Ein beredter Zeuge

Ein beredter Zeuge

Eine Ewigkeit hatte Hubertus Mainbrand sich gedulden müssen, bis er die Chance zu diesem Vorsprechen erhielt! Ansehnliche Mengen an Briefen und Lebensläufen waren mit der Post versandt worden, ehe zu guter Letzt ein positives Antwortschreiben im Briefkasten landete. Und auch noch von Regisseur Horst Gottfried Wegner, der grauen Eminenz des Staatstheaters, seines Zeichens Oberspielleiter. Der Obermotz, quasi.
Gut, Hubertus war nicht mehr der Jüngste, wie man an seinem grauen Haar, das ihm bis über die Schultern reichte, unschwer erkennen konnte. Aber schließlich brauchten sie am Theater auch, oder wie er sagen würde: gerade Männer im besten Alter. Faust, Berlichingen, Fuhrmann Henschel, König Lear, all dies Charaktere jenseits der Fünfzig und - alle hatte er gespielt! Gegeben, wie es so schön hieß. Gegeben auf den Brettern, die für ihn die Welt bedeuteten.
Trotz allem stand er jetzt wieder draußen im Flur, in der Hand noch immer die Zigarette ...
Kurz war es gewesen, dieses Vorsprechen eben, sehr kurz. Wenn man es recht bedenkt, hatte es gar nicht erst begonnen. Und das nur, weil ihm, Hubertus, der erste Satz nicht eingefallen war. Minutenlang war er auf der Bühne gestanden, hochkonzentriert, eine kalte Zigarette lässig im Mundwinkel. Irgendwann begann er vor der Zuhörerschaft, die annehmen mußte, er hätte bereits mit seinem theatralischen Spiel begonnen, umherzuirren und auf den Boden zu starren; als hätte er dort eine kostbare Münze verloren. Hatte gleichzeitig nach Luft und um Kontenance gerungen - aber da war kein Souffleur, der ihm hätte weiterhelfen können. Schließlich hatte er mit leerem Blick aus dem Fenster der Probebühne geschaut; als wartete er. Auf Godot vielleicht...
Nach weiteren zähen Minuten, nachdem er nicht die geringsten Anstalten gemacht hatte mit dem Sprechen zu beginnen und das Rascheln von Papieren sowie das Hüsteln der wenigen Anwesenden schon alle anderen Geräusche zu übertönen begann, zuckte er bedauernd mit den Schultern, trat vor an den Rand der Bühne, nahm die Zigarette aus dem Mund und hauchte:
„Tja, meine verehrten Herrschaften, es tut mir unendlich leid, aber mir fällt der Text nicht ein.“
Weil Hubertus Mainbrand nun mal sein Text-Büchlein nicht dabei hatte und zudem aus einem selten gespielten Stück vorsprechen wollte, war von seiten des Auditoriums keinerlei Hilfe zu erwarten.
„Vielen Dank, Herr…Mainbrand“, sagte Oberspielleiter Wegner. „Das war schon mal … sehr eindrucksvoll“, und dabei konnte er ein Schmunzeln nicht unterdrücken. „Also, dann … vielleicht kommen Sie noch einmal vorbei, wenn Ihnen der Text wieder eingefallen ist.“
Hubertus gelang es, heimlich von der Bühne zu desertieren. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ er den Proberaum und schloß die Tür völlig geräuschlos hinter sich.
Wer konnte mit so etwas rechnen? Selbstredend war ihm das Kichern nicht entgangen, das unter dem Türspalt hindurchgedrungen war. Unverhohlen hatten sie über ihn gelacht. Alle. War dies das Ende einer stolzen Karriere? Wie konnte er nur den Text vergessen. Aber an jenem Tag hatte Hubertus ein Vakuum im Schädel.
Kopfschüttelnd lief er die Treppen hinunter, passierte den Pförtner, die Schwingtür und stand noch eine geraume Zeit auf den Theaterstufen. Alsdann zündete er endlich die Zigarette an und begab sich in die Theaterklause an der Ecke. Er brauchte jetzt dringend einen starken Kaffee.
