg.
„Manchmal kommt es mir dann vor als würden Stunden vergehen“, fügte er noch leiser hinzu und schloß sich Sarahs Schweigen an. Nach einer Weile preßte sie ihren nackten Körper von hinten an ihn. Er spürte ihre Wärme, ihren Atem an seinem rechten Ohr; spürte, wie ihre kurzen Schamhaare seine Pobacken berührten. Seine Arme stützen sich weiterhin auf das schmale Fensterbrett, während seine Nase nur Millimeter vom kalten Glas der Scheibe entfernt war.
Draußen war die Nacht fünf Stunden alt. Das schmale Band des zunehmenden Mondes lag verborgen unter Wolkenmassen, nur hin und wieder gelang es den Sternen ihr flackerndes Licht über die Dunkelheit zu vergießen.
Sarah legte ihre Arme um Joshuas Brustkorb, drückte ihn noch fester an sich. Sie ahnte die Faszination, die von Joshua Besitz ergriff sobald das letzte Licht des Tages hinter dem Horizont verschwand. Sie erkannte mehr und mehr den schmalen Pfad auf dem er sich bewegte wenn der Tag endlich zur Nacht wurde. Sie wußte um die Gefahr, in der sich Joshua freiwillig befand. Und doch gab es vieles, daß sie nicht einmal ansatzweise verstand. Zu viele Geheimnisse umgaben ihn. Zu viele Schichten, die es zu durchdringen gab. Zu viele Hoffnungen, die zu Ängsten wurden und zu wenige Ängste, die sich in Luft auflösten.
Joshua, dachte sie, ihre Umklammerung nicht lösend, was brütet nur in dir? Welche Bilder sieht du, die mir verschlossen bleiben?
Wie so oft zuvor stieg auch dieses Mal erneut Angst in ihr auf – Angst davor, ihn für immer an die Finsternis jenseits des Fensters zu verlieren.
Siehst du wieder Farben, wo keine Farben sein können?, fragte sie Joshua in Gedanken. Hörst du wieder diese Stimme von jemandem, der nicht in der Nähe ist?
Immerzu schien es Sarah als würde sie die gleiche Tortur durchlaufen. Sie suchte die Antworten auf Bilder, Farben und Stimmen, auf Empfindungen, Träume, Geräusche und Gerüche, allesamt entsprungen aus der Sonnenlosigkeit, wilden Tieren gleich, die Furcht verbreiten. Doch Joshua – davon war Sarah überzeugt – fürchtete sie nicht, im Gegenteil – mit jedem Tag, der seine goldenen Banner einrollte und hinter dem Horizont verschwand, wurde es offensichtlicher - Joshua selbst wurde eine dieser Kreaturen.

Stille.
„Warum liebst du mich?“, fragte Joshua plötzlich, seine Stimme nicht lauter als zuvor. Ihre Körper, ohne Schatten, verharrten bewegungslos am Fenster. Sarah löste ihre Umarmung. Sie brauchte nicht lange zu überlegen, um seine Frage zu beantworten. Viele Fragen, die ihn betrafen, blieben bislang ohne Antwort, doch diese eine gehörte schon lange nicht mehr dazu.
„Weil ich Angst um dich habe“, flüsterte sie und schloß ihn wieder in ihre Arme – vielleicht fester, als sie es jemals zuvor getan hatte.

Stille.
Irgendwann hatte sie ihn losgelassen. Inzwischen war der Mond hinter den Wolken hervorgekommen. Joshua hatte sich umgedreht und sie angesehen. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.
„Komm“, sagte sie. „Laß uns wieder ins Bett gehen. Ich will dich nochmal spüren.“
Joshua beugte sich vor und gab ihr einen Kuß auf die Stirn. Er drehte sich noch einmal um zum Fenster, hauchte mehrmals gegen das kalte Glas. Auf die handtellergroße Fläche, die sein Atem milchig ausgefüllt hatte, malte er ein Auge. Sarah beobachtete ihn neugierig und obwohl Joshua noch nie zuvor etwas derartiges getan hatte, wußte sie was es zu bedeuten hatte. Für sie war es ein weiteres Puzzlestück, das sie erhielt um vielleicht eines Tages den ganzen Menschen Joshua in all seinem Facettenreichtum zu verstehen. Das Auge blickte hinaus in die Nacht, doch gleichzeitig schaute es auch hinein in den kleinen Raum, in dem die beiden standen. Für Sarah war es ein kleiner Akt von Magie – wie so viele Dinge, die Joshua im Laufe ihres Zusammenseins vollführt hatte. Es war als ob er sich ein weiteres Auge geschaffen hatte, das nun stellvertretend für ihn den Himmel beobachte, während Joshua selbst seine Aufmerksamkeit etwas anderem zuwenden konnte. Er drehte sich wieder zu ihr um.
„Ich liebe dich“, sagte er und küßte sie diesmal auf den Mund, während seine rechte Hand begann sie zwischen den Beinen zu streicheln. Schließlich kniete er sich vor sie und seine Zunge löste seine Hand ab. Sarah stöhnte leise – doch bevor sich ihre Lider schlossen, warf sie noch einen letzten Blick auf das Auge am Fenster und ein weiteres Puzzlestück rückte an die richtige Stelle, denn sie verstand, daß nicht nur Joshua durch dieses Auge sehen konnte, sondern daß auch sie selbst dazu in der Lage war. Joshuas Magie diente nicht nur ihm, sie diente gleichermaßen ihr selbst. Mit diesem Wissen schloß sie ihre Augen – und sie sah.

Licht.
Sie sah den hellen, fahlen Schein des Mondes auf dem Teppich, auf dem sie beide nun lagen. Bis zum Bett hatten sie beide nicht mehr gehen wollen, obwohl es nur wenige Schritte entfernt geduldig auf sie wartete. Sie sah Joshua, seinen Kopf zwischen ihren gespreizten Beinen. Sie sah sich selbst auf dem Rücken liegend, ihren Mund geöffnet, ihre Augen geschlossen, ihre Hände in seinem Haar.
Sie sah Wolken vorüberziehen und die Sterne blinzeln. Sie sah Tiere auf nächtlichem Beutezug und im Dickicht verschwinden. Sie sah die einsame Hütte in der sie beide sich befanden und die kleine Rauchfahne, die aus dem Schornstein kam, produziert vom Ofen in ihrem Zimmer. Sie sah den Wind die Äste von Bäumen biegen und winzige Lampen in der Ferne. Sie sah all dies mit einer Klarheit, die ihr fast den Atem nahm und als Joshuas Zunge sie zum Orgasmus brachte und er mit dem Finger, mit dem er zuvor das Auge gemalt hatte, tief in sie eindrang, war sie für Sekunden in der Tat atemlos – zu überwältigend war die Mixtur aus Sehen und Spüren. Es war ein dermaßen überwältigendes Gefühl, daß sie vor Glück, anstelle von Joshua, den gesamten Erdball hätte umarmen können – und den Mond gleich dazu.
 



 
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