Ein Zeichen Gottes

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Seize

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„Ich werde einen Aderlass bei Eurem Weib durchführen“, sagte der Medikus Johann Sebastian Adler zu Joachim Hammerer, dem örtlichen Schmied.
„Die üblen Miasmen haben ihre Körpersäfte aus dem Gleichgewicht gebracht und nur indem wir das überschüssige Blut ausleiten, kann sie wieder genesen. Bitte öffnet solange die Fenster auf der Nordseite, um gesunde Luft hereinzulassen.“
Der Schmied blickte den Medikus zwar zweifelnd an, tat dann aber wie ihm geheißen. Johann beugte sich über seine Patientin, immer bemüht sie nicht einmal mit seinen behandschuhten Händen zu berühren und ihr auch nicht in die Augen zu sehen. Er schnitt mit seinem Skalpell in die Vene des linken Arms und fing das hervorquellende Blut in einer kleinen Schüssel auf. Die Frau stöhnte und von ihrem fahlen Gesicht rannen Schweißtropfen, als sie den Kopf drehte. Der Medikus ließ sich nicht beirren, hatte er doch zu seiner Studienzeit bereits gelernt, dass der Aderlass das einzig wirksame Mittel gegen alle Krankheiten war. Als die Schüssel kurz vor dem Überlaufen war, hatte die Frau aufgehört zu stöhnen und wurde ruhiger.
Ein sicheres Zeichen dafür, dass es ihr bereits besser geht.
Er verschloss die Wunde und legte ein sauberes Leinentuch um ihre Armbeuge. Mittlerweile war auch der Schmied zurückgekehrt und beobachtete die Szene mit zunehmend besorgtem Mienenspiel.
„Macht euch keine Sorgen, Meister Hammerer. Die Behandlung ist abgeschlossen. Lasst sie nun ruhen und vermeidet sowohl Berührungen als auch Blickkontakt mit Eurem Weib. Das kann zur Ansteckung führen. Ich werde morgen wieder nach ihr sehen.“
Johann wollte gerade seine Gerätschaften packen und das Haus verlassen, als er hinter sich die Stimme des Schmieds hörte: „Ich glaube, sie atmet nicht mehr.“
„Wie bitte?“
Der Arzt fuhr herum und eilte zurück an das Bett der Kranken. Zwar trug er zum Schutz eine Pestmaske, aber dem ansteckenden Atem wollte er trotzdem nicht zu nahe kommen. Er prüfte daher nur, ob sich der Brustkorb hob und senkte, konnte aber keine Atmung feststellen. Mitfühlend drehte er sich zu Meister Hammerer um und schüttelte langsam den Kopf. Schon wieder hatte er jemanden an die große Pestilenz verloren. Wie bei jedem Toten schnürte es ihm vor Verzweiflung die Kehle zu. Gerade wollte er dem Witwer sein Beileid aussprechen, als dieser mit hochrotem Kopf über ihn herfiel.
„Du Schwein! Du hast sie umgebracht!“
Die schwieligen Pranken packten Johann an den Schultern und schüttelten ihn kräftig durch.
„Es ging ihr nicht schlecht, sie war nur ein wenig geschwächt. Dann hast du sie ausbluten lassen wie ein Stück Vieh!“
Speicheltropfen prasselten auf Johann nieder und trotz des überraschenden Angriffs konnte er nur an die Ansteckungsgefahr denken. Er brach in Panik aus und wand sich im Klammergriff des Schmieds. Seine Angst steigerte sich noch, als er feststellte, dass er sich aus eigener Kraft nicht befreien konnte. Er warf sich mit seinem ganzen Gewicht hin und her, trat nach den Beinen seines Kontrahenten und befreite sich, als sich dessen Griff mit einem Schmerzensschrei lockerte. Er griff nach seiner Tasche und floh vor dem rasenden Schmied auf die Straße. Der folgte ihm noch bis zur Tür und schrie ihm hinterher: „Ja, scher dich zum Teufel, du gottverdammter Pfuscher! Gott und die Heiligen werden über deine Schandtaten richten!“
Auf der Straße waren nicht viele Menschen unterwegs, aber die wenigen blieben stehen und wanden den Kopf, um zu sehen, was sich vor der Schmiede für ein Tumult abspielte. Der Schmied brüllte mit erhobener Faust, während der Medikus auf die Straße stolperte. Die Umstehenden erkannten die Situation sofort und auch sie packte die Wut. Sie stießen Johann und rempelten ihn an.
„Mörder!“, hörte er aus dem Stimmengewirr heraus, genauso wie: „Verfluchter Schnabeldoktor!“
„Du machst alles nur noch schlimmer! Die Kranken überleben eher, wenn du sie nicht behandelst!“
Johann konnte durch die Maske nicht alle Leute wahrnehmen. Durch das schwere Leder hörte er auch nicht alle Geräusche, Stimmen und hasserfüllten Worte. Er wurde mit einem Tritt zu Boden gestoßen, fing sich aber mit den Armen ab und richtete sich wieder auf. Schläge prasselten auf ihn nieder und beinahe wäre er wieder gefallen, konnte sich aber durch einen großen Seitenschritt auf den Beinen halten. Dann endlich sah er eine Lücke in der Menge und eine Gasse, in der er seinen aufgebrachten Peinigern entkommen konnte. Er kämpfte sich mit den Ellenbogen voran, stieß in seiner Panik sogar eine ältere Frau zu Boden und stürzte in das schmale Gässchen. Durch seine Maske, die mit einem Essigschwamm in der Schnabelspitze versehen war, bekam er kaum Luft. Die Schärfe des Essigs brannte binnen kürzester Zeit in seiner Lunge. Trotzdem lief er weiter bis seine Beine ihn fast nicht mehr trugen. Er bog um viele Ecken und wechselte immer wieder die Gassen. Er lief, bis er sich erschöpft an einer Hausmauer abstützen musste. Er riss sich die Maske vom Kopf und sog gierig Luft in seine gequälte Lunge. Eingeschüchtert wanderte sein Blick nach allen Seiten. Erst als er sicher war, dass er alle Verfolger abgehängt hatte, beruhigte er sich wieder. Langsam normalisierte sich seine Atmung und jetzt stieg ihm wieder der üble Gestank nach faulen Eiern und nassem Leder in die Nase.