Eine ganze Weile saß der verhinderte Vorsprecher am Fenster, schaute hinaus auf die Straße zum gegenüberliegenden Kiosk mit seinen exponierten Zeitungsständen und nippte an seiner Tasse. Immer wieder ließ er die mißglückte Szene zuvor auf der Probebühne Revue passieren. Mann, das Staatstheater! Das wär’s gewesen. Er könnte sich ohrfeigen! Warum nur hatte er das Textbüchlein zu Hause gelassen? Noch niemals im Leben hatte er sich derart blamiert und verloren gefühlt wie noch vor einer halben Stunde drüben am Schauspielhaus.
,Warum schweigen Sie?’ Das war der Anfang der Szene! Jetzt fiel es ihm ein. Jetzt, wo es zu spät war ...
Hubertus zündete sich eine neue Zigarette an, blies den Rauch zum Fenster hin und sah eine Luxuslimousine vor dem Kiosk Halt machen. Der Fahrer stieg aus, verriegelte den Wagen mit der Fernbedienung und verschwand. Hubertus trank einen Schluck. Ein schöner Wagen. Ein Bentley. So teuer wie ein Einfamilienhaus, dachte er. Warum schweigen Sie?
Da schoß ein weiterer PKW heran und hielt so dicht und unvermittelt hinter dem Bentley, daß man glauben mochte, er hätte ihn gerammt. Der Fahrer schien es eilig zu haben, denn er ließ den Motor laufen und die Tür angelehnt. Schnurstracks begab er sich zum Kiosk, kaufte eine Zeitung und bezahlte.
Dann trat der Mann ein paar Schritte vom Häuschen weg, warf einen Blick in die Gazette und schloß sie wieder, denn sein Auge fiel auf den Bentley, der direkt vor ihm parkte, unmittelbar vor dem Bürgersteig. Und, wer täte das nicht, er bestaunte das Luxusgefährt, schaute sogar ins Innere.
Mit einemmal begann der fahrerlose Wagen sich zu bewegen, und der erschrockene Mann machte Anstalten, dem Einhalt zu gebieten. Was kein leichtes Unterfangen war, weil die Straße etwas abfiel. Mit der Zeitung in der Hand bemühte er sich redlich, versuchte mit Macht die sich langsam in Bewegung setzende Nobelkarosse am Spiegel festzuhalten. Das mißlang offenbar. Da lief er direkt vor die Limousine, die stieß an seine Beine, schob ihn ein paar Meter vor sich her, am Kiosk vorüber, aber letztendlich gelang die Rettungsaktion, irgendwie kam der schwere Wagen zum Halten. Der Mann jedoch hatte sich da keine einfache Aufgabe gestellt, schaute nach links und nach rechts, um Hilfe flehend.
Gegenüber in der Theaterklause sah Hubertus etwas genauer durchs Fenster und - erkannte ihn! Es war Herr Wegner, der Obermotz, der ihn vor weniger als einer Stunde so unkollegial, beinahe unprofessionell aus dem Schauspielhaus hinauskomplimentiert hatte. Ja, Herr Oberspielleiter, sinnierte Hubertus über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg, momentan scheinen die Probleme wohl eher auf Ihrer Seite. Er dachte nicht daran, hinüberzueilen und ihm seine Hilfe anzubieten, sich anzubiedern. Nein. Er beobachtete nur.
Was machte Wegner denn jetzt? Seinen spastischen Verrenkungen nach zu schließen sah es aus, als wollte er mit dem Fuß einen Stein oder einen anderen Gegenstand zu sich heranziehen. Er bot beinahe ein Bild wie Jacques Tati, der nach einem Sturz vom Rad dieses umständlich wieder zu besteigen beabsichtigte. Und in der Tat, der Theaterregisseur war bemüht, eine Dose oder eine Flasche, so genau konnte Hubertus das von seinem Logenplatz aus nicht erkennen, unter eines der Räder des Bentleys zu schieben. Wenn das mal gut geht, dachte Mainbrand. Doch das Glück schien Wegner hold zu sein. Der Coup gelang, er konnte sich selbst aus seiner mißlichen Lage befreien, die Limousine stand.
