Ein Weihnachtsmärchen

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Seit vielen Generationen erzählt die Sage, dass am Heiligabend um 24 Uhr den Tieren die Gabe gegeben wird, mit uns Menschen zu reden. Eine Geschichte, die gerne den Kindern erzählt wird – in stürmischer Winternacht, wenn der Schnee vom Himmel fällt und der Wind durch die Wipfel der hohen Bäume streicht. In diesem Moment ist Stille im Haus – der Weihnachtsbaum erstrahlt in seinem Glanz und die Augen der Kinder leuchten, wenn sie die verpackten Geschenke an seinem Fuße sehen. Und doch lauschen sie hingebungsvoll einer Geschichte, die weitergetragen wurde aus längst vergangener Zeit. Auch mir wurde diese Sage von meinem Opa erzählt.
Wir lebten damals auf einem kleinen Bauernhof. Umgeben von viel Natur und unzähligen Tieren. Wie gebannt hing ich an den Lippen des alten Mannes, der mir von den Wünschen und Träumen der Tiere erzählte, die sie nur in dieser einen Nacht preisgeben konnten. An meiner Seite lag mein treuer Hund, ein junger Collie. Seine Augen leuchteten bei den Worten des Großvaters, während er mich ständig zu beobachten schien.
Sehr schnell wurde an diesem Tag aus dem Heiligen Abend eine heilige Nacht. Und je weiter der Stundezeiger der Uhr voranrückte, desto unruhiger wurde ich. Schon längst hatte mich die Mutter ins Bett gesteckt, doch ich konnte nicht schlafen. Wenige Minuten vor vierundzwanzig Uhr schlich ich aus dem Haus und rannte zum Stall hinüber. Dort, in der geborgenen Wärme zwischen meinen vierbeinigen Freunden hoffte ich auf das Wunder der Heiligen Nacht. Von Ferne schlug die Kirchturmuhr. Zwölf Mal. Gebannt hielt ich den Atem an. Ungeduldig warte ich darauf, dass die Tiere anfingen, mit mir zu reden. Ich wusste, die Zeit war nur kurz. Gerade zehn Minuten sollte der Zauber anhalten. Zögernd stand ich auf und ging zu der Box von der alten Stute Lottchen. Ihre dunklen Augen ruhten auf mir, während sie gelangweilt an ihrem Heu kaute.
„Hallo, Chrissy!“ hörte ich in diesem Moment ihre sanfte Stimme. „Bitte, könntest du mir jeden Tag eine Möhre bringen? Ich liebe Möhren! Und bitte: Lass deinen Vater den Pflug vor dem Frühjahr schärfen. Dann geht er leichter durch den Acker und ich brauche mich nicht so zu quälen.“ Ich spürte wie mir die Tränen in die Augen traten, während ich langsam nickte. Gleich von nebenan schob sich der Kopf von Sunny, der dünnen Kuh, über die Wand ihres Stalles.
„Du bist mutig, kleines Mädchen, dass du um diese Zeit in den Stall kommst! Doch höre auch meine Bitte! Gib mir Weizen und Kleie. Dann habe ich die Kraft, euch noch mehr Milch zu geben.“
„Auch ich habe einen Wunsch an dich, Chrissy,“ vernahm ich in diesem Moment eine krächzende Stimme. Vor mir stand der alte Hahn. Sein Kopf ruckte auf und nieder, während er mich von oben bis unten musterte.
„Sprich, mein Freund,“ bat ich ihn leise, während ich mich niederkniete und ihm freundlich über den Kopf strich.
„Lass meinen Frauen ein paar ihrer Eier. Es quält sie, wenn sie ihnen immer wieder fortgenommen werden. Sie möchten sie ausbrüten und ihre Babys sehen. Doch ihr Menschen nehmt ihnen diese Chance.“
Langsam – nachdenklich stand ich auf. Die Bitten der Tiere hallten in meinem Kopf wider. Immer hatte ich das Gefühl gehabt, dass es ihnen gut ging, es ihnen an nichts fehlte. Und nun diese unzähligen Bitten und ihr Hoffen darauf, dass ich etwas ändern konnte. Nachdenklich saß ich auf einem Strohbund, als Danny, mein kleiner Collie zu mir kam.
„Sag, mein Freund – bist auch du unzufrieden? Haben wir auch bei dir etwas falsch gemacht?“ wollte ich leise wissen. Seine Augen leuchteten, während er mir sanft mit der Zunge über das Ohr leckte.
„Nein, mein geliebter Mensch! Du bist bei mir, fast jede Stunde am Tag. Du gibst mir mein Fressen, streichelst mich und spielst mit mir. Mein Herz – mein Leben dies alles gehört dir, solange ich nur bei dir sein darf.“ Dankbar sah ich Danny an. Ich fühlte, dass viele Augen mich beobachteten und sah langsam in die Runde. Und ich spürte, dass sie alle auf meine Antwort warteten. Und so sagte ich langsam: „Ihr sollt bekommen, was euch fehlt! Ihr seit alle meine Freunde!“
In diesem Moment sprang Purzel, die alte graue Katze vor meine Füße. Ihre grünen Augen blickten mich durchdringend an, während sie leise sprach: „Auch ich habe noch eine Bitte an dich, kleines Menschenkind! Sei gut und ehrlich zu jedem Lebewesen, fair und gerecht. In diesem Moment wirst du nicht mehr auf die vierundzwanzigste Stunde in der Heiligen Nacht warten müssen, um mit uns zu reden!“ Wie ein Schatten verschwand die alte Katze zwischen den Strohbunden.
Ich verstand damals ihre Worte nicht. Und es mussten viele Jahre vergehen, bis ich begriff, was Purzel damals meinte.
Auch heute noch, fast vierzig Jahre später, sehe ich den glitzernden Schnee in dieser Winternacht, spüre die Kälte des eisigen Windes und erblicke die leuchtenden Kerzen an dem Weihnachtsbaum vor dem alten Stall. Meine Versprechen von damals habe ich gehalten. Und die Bitte der alten Katze? Ich hielt mich an ihre Worte und fand in meinem Leben viele vierbeinige Freunde. Ich lernte ihre Körpersprache und begriff die unzähligen Laute, mit denen sie sich mit mir verständigten. Ein Schwanzwedeln, ein fröhliches Bellen, ein tiefes, glückliches Schnauben bei einem morgendlichen Ausritt. Dunkle, treue Augen, die auf mir ruhten und mehr sagten, als Worte jemals ausdrücken können.
Nur ein Weihnachtsmärchen? Nur eine Sage? Habt den Mut und geht in der Weihnachtsnacht zu euren vierbeinigen Freunden! Punkt 24 Uhr! Vielleicht sprechen sie auch mit Euch! Wenn ihr ehrlichen Herzens seit und Verständnis habt für jedes Lebewesen werden sie euch ihr Herz öffnen! Für zehn Minuten in der Heiligen Nacht!
Eine fröhliche Weihnacht für euch alle!
Eure
Imke Christiansen
 



 
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