Der Geruch der Pestilenz ist überall in der Stadt, stellte er entsetzt fest.
Als er sich auf den Weg zum zentralen Marktplatz machte, kam er ins Grübeln über die Zustände in Pfaffelstein. Seit sie den ersten Toten beklagen mussten, war erst ein Monat vergangen und die Pest hatte sich rasend schnell durch die Stadt gefressen. Er schätzte, dass mittlerweile die Hälfte der Stadtbevölkerung krank oder gestorben war. Von der Heftigkeit der Seuche überrascht, floh jeder, der es sich leisten konnte, kopflos aufs Land. Die Patrizier und Ratsherren waren die ersten, die ihre Karren gepackt und die Stadt hinter sich gelassen hatten. Sie waren gegangen und hatten die Stadt sich selbst überlassen. Bereits kurz darauf hatte die öffentliche Ordnung an der Führungslosigkeit empfindlich gelitten und die Leute kümmerten sich nur noch um sich selbst. Jeder hatte Angst, das nächste Opfer der Krankheit zu werden. Die Stimmung wurde mit jedem Tag unberechenbarer. Am einen Tag prügelten sich die Leute wegen Nichtigkeiten, am nächsten Tag soffen und feierten sie in Eintracht als wäre es ihr letzter Tag auf Erden. Andere hörten auf zu arbeiten und überließen Land und Vieh ihrem Schicksal. Essen und Trinken raubten sie lieber aus den leer stehenden Patrizierhäusern. Auch Johann fürchtete um sein Hab und Gut, wenn Plünderer in der Nacht über den Marktplatz zogen. Aber noch nie hatte er so viel Angst empfunden wie gerade eben.
„Ein tätlicher Angriff auf den letzten Medikus in der Stadt. Das ist doch unvorstellbar. Ich bin ein angesehener Bürger. Ein in Paris ausgebildeter Medikus, kein dahergelaufener Bauer. Die Leute sollten froh sein, dass ich sie überhaupt behandle. Es wäre ein Leichtes einfach meine Sachen zu packen und ebenfalls die Stadt zu verlassen. Aber ich bin ein Mann von Ehre und zum Heilen berufen.“
Er war in seinem Selbstgespräch immer lauter geworden und schrie den letzten Satz förmlich: „Was tätet ihr denn ohne mich?!“
Eigentlich sollte er heute noch mehr Krankenbesuche machen, nach diesem Erlebnis aber drängte es ihn nach Hause. Er war verstört und sehnte sich nach der tröstenden Umarmung seiner Frau. So fanden seine Füße den Heimweg wie von selbst.
„Ich bin zuhause!“, rief er, während er die Tür hinter sich sorgfältig schloss. Er legte seufzend den schweren Ledermantel ab und verstaute seine Tasche zusammen mit der Pestmaske in seinem Behandlungszimmer.
„Anna, bist du da?“, rief er noch einmal, nachdem er keine Reaktion erhalten hatte. Er machte sich auf den Weg in den Wohnbereich im Obergeschoss und wunderte sich darüber, dass sie nicht antwortete. Seit die Pest ausgebrochen war, verließ seine Frau kaum noch das Haus. Genauso wie Johann hatte auch sie große Angst sich anzustecken. Sie machte nur noch die wichtigsten Besorgungen, bevor sie sich wieder in den Schutz des Hauses zurückzog.
„Anna?“
Er betrat das Schlafzimmer und musste entsetzt feststellen, dass seine Frau schlafend im Bett lag.
„Anna, bist du denn des Wahnsinns? Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht am Tag schlafen darfst. Am Tag zu schlafen fördert die Ausbreitung und erhöht das Risiko sich anzustecken!“
Er rüttelte seine Frau an der Schulter, um sie aufzuwecken und bemerkte, dass ihr Körper vor Hitze glühte. Schrecken durchzog ihn wie ein Blitz. Er zuckte unwillkürlich zusammen und wich zurück. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Überstürzt eilte er hinab in sein Behandlungszimmer. Er warf sich den Mantel über, zog die Handschuhe an und setzte die Maske wieder auf. Erst danach wagte er sich wieder ins Schlafzimmer. Er betastete ihre Stirn. Zwar konnte er durch das Leder ihre Hitze nicht spüren, doch als er die Handfläche drehte, konnte er an den dunklen Flecken deutlich erkennen, wie stark sie schwitzte. Er versuchte erneut sie sanft zu wecken und langsam öffnete sie ihre Augen und sah ihn müde an.
„Hallo Schatz“, sagte sie leise und schwach.
„Ich habe mich hingelegt, weil ich mich unwohl gefühlt habe. Ich hatte schon beim Aufstehen Kopfschmerzen. Ich glaube, ich bekomme eine Influenza.“
Johann schluckte schwer. Er wusste, dass die Pest in den ersten Stunden einer Influenza stark ähnelte.
„Ja, bestimmt ist es das. Ich bringe dir Wasser und mache dir Wadenwickel und dann ruhst du dich weiter aus. Morgen geht es dir bestimmt wieder besser.“
Als er das Wasser ins Schlafzimmer trug, verschüttete er die Hälfte, so sehr zitterten seine Hände. Nur mit höchster Konzentration schaffte er es, die feuchten Tücher um ihre Beine zu wickeln. Danach schlich er sich aus dem Raum. Anna schlief schon wieder tief und fest. Er ging zurück in sein Behandlungszimmer und ließ sich wie ein Sack auf einen Stuhl fallen. Er riss sich die Maske vom Kopf, vergrub das Gesicht in den Händen und fing hemmungslos an zu weinen.