Eiligst lief er die paar Schritte zu seinem eigenen PKW zurück, setzte sich hinters Steuer und schloß die Tür. Da deutete ein leichtes Rucken am Bentley an, daß jener sich zwanglos von dem Hindernis befreit hatte und seine herrenlose Reise fortzusetzen gedachte. Wegner stieg sofort wieder aus, die Augen weit aufgerissen. Auch der Kioskbesitzer war auf die Straße getreten und verfolgte das Schauspiel. Aber um einzuschreiten war es zu spät.
Der Luxuswagen touchierte den Randstein, was seine Richtung dramatisch änderte. Nun rollte er schräg über die Straße, nahm an Fahrt zu, holperte über den anderen Gehweg und landete in der Schaufensterscheibe einer Bäckerei zwischen Torten und Plundergebäck. Beobachtet von einem fassungslosen Oberspielleiter, dem Kioskbesitzer und - von Hubertus Mainbrand.

***

Hat er oder hat er nicht? So lautete die Frage eines Journalisten, der tags darauf einen Kommentar zu dem Vorfall verfaßt hatte, in den Wegner verwickelt war. Natürlich war die Polizei rasch zur Stelle gewesen, selbstverständlich wurden Zeugen gesucht, denn der Bentley hatte ziemlich Schaden genommen - und angerichtet! Dessen Besitzer schwor Stein und Bein, den Wagen sorgfältig abgestellt zu haben; irgend jemand hätte ihn angestoßen! Dagegen versicherte Wegner, den vor ihm parkenden PKW nicht berührt zu haben.
Beobachter, die gesehen hatten, wie es zu dem Unfall gekommen war, gab es keine, wie Hubertus las. Außer ihm. Selbst der Kioskbesitzer, der Wegner überhaupt erst ins Spiel gebracht hatte, wußte kaum etwas zur Sache beizutragen. Was war da zu tun? Kurzentschlossen ging Mainbrand zur Wache und meldete sich als Augenzeuge.
Wenige Monate später erhielt er eine Ladung. An besagtem Termin warf er sich in Schale und begab sich zum Gericht. Denen würde er schon erzählen, was er gesehen. Wahrheitsgetreu, wenn es sein mußte. Diesmal würde er ausreichend Worte parat haben. Warum schweigen Sie…
Zunächst hatte er im Flur etwas zu warten, bis er an der Reihe war. Das dauerte nicht allzu lange, denn außer ihm waren keine weiteren Zeugen geladen. Während ihn der Gerichtsdiener hereinbat, hatte Hubertus Mainbrand Zeit sich umzusehen.
Etwas erhöht saß der Richter in schwarzem Gewande. An den Seiten, in ebensolchem Schwarz, waren die Anwälte von Kläger und Beklagtem plaziert. Und da saß ja auch Horst Gottfried Wegner… Mainbrand lächelte.
Und dieses Lächeln schien sich erstaunlicherweise kaum von jenem zu unterscheiden, welches der Beklagte ihm seinerzeit nach dem ‚stummen Vorsprechen’ geschenkt. Am heutigen Tag lächelte Wegner nicht. Er schien Hubertus gar nicht wiederzuerkennen, was den nicht störte.
Kaum stand Mainbrand vor dem Richtertisch, wurden seine Personalien überprüft, der Sachverhalt kurz angedeutet, als der Richter auch schon in medias res ging.
„Herr Mainbrand. Vielleicht erzählen Sie dem Gericht einmal mit Ihren eigenen Worten, was Sie gesehen haben.“
Mit eigenen Worten zu erzählen war das Nonplusultra für Hubertus.
„Hohes Gericht“, hub er an, „lieber Kläger, bedauernswerter Beklagter, verehrtes Publikum! An jenem lauen Frühlingstag, an welchem die Bienen zum ersten Mal im Jahre ausschwärmten, sich den süßen Nektar zu holen und ich das Vergnügen hatte, genüßlich eine Tasse Kaffee in der nahegelegenen Theaterklause trinken zu dürfen“, hier holte er zum ersten Mal Luft, „ereignete sich zunächst - nichts Weltbewegendes. Und so richtete ich meine Aufmerksamkeit auf den Straßenverkehr, der wie von Geisterhand geleitet an mir vorüberhuschte. Die verschiedenartigsten Modelle konnte mein Auge einfangen, sogar das Cabriolet eines im Süden dieses Landes beheimateten Unternehmens. Es war, wie mir, so denke ich, in Erinnerung geblieben, ein Mercedes. 911. Aber ich schweife ab.“
Im Saal war eine Stille eingekehrt, wie man sie nur im Theater spürt, kurz bevor der Vorhang sich hebt. Mainbrand war in seinem Element.
„Sie befanden sich wo genau?“ frage der Richter kurz.
„Ihr Zeuge, welcher sich heute so pflichtbewußt hier eingefunden, saß in jenem zur Debatte stehenden Momente bei einer Tasse Kaffee Haag, am Fenster, das zur Straße geht, und rauchte. Er hatte ein traumatisches Erlebnis zu überwinden, bei welchem es kurz zuvor den Anschein hatte, als sei er seiner Stimme verlustig gegangen. Was aber so nicht den Tatsachen entsprach.“
Damit schickte er einen Blick zu Wegner hinüber. Der angeklagte Regisseur neigte, als er die Worte vernahm, ein wenig den Kopf. Dieser Zeuge kam ihm bekannt vor. An dessen eloquente Stimme jedoch vermochte er sich nicht zu erinnern. Wie hieß er noch gleich? Er schaute in die Akten seines Verteidigers. Hubertus Mainbrand …
„Von welchem Trauma sprechen Sie?“ wollte der Richter wissen.
Hubertus, der mittlerweile eine Zigarette im Mundwinkel hatte, sah sich im Raume um, seine Augen begegneten kurz denen Wegners, dann schaute er auf den Fußboden, als suchte er etwas. In diesem Augenblick traf es den Theatermann wie ein Blitz: Vor ihm im Zeugenstand erkannte er jenen Schauspieler wieder, den er vor Monaten beim Vorsprechen so kläglich, so unwürdig hatte scheitern lassen.
War das nötig gewesen? Der Mann hatte seinen Text vergessen, na und? Das konnte jedem passieren, das passierte sogar Abend für Abend im Theater! Aber jene, die damals unten saßen, einschließlich ihm selber, hatten sich daran ergötzt und nicht den geringsten Versuch unternommen, diesem armen Menschen auf der Bühne, der so hoffnungsfroh zum Vorsprechen erschienen war, eine helfende Hand zu reichen, ihn zu ermutigen. Ja, so waren sie, die Theaterleute. Arrogant, von sich eingenommen, absolut. Und wehe, es passierte einem anderen ein Mißgeschick! Zuweilen schien es für sie nur ein Gut und ein Schlecht zu geben, schwarz oder weiß, und dazwischen nichts. Aber das Leben war nun mal nicht schwarz oder weiß. Es zeigte viel mehr Schattierungen, dazu gehörte auch von Zeit zu Zeit eine temporäre Sprachlosigkeit. Und manch einer, der in gewissen Situationen verwundbar schien und einen stummen Eindruck erweckte, entpuppte sich im Nachhinein als brillanter Redner. Leider, wie Wegner heute neidlos anerkennen mußte. In diesem Moment bereute es der Oberspielleiter sehr, damals so schroff, so unkollegial reagiert zu haben. Oh, wie er es bereute. Auch er war heute im selben Maße verwundbar. Das aber war nun nicht mehr zu ändern.
„Ein Erlebnis“, beantwortete Hubertus schließlich die Frage des Richters, indem er die Kippe aus dem Mund nahm und wieder wegsteckte, „welches - in einer etwas anderen Form - schicksalbestimmend hätte sein sollen. Für meine Wenigkeit, für mein künftig Umfeld. Für jene, die sich den Abend eigens unseretwegen reservieren, für teures Geld eine Karte erstehen, sich voller Erwartungen auf dem Plüsch niederlassen, Augen und Ohren gebannt nach vorne gerichtet.“
Der Richter verstand nicht recht, blätterte in seiner Akte und las noch einmal den Beruf des Zeugen. Aha. Nun dämmerte es ihm.