„Ein neuer Arzt ist in der Stadt!“
Johann war noch im Halbschlaf, als er eine aufgeregte Jungenstimme durch das Fenster hörte.
„Kommt alle zum Marktplatz, dort hat er seinen Wagen abgestellt!“, schrie eine weitere Stimme und er sah mehrere Schatten vorbeieilen. Zu schnell sprang er auf und spürte sofort, dass er die ganze Nacht verkrümmt auf seinem Stuhl geschlafen hatte. Deutlich langsamer humpelte er zum Schlafzimmer seiner Frau hinauf. Sie schwitzte immer noch stark und wirkte sehr schwach. Er kontrollierte ihren Leib, konnte aber immer noch keine Beulen feststellen. Er erlaubte sich einen kurzen Moment der Hoffnung. Vielleicht war sie doch nur an der Influenza erkrankt. Er wischte ihr das Gesicht mit einem feuchten Tuch ab und erneuerte die Wadenwickel. Da sie während der Behandlung nicht aufwachte, stahl er sich leise aus dem Haus und begab sich aufgeregt auf den Marktplatz. Auch er wollte sehen ob die Gerüchte stimmten.
„Verstärkung kann ich mehr als gut gebrauchen“, murmelte er.
Kaum war die Pest ausgebrochen, waren es vor allem die Ärzte, die einer nach dem anderen gestorben waren und seit zwei Wochen war er der letzte Medikus in der Stadt. Niemand mehr um sich auszutauschen, niemanden der ihn unterstützte und mit ihm gegen den Tod kämpfte.
Schmerzlich fiel ihm der Vorfall vom Vortag wieder ein und es lief ihm kalt den Rücken hinunter.
Wird es heute wieder so sein? Werden sie mich wieder angreifen?
Unsicher trat er auf die Menge zu, doch schienen nur die wenigsten Notiz von ihm zu nehmen. Viel zu sehr schien die Masse gebannt von dem Mann mittleren Alters, der sich auf seinen Wagen gestellt hatte und die Leute mit ruhigen Bewegungen zum Zuhören animieren wollte.
„Meine sehr geehrten Leute, liebe Pfaffelsteiner“, schrie er letztendlich, um auch die letzten Schwätzer zum Verstummen zu bringen.
„Ihre werdet mich nicht kennen, aber ich kenne euch mit euren Problemen. Mein Name ist Hans. Ich reise schon seit vielen Jahren durch die Städte unseres geliebten Landes, um den Leuten zuzuhören und zu helfen, wo ich helfen kann. Seit zwei Jahren höre ich immer wieder die gleichen Rufe von einer schlimmen Krankheit, die ganze Landstriche entvölkert haben soll. Sie befällt wahllos jeden, alt oder jung, reich oder arm. Wer einmal an ihr erkrankt ist, wird nicht überleben und stirbt innerhalb der nächsten drei Tage. Kein Medikus soll die Krankheit heilen können und kein Priestergebet soll einen davor beschützen. Ich habe sogar gehört, dass die Krankheit am allerliebsten die Pfaffen befällt und die Pfuscher fallen zu Boden wie im Herbst die Blätter von den Bäumen. Unser sündiges Leben soll die Krankheit heraufbeschwören, sagen sie dann. Wir müssen Buße tun und fasten. Aber wenn wir dann geschwächt sind, weil wir seit Ewigkeiten kein Fleisch mehr gegessen und keinen guten Wein mehr getrunken haben, befällt uns die Pestilenz. Was fällt dem lieben Doctor dazu ein? Er schneidet uns auf und lässt auch noch die letzten Lebensgeister aus uns herauslaufen!“
Einige der Umstehenden drehten sich zu Johann um und auch hinter sich konnte er förmlich die bösen Blicke in seinem Nacken spüren. Ihm gefiel gar nicht, wie sich die Ansprache entwickelte und so entschloss er sich, den Rückzug anzutreten. Noch während er sich langsam seinen Weg zurück bahnte, konnte er die donnernde Stimme von Hans hören.
„Überall ist es das Gleiche, egal in welche Stadt ich gekommen bin. Während die Pestilenz um sich greift und der Tod reiche Ernte hält, tun die selbsterklärten Heiler alles, um ihm noch mehr Leben in die Arme zu treiben. Aber damit ist jetzt Schluss! Ich bin kein Medikus, ich habe nicht studiert und ich bin auch kein Gottesmann; seht mich an und ihr werdet sehen, dass ich mir nicht den Scheitel rasiere.“ Er neigte den Kopf so weit nach vorne, dass ihm der Hut vom Kopf fiel. Dichtes dunkelbraunes Haar kam zum Vorschein. Die Menge lachte.