„Herr Mainbrand, wollen Sie das Erlebnis, von dem Sie sprechen, näher beschreiben?“
Hubertus warf den Kopf zurück, schleuderte dabei seine graue Mähne nach hinten und sah mit Genugtuung, wie Oberspielleiter Wegner in sich zusammensackte. Als versuchte er, in seinen Hemdkragen zu entschwinden. Wie eine Schildkröte mutete er an.
„Es gibt Zeiten, da verschlägt es einer Kreatur die Rede, heute, so scheint es, hat sie sie wiedergefunden!“
Mehr wollte Hubertus zu dem Thema nicht beitragen, was der Richter zu akzeptieren hatte.
„Also, Herr Mainbrand. Was haben Sie an besagtem Tage dort vom Fenster der Theaterklause aus gesehen?“
„Vor meinen Augen präsentierte sich ein bunter Kiosk, in welchem sich der interessierte Zeitgenosse mit einem Kaleidoskop unterhaltsamer, wenn auch nicht immer den Realitäten entsprechender Lektüre versorgen konnte. Was der Beklagte tat.“
Wegner, der sich im Vorfeld stets herauszureden versucht hatte, er habe nichts mit dem Unfall zu tun, er habe rechtzeitig gestoppt und den Unfallwagen gar nicht berührt, sah seine Felle davonschwimmen. Wenn dieser Zeuge alles erzählte, was er gesehen hatte, von Anfang an, blieb dem Richter nur, ihn zu verurteilen. Soviel stand fest. Was für ihn ungeahnte Folgen haben dürfte. Auch beruflich. Und Mainbrand legte los.
„Der Blickwinkel meines Antlitzes, Euer Gnaden, war geradezu prädestiniert, die Vorfälle auf der anderen Straßenseite detailgenau zu observieren. Was ich auch tat. So konnte es mir nicht entgehen, wie ein funkelnagelneuer PS- starker Bentley vor dem Kiosk zu halten kam, dessen Fahrer ausstieg und erfolgreich - das Weite suchte. Einsam und verlassen nun stand das britische Nobelmodell auf dem Asphalt, wußte nicht ein noch aus. Als auch schon ein zweites Fahrzeug - mit quietschenden Reifen - sich zu nähern anschickte.“
„Er erzählt alles“, raunte Wegner seinem Anwalt zu, „jedes Detail.“
Er konnte es dem Zeugen noch nicht einmal übelnehmen, und zum wiederholten Male bereute er es bitter, dem Manne seinerzeit nicht die berufliche Beachtung zukommen gelassen zu haben, die der zweifelsfrei verdiente. Zweifelsfrei!
„Besagter PKW“, so Hubertus, „und wer unter der Sonne mochte Zweifel hegen, daß es sich um einen solchen handelte, raste einher und – vorüber, ließ im nächsten Moment den Kiosk hinter sich und war verschwunden. Der Lenker hatte es wohl recht eilig gehabt.“
Er drehte leicht den Kopf, zu sehen, was Regisseur Wegner so trieb. Der war mehr tot als lebendig.
„Im darauffolgenden Verkehrsgewimmel“, fuhr Mainbrand fort, „vermochte mein Auge noch das Automobil jenes Unglücklichen zu erblicken“, nun sah er Wegner direkt an, „welchen man dort auf die Anklagebank verbannt hat.“ Leise fügte er an: „Ob zu recht, wird sich noch weisen …“
„Es gab viel Verkehr um diese Stunde?“ wollte der Verteidiger des Klägers wissen.