„Nein, ich bin ein ganz gewöhnlicher Mann, dem das Glück gewogen ist und der ein Geheimnis herausgefunden hat. Habt ihr euch noch nie gefragt, warum die Pest jetzt zuschlägt und nicht schon vor langer, langer Zeit? Weil wir heute ein sündigeres Leben führen als früher? Weil Gott uns strafen will? Ganz bestimmt nicht, sage ich euch! Früher waren sie noch viel sündiger als heute. Unsere Vorfahren trieben es am helllichten Tag auf offener Straße. Die Römer glaubten sogar an die falschen Götter. Aber warum starben sie nicht wie die Fliegen? Weil sie ein Mittel hatten! Ein Mittel, mit dem man sich nicht mehr mit der Krankheit anstecken kann. Als ich vor einem halben Jahr in die Stadt Trier kam, traf ich einen Gelehrten, der mir auf seinem Sterbebett die Rezeptur für ein lange verschollenes Mittel verriet. Ich kann euch sagen: Es wirkt Wunder! Ich habe das Mittel genau nach seinen Vorgaben gemischt und es auf meinen Reisen verkauft. Wer zu diesem Zeitpunkt noch nicht krank war, der wurde auch nicht mehr krank, bis die Pest weiterzog. Mit der Pest zog auch ich in die nächste Stadt, bis ich nun bei euch bin. Menschen von Pfaffelstein, ich werde euch von der Angst erlösen und vor einem entsetzlichen Tod bewahren.“
Johann drehte sich nun doch noch einmal um. Er sah Hans auf der Bühne gestikulieren und eine Flasche hochheben, während die Zuhörer gebannt an seinen Lippen hingen. Sein Interesse, ob es so ein Mittel tatsächlich geben konnte, war geweckt.
Warum haben sie uns das in Paris nicht beigebracht?
Gleichzeitig fiel ihm aber ein, dass in Paris auch nicht gelehrt wurde, dass es die Pestilenz überhaupt gab und seufzend lauschte nun auch er den Worten.
„Dieses Wundermittel nennt sich Herba Vitae, die Kräuter des Lebens. Obwohl es aufwendig ist die Zutaten zu sammeln und richtig zu mischen, kann ich euch eine Portion für den läppischen Preis von nur 2 Pfennigen verkaufen. Aber nehmt euch in Acht, schlingt mein Gebräu nicht einfach so trocken hinunter. Dann kann es ebenso schaden, wie wenn euch der Medikus die Adern öffnet. Die Kräuter könnt ihr im Feuer verbrennen und so euer Heim mit dem wohltuenden Duft reinigen, oder ihr trinkt sie in Wein aufgelöst. Ihr könnt den Trank auch gleich fertig gemischt kaufen, dafür müsst ihr nur 3 Pfennige berappen. Erwachsene trinken ein Fläschchen am Tag, Kinder ein halbes. Jeder, der sein Leben retten will, kommt jetzt zu mir nach vorne. Ihr braucht nicht zu drängeln, ich habe genügend für alle dabei.“
Die Menge applaudierte und Johann sah, wie die Menschen nach vorne, Richtung Bühne schoben. Etwas pikiert darüber, dass Hans seinen Stand als Aderschlitzer darstellte, wollte er dennoch wissen, um welche Kräuter es sich handelte. Er reihte sich ein und drückte sich nach vorne.
„Seid gegrüßt, Hans. Ich bin Johann Sebastian Adler, der ansässige Medikus und ich freue mich einen weiteren Heiler in der Stadt zu wissen. Vielleicht richten wir gemeinsam mehr gegen die Krankheit aus, als ich es alleine schaffen würde.“
Hans sah ihn abschätzig an.
„Da muss ich dich enttäuschen, Medikus. Ich bin kein Heiler. Ich kann keine Adern öffnen und habe auch sonst keine Ahnung, was man für einen Kranken tun kann. Ich habe ein Mittel, damit die Menschen nicht mehr geheilt werden müssen, weil sie erst gar nicht krank werden. Außerdem kann ich dir eines sagen: Wenn jemand an der Pest erkrankt, dann liegt es allein in Gottes Hand, ob er wieder gesund wird. Ich habe genügend Leute krank werden und sterben sehen. Nur die allerwenigsten werden wieder gesund. Bei den Glücklichen spielt es keine Rolle, ob sich ein Medikus, ein Priester oder niemand um sie kümmert. Willst du nun etwas kaufen, oder verlässt du dich darauf, dass du dir später selbst die Adern aufschneiden kannst?“
Johann war sprachlos. Trotz der bissigen Rede hätte er nicht mit offener Feindseligkeit gerechnet. Er kaufte eine Flasche von dem Trank und eine Portion der Kräutermischung, danach ließ er sich perplex von der Menge hinter den Wagen und vom Marktplatz drängen. Dann packte ihn die Wut.
Von wegen es liegt nur in Gottes Hand! Noch bevor dir dein letzter Tropfen Kräuterwein ausgegangen ist, werde ich jeden einzelnen Bürger dieser Stadt von der Pest heilen!
Er stapfte nach Hause, wo er sich vorsichtshalber seinen Mantel und die Pestmaske überwarf. Bei Anna angekommen atmete er auf. Annas Körper zeigte nach wie vor keine Beulen, aber sie schwitzte immer noch stark, außerdem wirkte sie benommener als noch vor kurzem. Vom Schlaf kam sie nur in einen kurzen Dämmerzustand, bevor sie wieder einschlief. Johann erneuerte die Wadenwickel und strich ihr liebevoll den Schweiß von der Stirn. Erst als er den Eindruck hatte, dass sie ruhiger schlief, erhob er sich. Er ging in sein Behandlungszimmer, um die Kräuter genauer unter die Lupe zu nehmen.

„Bleib mir bloß vom Leib und schneide mich nicht auf, Schnabeldoktor. Ich habe meine Herba Vitae getrunken und bin kerngesund.“
Johann überhörte die Bemerkungen auf seinem Weg zum Marktplatz. Es hatte einige Zeit gedauert, bis er die einzelnen Bestandteile der Kräuter erkannt hatte, aber nun wusste er, dass es sich bei Hans um einen Scharlatan handelte. Er stellte ihn zur Rede: „Auch wenn ihr mich für einen Pfuscher haltet, habe ich die großen antiken Gelehrten studiert und bin ein ausgebildeter Medikus. Darüber hinaus habe ich mich auch mit Heilkräutern beschäftigt. Was ihr in Eure Kräuter mischt, sieht verdächtig nach den Beeren der Stechpalme aus. Ihr vergiftet die Menschen, statt ihnen zu helfen!“
Johann baute sich vor dem Karren auf, an dem Hans gerade seinen Trank an einige Einwohner verkaufte.