„Mitnichten, Verehrtester, mitnichten. Nur der glänzende neue Bentley und der Wagen des Beklagten fanden sich auf der Straße. Es war ein sehr übersichtliches Gewimmel. Sein PKW nun rollte heran“, und hier machte Mainbrand eine etwas länger Pause, als ergötzte er sich an Wegners Leiden, „hielt, und der Fahrer entstieg seinem Gefährt, um am Kiosk eine Zeitung zu erstehen. Dieselbe in der Hand stand er vor dem Bentley, der noch immer ahnungslos und ungewiß seines kommenden Geschickes vor sich hinglänzte. Als er sich plötzlich, wer hätte dies vermuten können, wie von alleine in Bewegung setzte. “
„Der Beklagte versichert“, räumte der Richter ein, „den Bentley nicht berührt zu haben.“
Mit einem raschen Blick auf Wegner antwortete Hubertus:
„Nun, hier klaffen Realität und Wirklichkeit meilenweit auseinander! Daher muß dem von meiner Warte entschieden widersprochen werden, Euer Ehren!“
Nun war der Spielleiter am Ende. Was nun kommen würde, war ihm klar. Die Rache des kleinen Mannes.
„Vielmehr fanden sehr wohl diverse Berührungen statt“, fuhr Mainbrand fort. „Der Beklagte schob und drückte an dem fremden Automobil, versuchte ihm regelrecht seinen Willen aufzudrängen.“
„Na, also“, hörte man den Anwalt des Bentleyfahrers einwerfen, „der Zeuge Weinbrand bestätigt unsere Behauptung voll und ganz!“
Ein wenig indigniert schaute Hubertus den Klägeranwalt an, bevor er diesem entgegen hielt:
„Mmainbrand ist der werte Name. Hubertus Mmainbrand, Mmime und erfolgreicher Charakterdarsteller des Mmacbeth und des Hammlet in den Inszenierungen von Mmanfred Neuenberg.“
„Bitte fahren Sie fort“, wurde er vom Richter gebeten, was er mit Freuden tat, indem er den Blick zäh vom Klägeranwalt löste.
„Jene Berührungen gestalteten sich immer heftiger, man könnte sogar von einer unübersehbaren Gewalt sprechen, die von seiten des Beklagten angewendet wurde ...“
„Damit scheint ja wohl alles klar, Herr Kollege.“
Mit diesen Worten sendete der Klägeranwalt ein Lächeln an die Adresse seines Kontrahenten hinüber.
Immer dieses ewige lästige und niemals ernstgemeinte Lächeln, dachte Hubertus, bevor er weitersprach:
„Keineswegs heimlich, nein, in aller Öffentlichkeit legte er Hand an den Bentley.“
„Wie, er legte Hand an? Womit?“ hakte der Klägeranwalt nach.
„Mit jenen Händen dort, die für gewöhnlich an seinen Unterarmen zu enden pflegen.“
„Er hat den Wagen meines Mandanten nicht mit seinem PKW geschoben, sondern mit den Händen? Wieso denn das?“
„Vielleicht, aber das kann nur eine Vermmmutung mmmeinerseits sein: Weil er zu dem Zeitpunkt mit seinen beiden Füßen – auf dem Boden stand“, schob Hubertus nach.
Der Richter warf einen Blick in die Runde, der zeigte, er war sich nicht ganz sicher, worüber hier momentan gesprochen wurde, dennoch nickte er dem Zeugen zu, fortzufahren.
„Der Herr Beklagte nun zog und zerrte am Spiegel, schob am Kotflügel und schließlich, als das Fahrzeug des Klägers nicht die geringsten Anstalten machen wollte stehen zu bleiben, sprang er todesmutig vor die Kühlerhaube des Bentleys. Die Tageszeitung unterm Arm!“
„Vor die Kühlerhaube?“ fragte der Richter. „Er hat ihn nicht von hinten geschoben?“
„Ein Schuft, Herr Gerichtspräsident, wer solches behauptete, und wert, im Duell diese Beleidigung zu büßen! Der Beklagte war sichtlich bemüht, den sich selbständig machenden Wagen zu stoppen! Was ihn eine nicht unerhebliche Anstrengung kostete. Im Anschluß hatte er noch, von Erfolg gekrönt, einen winzigen Gegenstand, dessen Identität sich meiner Kenntnis entzieht, unter das linke Vorderrad geschoben, was seiner Person ein nicht unkomisches Aussehen verlieh.“
„Er hat den Wagen quasi gesichert?“
„Quasi, euer Gnaden.“
„Und danach ist er zu seinem eigenen Fahrzeug gegangen?“ wollte der Richter wissen.