„Ja, da schau her, der Maularzt.“
Einige der Umstehenden lachten verächtlich.
„Was hast du denn für ein Problem? Schau dich doch um. Hier zum Beispiel ist der Fischer Franz. Er hat gestern ein Fläschchen getrunken und heute kauft er sich wieder eines. Sieht so jemand aus, der vergiftet wurde? Ich denke nicht. Sieht er so aus, als wäre er krank geworden? Nein? Also hilft mein Trunk. Hör also damit auf, mich und mein Mittel anzugreifen.“
Franz sah tatsächlich nicht aus, als wäre er krank oder vergiftet, höchstens ein wenig erschöpft. Hans wandte sich wieder seinen Kunden zu und verkaufte sein Wundermittel.
„Seid doch nicht dumm. Ich habe die Kräuter überprüft. Wenn ihr dieses Gebräu trinkt, dann werdet ihr erst recht krank und sterbt. Nicht an der Pest, aber dafür an den Giftbeeren!“
Ein ungeschlachter Mann stellte sich ihm in den Weg und rief ihm entgegen: „Schau, dass du weiter kommst, du Metzger. Keiner glaubt dir und keiner will hören, was du von dir gibst. Es heißt, dass jetzt auch noch dein Weib krank geworden ist. Wenn ich so unfähig wäre wie du, dann würden hier alle Häuser einstürzen!“
Der Maurer schubste ihn, so dass er wild mit den Armen rudernd nach hinten taumelte, bis ihm ein weiterer Passant ein Bein stellte. Johann landete unsanft auf den Pflastersteinen, rappelte sich hektisch wieder auf und ergriff die Flucht, bevor es wieder zu Handgreiflichkeiten gegen ihn kommen konnte.
Diese Stadt ist ein Nest. Woher wissen die Leute denn schon wieder, dass Anna krank wurde?
Gut, wenn schon die Gesunden nichts mit von ihm wissen wollten, dann würde er zumindest den Kranken helfen. Dieser Betrüger wollte ihnen eh nicht helfen. Er holte Mantel, Maske und Arzttasche und machte sich auf dem Weg zu den Erkrankten.

„Nein, nein. Ihr müsst nicht herein. Mein Weib fühlt sich schon viel wohler, es ist nicht nötig einen Aderlass bei ihr durchzuführen. Ihr geht es stündlich besser. Ich habe außerdem einen ausreichenden Vorrat Kräutertrunk zuhause.“
Und das war noch die netteste Abfuhr, die er an diesem Tag bekommen hatte. Anderswo hatte man ihn mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt oder ihm sogar Schläge angedroht, wenn er nicht sofort das Grundstück verlassen würde. Jetzt, wo der neue Wunderdoktor in der Stadt war, brauche man ihn nicht mehr.
Johann war entmutigt. Auf dem Weg nach Hause sah er den hochaufragenden Kirchturm der Stadtkirche.
„Wann war ich zuletzt wohl in der Kirche?“, fragte er sich.
Nachdem der letzte Priester der Stadt an der Pest gestorben war, wurden auch keine Gottesdienste mehr gefeiert. Man konnte auch nicht mehr zur Beichte gehen. Es war still geworden im Gotteshaus und niemand suchte mehr Trost darin. Es schien, als hätte Gott Pfaffelstein verlassen. Ein wenig göttliche Einsicht würde ihm nicht schaden und vielleicht würde Gott auch ohne Priester zu ihm sprechen. Johann drehte sich um, betrat das Gotteshaus und setzte sich in eine der verwaisten Sitzreihen. Er schlug das Kreuzzeichen und betete das Pater Noster. Er wusste nicht, ob er zu Gott, oder doch nur mit sich selbst redete als er das Altarbild fragte: „Was kann ich noch tun? Es ist meine Berufung den Menschen zu helfen, aber ich bin machtlos gegen diese Seuche. Nichts von dem, was uns die großen Mediziner hinterlassen haben, scheint gegen sie zu helfen. Es sieht so aus, als würden ihre Heilmittel es sogar noch schlimmer machen. Jetzt misstrauen mir die Menschen und lassen mich die Kranken nicht mehr behandeln. Ich kann nichts mehr tun. Meine Mission ist gescheitert. Bitte zeig mir meinen Weg?“. Eine einzelne Träne löste sich von seinem Auge und bahnte sich ihren Weg bis zu seinem Mantelansatz. Beschämt wollte er die Träne wegwischen und bemerkte dabei das Rascheln in seiner Manteltasche. Gedankenverloren griff er hinein und zog ein kleines Beutelchen mit den Kräutern des Lebens heraus. Was hatte dieser Marktschreier gleich nochmal gesagt? Man soll sie verbrennen, um die Luft zu reinigen? Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
„Die Luft reinigen! Natürlich!“, rief er laut aus. Es reichte nicht aus die Fenster nach Süden geschlossen zu halten, um sich vor den üblen Miasmen zu schützen. Sie würden immer eine Ritze finden, durch die sie eindringen können. Man musste die Luft auch von ihnen reinigen. Aber dafür gab es sicher etwas Besseres als diese Kräuter. Er sprang auf und hastete in die Sakristei, wo er nach kurzem Suchen das Weihrauchgefäß fand.
Zuhause angekommen rannte er die Treppe hinauf. Er entzündete eine Kohlenpfanne und legte einige Weihrauchstücke darauf. Schon nach kurzer Zeit spürte er dessen entspannende Wirkung. Er setzte sich zu seiner Frau ans Bett und sah, dass sich die Symptome verschlimmert hatten. Ihr glasiger Blick ging durch ihn hindurch, ohne ihn wahrzunehmen. Als er begann, ihr das Gesicht abzuwischen und ihren Körper zu reinigen, bemerkte er einen schwarzen Fleck an ihrem Hals. Erschrocken zuckte er zurück. Erst wollte er direkt die Flucht ergreifen, doch dann unterdrückte er den Impuls und mahnte sich zur Ruhe. Sie war seine Frau! Seine einzige Patientin noch dazu! Und zum ersten Mal hatte er eine Idee, wie er die Krankheit bekämpfen konnte.
„Reiß dich gefälligst zusammen!“, murmelte er sich selbst zu. Er prüfte die Beule an ihrem Hals. Sie war noch recht klein und konnte erst im Laufe des Tages entstanden sein. Unter ihrer linken Achsel fand er dagegen eine faustgroße, tiefschwarze Beule. Als er darüberstrich, zuckte Anna gequält zusammen und stieß einen Schmerzensschrei aus. Johann ging nun sanfter vor. Er wollte sich nicht mehr auf die Lehren aus Paris verlassen. Er wollte eigene Erfahrungen sammeln und sich dafür alle Zeit der Welt nehmen. Seine Mission war nun einzig und allein, Anna zu heilen. Wieder benetzte er die Stirn seiner Frau. Die Abkühlung schien ihr gut zu tun und so wischte er mit dem feuchten Lappen über ihren Hals. Als er ihren Oberkörper reinigte, drehte sie sich plötzlich im Schlaf. Seine Hand rutschte ab und fuhr genau durch die Beule in ihrer Achsel. Die schwarze Halbkugel platzte auf wie ein heruntergefallenes Hühnerei. Dickflüssiger Eiter und dunkles Blut quollen aus der offenen Wunde. Anne bäumte sich auf und schrie. Johann schrak zurück. Mit schreckgeweiteten Augen hob er die Hände. Dann aber schien sich seine Frau zu entspannen. Sie ließ sich zurück ins Kissen sinken und seufzte leise.
Hat es etwa geholfen die Beule zu öffnen? Johann drückte weiter an die Beule bis kein Blut und Eiter mehr herausliefen und bildete sich ein, dass es ihr besser ging. Er musste es weiter probieren. Er holte sein Skalpell, um die Beule an ihrem Hals einzuritzen. Auch aus ihr drückte er den Eiter heraus. Nachdem er keine weiteren Beulen mehr fand, wischte er die Körpersäfte zusammen, verschloss die offenen Wunden und reinigte den restlichen Körper. Draußen verbrannte er alle Lappen, erst danach zog er Mantel, Handschuhe und Maske aus und wusch sich selbst. Er war erschöpft, aber auch euphorisch, vielleicht eine Lösung gefunden zu haben. Kaum konnte er den nächsten Tag und die Genesung seiner Frau erwarten. Mit einem zuversichtlichen Lächeln schlief er auf seinem Stuhl ein und sank in einen tiefen Schlaf.

Am folgenden Morgen schlief Anna noch, als er nach ihr sah. Ihre Temperatur hatte etwas nachgelassen, aber sie fieberte und schwitzte immer noch. Also holte Johann frisches Wasser am Brunnen. Kaum hatte er das Haus verlassen, hörte er Geschrei vom Marktplatz. Neugierig wandte er sich in die Richtung des Lärms. Das hörte sich nicht nach einer jubelnden Menge an, die ihren Beschützer feierte oder ihm kistenweise Herba Vitae aus den Händen riss.
„Gestern Abend hat sich meine Frau gesund ins Bett gelegt und heute ist sie nicht mehr aufgewacht! Dabei hat sie Euren Rat befolgt und jeden Tag ein ganzes Fläschchen von Euren Kräutern getrunken!“
„Auch mein Mann liegt todkrank im Bett und steht nicht mehr auf. Er leidet Schmerzen und sagt, er sei noch nie so müde gewesen!“
Johann kannte die Frau. Sie war das Weib von Franz dem Fischer, den er tatsächlich gestern noch gesehen hatte. Vielleicht war er doch nicht einfach nur erschöpft gewesen, vielleicht war das viel eher eine der Vergiftungserscheinungen. Er musste das überprüfen.
„Liebe Leute, so beruhigt euch doch!“
Hans macht eine beschwichtigende Geste.
„Wenn deine Frau gestern Abend bereits gestorben ist, dann kann es wohl nicht an meinen Kräutern liegen, oder habt ihr etwa mitbekommen, dass sonst noch jemand seit vorgestern gestorben ist? Ich sage euch, mit meinem Mittel erkrankt ihr nicht an der Pest. Wenn sie aber bereits an der Pest erkrankt war, dann kann ihr mein Mittel nicht mehr helfen. Und was deinen Mann angeht…“, Hans wandte sich mit einem gewinnenden Lächeln an die Frau des Fischers.
„Wahrscheinlich hat er gestern einfach nur zu viel gegessen und getrunken. Wir feiern doch alle gern das Leben in diesen schweren Zeiten. Koche ihm einen Tee und verbrenne einen Beutel Herba Vitae. Ihr werdet sehen, dass er heute Abend wieder auf den Beinen ist und wieder das Leben feiert, genauso wie es sein soll.“ Er warf einen Beutel Kräuter in Richtung der Frau.
„Aber was, wenn der Medikus doch recht hat und ihr uns vergiften wollt?“
Hans drehte sich in die Richtung, aus der der Einwand kam.