„Dies gesehen zu haben, kann ich mit Fug und Recht bezeugen.“
„Aber er hätte“, warf der Anwalt des Klägers giftig ein, „dieses Fahrzeug im Anschluß niemals unbeaufsichtigt so stehen lassen dürfen. Er hätte Hilfe holen müssen! Statt dessen wollte er den Tatort heimlich verlassen, sich aus dem Staub machen. Er trägt die volle Verantwortung für die Folgeschäden. Davon weichen wir kein Jota ab. Mainbrand bestätigt es ja.“
„Herrrr Mainbrand!“ schleuderte der ihm entgegen. „Soviel Zeit muß sein!“
Diesen Anwalt mochte er nicht leiden. Genau wie so mancher schnöseliger Regisseur ließ er die förmliche Anrede einfach weg. Mainbrand gehen Sie nach links, Mainbrand setzen Sie sich usw. Keine Kinderstube.
Mittlerweile starrten alle Beteiligten auf den Angeklagten, als ob sie von ihm eine Erklärung erwarteten.
„Euer Excellenz“, hub da Mainbrand an, „wie ich von meiner Warte aus erkennen konnte, hielt der Beklagte, während er wieder aus seinem Fahrzeug stieg, um dem hasardierenden Bentley hinterher zu schauen, ein winziges Mobiltelefon in der Hand. Wen anders, so frage ich mich und alle Zweifler im Erdenrund, hätte er rufen mögen, als jene vom Klägeranwalt so eindringlich angemahnte Hilfe?“
Damit huschte sein Blick kurz nach hinten zu Wegner. Der schaute ziemlich verdutzt drein. Beruhigend legte ihm sein Anwalt die Hand auf den Arm.
„War es denn so, wie der Zeuge sagt, Herr Wegner?“ fragte der Richter sogleich.
Wegner drehte verlegen den Kopf, sah unsicher seinen Anwalt an, schließlich nickt er kaum merklich. An einen Telefonanruf seinerseits konnte er sich gar nicht erinnern. Der Richter machte sich Notizen.
„Hat er denn gesehen, daß der Wagen meines Mandanten nun angestoßen wurde, oder hat er es nicht gesehen?“ wollte ein giftiger Klägeranwalt wissen.
Jetzt erzt er mich schon, dieser Flegel, resümierte Hubertus. Auch gut.
„Vielleicht kann er uns das schildern“, schob jener ungeduldig nach.
Er erzt mich schon wieder, nahm Hubertus zur Kenntnis, bevor er ebenso giftig antwortete.
„Um dies beurteilen zu können, hätte die Natur mich ausstatten müssen mit einem Blick, der rechtwinkelig um eine Ecke reicht, dies wird er mir zugeben, der Herr Klägeranwalt. Stelle er sich doch einmal an meine Position, bald wird er einsehen, das dies auch ihm nicht so leicht möglich sein dürfte. Frag er doch die Droschke seines Mandanten, ob sie von hinten bedrängt wurde!“
Nach diesem kurzen und lautstarken Geplänkel zwischen Zeuge und Anwalt wurde die Beweisaufnahme geschlossen, Hubertus entlassen. Fröhlich begab er sich auf den Heimweg. Zwar hatte er nicht die ganze Wahrheit erzählt, wozu auch. Wozu vor Gericht vage Vermutungen äußern und wozu diese albernen Rachegelüste? Aber dem Manne war - frei nach Schiller - geholfen, den Rest bezahlte ohnehin die Versicherung.
Wenige Tage später konnte Hubertus in der Zeitung lesen, daß Wegner vom Vorwurf der fahrlässigen Unfallverursachung freigesprochen worden war. In der darauffolgenden Woche erhielt Hubertus Mainbrand, unaufgefordert, einen vielversprechenden, freundlich formulierten neuen Vorsprechtermin. Unterzeichnet mit: Ihr zutiefst ergebener Horst Gottfried Wegner.
 



 
Oben Unten