„Ich bitte euch, will euch der Bäcker oder euer Schankwirt vergiften? Wieso sollten sie? Wenn sich herumspricht, dass man sich an ihren Speisen vergiftet, kommt niemand mehr zu ihnen und sie verdienen kein Geld. Bei mir ist es nichts anderes. Wenn ich auch nur einen von euch vergiften würde, dann würde niemand mehr meine Kräuter kaufen und ich wäre gezwungen, diese schöne Stadt zu verlassen.“
Die restliche Menge hatte nur beiläufig zugehört und fing zwar wieder an das Elixier zu kaufen, allerdings nicht mit der Inbrunst, mit der sie Hans seine Fläschchen und Beutel am Vortag aus den Händen gerissen hatten. Insgesamt wirken sie alle müde und erschöpft, fiel Johann auf. Er wandte sich wieder ab und ging Richtung Brunnen. Mehr musste er nicht mehr sehen und wollte sich nun wieder um Anna kümmern. Außerdem sollte er seine Unterlagen studieren, erinnerte er sich selbst. Welche Wirkung hatten Stechpalmenbeeren? Zuhause sah er aber zuerst nach seiner Frau.
„Hallo Anna, fühlst du dich schon besser?“
Sie sah ihn durch müde Augen an, aber der fiebrige Glanz war aus ihnen verschwunden. Sie lächelte schwach.
„Ja, ich hab dir doch gesagt, dass es nur eine Influenza ist und du dir keine Sorgen machen sollst.“
„Da hattest du wohl recht.“
Johann lächelte sie an.
„Aber das du so schnell wieder gesund wurdest, lag nur an meiner exzellenten Fürsorge.“
Er strich ihr mit der behandschuhten Hand über die Stirn und wischte ihr den Schweiß vom Gesicht.
„Ich muss noch etwas nachschlagen. Während du krank wurdest, hat sich ein Scharlatan in Pfaffelstein eingeschlichen und ich habe das ungute Gefühl, dass er mit seinem Mittel die Menschen eher vergiftet, als ihnen zu helfen. Ich sehe später wieder nach dir.“
Seine Bücher bestätigten seine Gedanken – es war fast, wie er es sich gedacht hatte: Stechpalmenbeeren verdarben den Magen und machten schläfrig. Der Mann wusste überhaupt nicht, was er da verkaufte, sondern wollte einfach nur Geld mit dem Leid der Menschen verdienen!
Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Jetzt hatte er etwas gegen den Schwindler in der Hand. Das böse Treiben musste endlich ein Ende haben.

Am nächsten Morgen weckten ihn keine Geräusche oder Stimmen. Er wunderte sich, weil es die letzten Tage immer einen Tumult vor Hans‘ Karren gegeben hatte. Jeder wollte ein Fläschchen ergattern. Dabei schien der Vorrat nie zu Ende zu gehen und füllte sich stets über Nacht, wie durch ein Wunder, wieder auf. Er stieg die Stufen zum Lager seiner Frau hinauf und stellte besorgt fest, dass das Bett leer war.
„Anna? Wo bist du?“
„Hier!“, hörte er ihre Stimme schwach aus dem Nachbarraum. Er ging durch den Flur und öffnete die angelehnte Tür. Seine Frau saß auf dem Boden und stütze sich schwer atmend auf ihre Hände. Ihre Kleidung war nass vom Schweiß.
„Ich habe mich am Morgen schon viel besser gefühlt… Ich dachte, ich mache dir etwas zu essen… Weil du dich so rührend um mich gekümmert hast.“
Ohne lange zu überlegen, schlang er die Arme um sie und hob sie vorsichtig hoch. Er trug sie ins Schlafzimmer. Erst als sie schon im Bett lag, fiel ihm auf, dass er Ledermantel und Maske nicht trug.
„Ruh du dich aus – ich muss weg – muss was erledigen.“
Fluchtartig verließ er den Raum und erst als er im Erdgeschoss ankam, merkte er, wie panisch er atmete. Er versuchte sich wieder zu beruhigen: Anna ist wieder gesund, bestimmt habe ich den Pesthauch nicht abbekommen.
Er atmete einige Male tief durch, bis sich sein Herzschlag wieder verlangsamt hatte. Er musste sich zusammennehmen, wenn er Hans aus der Reserve locken wollte. Bisher hatte der sich aalglatt aus jeder Kritik gewunden. Nachdem er das Haus verlassen hatte fiel ihm erneut auf, dass es verdächtig ruhig war. Nur vereinzelt irrten Leute durch die Straßen.
„Einen schönen guten Morgen, wieso ist heute so wenig los?“, sprach er auf der Straße einen Bürger an, erhielt aber keine Antwort. Wie Schlafwandler gingen die Leute an ihm vorbei und nahmen keinerlei Notiz vom ihm. Johann ahnte Übles und eilte zum Karren des Scharlatans.
„Was habt ihr mit meiner Frau gemacht?!“, hallte ihm schon von weitem eine Stimme entgegen.
„Schon die ganze Nacht kotzt sie sich die Seele aus dem Leib, obwohl sie überhaupt nichts mehr im Magen hat. Sie hat nichts gegessen, nur Euren verdammten Kräuterwein getrunken. Ich sage, ihr habt sie vergiftet! Ist denn in dieser verfluchten Stadt auf gar niemanden mehr Verlass? Können wir uns jetzt entscheiden, ob wir aufgeschlitzt oder vergiftet werden wollen?“
„Bitte, bitte. Von vergiftet kann überhaupt keine Rede sein. Vielmehr kämpft ihr Körper, zusammen mit den Herba Vitae, gegen die krankmachenden Stoffe an. Die Pest versucht, sich in ihr festzusetzen, und nur durch meinen Trunk ist sie in der Lage, sich dagegen zu wehren.“
Gerade wollte Hans sein gewinnendes Lächeln aufsetzen, als er abrupt unterbrochen wurde.
„Ich kenne auch noch jemanden. Sogar zwei. Mein Mann und meine Tochter kotzen auch schon seit gestern ununterbrochen. Ich sage auch, dass uns dieser Mann vergiften will. Zuerst hat er uns seinen Trunk schöngeredet und wenn wir alle in unserem Erbrochenen liegen, dann holt er sich auch noch das Wenige, was wir haben!“
„Was ist eigentlich mit diesen Schlafwandlern los? Ist euch noch gar nicht aufgefallen, dass die halbe Stadt um diese Zeit noch schläft oder schlafwandelnd durch die Stadt irrt?“, versuchte Johann den Moment zu nutzen. Vielleicht musste er sich auf gar kein Wortgefecht einlassen. Es würde reichen, die Menge in die richtige Richtung zu lenken, bis sie Hans ganz von alleine aus der Stadt jagte. Aber auch Hans schien seine Chance zu wittern und erwiderte mit Siegermiene: „Ach, da schau her. Der Schnabeldoktor wagt sich auch mal wieder aus seinem Haus. Und er hat sogar seinen Schnabel daheim vergessen. Was ist los? Ist dein Weib etwa schon ausgeblutet und jetzt bist du auf der Suche nach neuen Opfern, die du dann doch nicht heilen kannst?“
„Versucht nicht, wieder von euch abzulenken und ehrenhafte Bürger zu Sündenböcken zu machen. Tatsächlich geht es meinem Weib besser und sie wird bald wieder gesund sein. Ob ihr es glaubt oder nicht. Ich habe keinen einzigen Aderlass an ihr durchgeführt. Ich habe jetzt endlich Wege gefunden, wie man die Pest heilen kann!“
„Ach was? Dein Weib soll wieder gesund sein?“, erwiderte Hans höhnisch.
„Wo ist sie denn? Ich habe sie schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Ich glaube ja, dass du…“
„Hier bin ich!“, hörte Johann die Stimme seiner Frau hinter sich. Er drehte sich halb erleichtert, halb erschrocken zu ihr um. Anna trug noch ihr Nachthemd mit den Schweißflecken und stand wacklig auf den Beinen, aber ihr Blick war klar.
„Ja, ich war an der Pest erkrankt. Ich habe mich schon im Reich unseres Herrn und Schöpfers gesehen. Aber mein Mann Johann hat sich um mich gekümmert, er hat mich gepflegt und hier stehe ich. Ich sage euch, mein Mann kann jeden Kranken in dieser Stadt heilen!“
Die Menge konzentrierte sich wieder auf Johann. Sie wirkten überrascht, auch ein wenig ungläubig, aber sie schienen gewillt ihm wieder zuzuhören.
„Ja, ich habe es geschafft, Anna zu heilen. In den letzten Tagen sind mir einige Dinge über die Pestilenz klar geworden und ich bin mir sicher, die Krankheit nun heilen zu können. Vielleicht kann ich nicht jedem helfen, aber ich werde mein Bestes für die Kranken tun, wenn ihr mich nur lasst! Dagegen kann ich euch versichern, dass sein Mittel euch nicht vor der Krankheit schützt.“
Er deutete mit dem Finger Richtung Wagen.
„In die Kräuter hat er Stechpalmenbeeren gemischt, die euch vergiften. Euch wird übel und ihr werdet schläfrig, bis ihr nur noch schlafend oder brechend im Bett liegt und das Haus nicht mehr verlassen wollt…“
„… und nicht mehr in Kontakt mit den Kranken kommt“, vollendete er den Satz in Gedanken.
„Oh mein Gott, das ist die Lösung. Wer das Mittel trinkt steckt sich nicht an, weil er mit den Kranken und deren Pesthauch nicht in Kontakt kommt. Wir müssen die Kranken von den Gesunden isolieren!“
Euphorie packte Johann.
„Ab sofort darf niemand außer mir die Häuser der Kranken betreten. Wer einen Kranken zuhause hat, muss in leere Häuser umziehen, bis die Bewohner geheilt sind. Am besten markieren wir die Häuser, in denen kranke Personen leben, damit sich niemand in sie verirrt. Holt außerdem allen Weihrauch aus der Kirche und verbrennt ihn in den Häusern der Gesunden und der Kranken. Wer kann mir helfen, eine Liste aller Kranken zusammenzustellen, um die ich mich kümmern muss?“
Die Umstehenden wurden von seiner plötzlichen Tatkraft angesteckt. Die Menge stob gerade zu auseinander, denn jeder wollte bei der sich auftuenden Gelegenheit mitwirken und das große Sterben beenden.

Als Johann später mit einem Stapel Pergament und viel zu vielen Namen am Marktplatz vorbeikam, stellte er verärgert fest, dass Hans mit seinem Karren verschwunden war. In der Aufregung hatte er es wohl geschafft, sich davonzustehlen.
Als hätte er sich in Luft aufgelöst, dachte er, als Anna ihn von hinten umarmte und sich an ihn drängte.
„Wieder kommt ein Betrüger mit dem Leben davon, obwohl er es verdient hätte am Strick zu hängen.“
„War er ein Betrüger, oder war er doch ein Zeichen Gottes? Ohne ihn hätte ich es jedenfalls nicht geschafft, dich zu heilen. Ohne ihn gäbe es nach wie vor keine Hoffnung für die vielen Kranken dieser Stadt.“
Er drehte sich zu ihr um und gab ihr einen unbeobachteten Kuss auf die Lippen.
„Und wie willst du die unzähligen Kranken heilen? Du bist immer noch der einzige Medikus in der Stadt.“
„Ich werde alles Menschenmögliche tun, um jeden einzelnen Kranken zu behandeln. Dann werden wir sehen, was meine Methoden bewirken und ob es noch bessere Heilungsmöglichkeiten gibt. Nur eines weiß ich jetzt schon: Ich werde ganz sicher keinen einzigen von ihnen zur Ader lassen.“
 

Ralph Ronneberger

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