Ein besonderer Freund

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ThomasStefan

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Ein besonderer Freund



von Thomas Stefan


Frau Grünkamp kniff abwechselnd die Augen zu, um besser sehen zu können, aber ohne die Brille nützte es wenig. Vor ihr flimmerte der Fernseher, gerade wurde wieder das Zauberleibchen angeboten. Danach käme der falsche Schmuck mit Zirkoniasteinen, das wusste sie genau, und dann noch die angeblich unzerstörbaren gusseisernen Pfannen. Aber das könne nun wirklich nicht stimmen, dachte sie sich, da man doch letztens den Mann sehen konnte, der diese Dinger vor der Kamera verbogen hatte, nur mit seinen Händen. War das nicht eine Wette gewesen?

„Alles Betrug,“ schimpfte sie plötzlich, als es ihr einfiel.

„Keine Aufregung, Oma,“ meinte Martha, die heute Abend gekommen war und ihr gerade den Waschlappen durchs Gesicht zog, dann auffordernd der alten Frau die Hand vor den Mund hielt. „Los, ausspucken, ich habe nicht ewig Zeit“. Folgsam schob die Alte ihr Gebiss hervor, es verschwand im Kukident-Behälter. „Ich bin nicht Ihre Oma, merken Sie sich das,“ nuschelte Frau Grünkamp empört, aber Martha hörte gar nicht zu, sagte wie immer: „ Ist schon gut, Oma“, und ging ihr einige wenige Male mit der Bürste durchs Haar, drückte die Brille wieder auf die Nase. Sie hob die Bettdecke, sah kurz auf die Windel: „Geht noch“, und legte wie immer die Fernbedienung weit weg. „Halbe Stunde Homeshopping, wie üblich, geht von alleine aus. Gute Nacht, bis morgen.“ Und draußen war sie.

Die alte behinderte Frau, die ein Leben zwischen Bett und Rollstuhl führte, starrte also noch dreißig Minuten auf den Fernseher und frönte ihrem letzten Hobby. Sie bestaunte Hollywood-Schaukeln, Messersets, künstliche Palmen jeglicher Größe und Zimmerspringbrunnen. Schade, dachte sie, dass auch das Telefon außer Reichweite war. Aber so hatte es ihr Sohn verlangt, nachdem sie früher oft und gerne angerufen und bestellt hatte. Ja, es war ihm mit der Zeit eine Last geworden, diese schönen Dinge immer wieder zurückzuschicken. Sie könne den Kram nicht gebrauchen, und außerdem habe sie dafür kein Geld mehr, hatte er ihr eingetrichtert. Sie hatte wahrlich bessere Zeiten erlebt, das Bild auf dem Nachtschrank zeugte davon: Sie mit ihrem verstorbenen Ehemann, und sie natürlich im Pelz. Na ja, lange vorbei. Vor kurzem hatte ihr Sohn diesen schrecklichen Pflegedienst bestellt, die hätten alles gut im Griff, meinte er immer wieder. Er jedenfalls wäre sehr zufrieden. Und sie nahm es hin.

Gerade kamen im Fernsehen diese niedlichen Hunde aus dem Tierheim. Wie gerne hätte sie so einen gehabt, als letzten Freund. Aber ihr Sohn war geradezu empört gewesen, als sie einmal Ähnliches äußerte. Wie sie sich das vorstellte, so ein Tier müsse doch immer raus, wer sollte sich darum kümmern, wahrscheinlich doch wieder er, und er hätte schon so viel am Hals, die Kanzlei würde ihn ganz in Beschlag nehmen, das wüsste sie doch. Und Gudrun und die Kinder könnten das schon gar nicht, da müsse sie ein bisschen vernünftig bleiben. Sie solle doch froh sein, dass sie wenigstens in der eigenen Wohnung bleiben dürfe, gut versorgt in den bekannten vier Wänden, mehr könne sie nicht erwarten. Wehmütig schaute sie auf die bunte Schar der Streuner, die so treuherzig blicken konnten – dann ging der Bildschirm unvermittelt aus. Seufzend schob sie den vor ihr baumelnden Lichtschalter auf Aus und schlummerte schnell ein.

Sie erwachte von einem heftigen Donnern, ein Blitz erhellte ihr Zimmer, dann noch einer und noch einer, als wollte sie jemand wecken. „Herrjemine,“ murmelte sie, zog die Bettdecke höher. Erneut ein Donnerschlag in nächster Nähe, sie zuckte zusammen. Und plötzlich ging der Fernseher wieder an. Sie runzelte unwillig die Stirn, so würde sie kaum schlafen können, sie konnte ihn ja nicht abstellen. Aber dann musste sie doch schmunzeln, es war eine unverhoffte Abwechslung.

Und interessant war es. „Ruf misch an,“ stöhnte eine barbusige Frau in Netzstrümpfen immerzu, aber das konnte sie ohne Telefon ja nicht, obwohl, der hätte sie gern Bescheid geben, mit ihrem Schweinkram nachts die Leute zu belästigen. Bevor es aber richtig ordinär wurde, kann ein sehr freundlicher Herr in einem himmelblauen Anzug und schubste das freche Weib einfach zur Seite. Eine seltsame Sendung!

„Ich habe auf Sie gewartet, nur auf Sie,“ und der nette Herr deutet mit dem Finger direkt in Frau Grünkamps Richtung, in ihr Schlafzimmer. Sie fühlte sich auf einmal persönlich angesprochen. Der Mann lächelte, bleckte die Zähne, fast wie ein Pferd, aber durchaus nicht unangenehm. „Ich mache Ihnen jetzt ein Angebot, das können Sie nicht ausschlagen.“ Die halbnackte Frau schleppte ein riesiges Paket heran - Gott, was hatte die plötzlich nur für Kräfte!! Der Mann verscheuchte sie wieder und lächelte breit in die Kamera. „Der beste Freund des Menschen hat vier Beine und ist treu wie Gold. Wer wünscht ihn sich nicht?! Aber er macht Arbeit, nicht wahr? Er muss ständig raus, stinkt, beißt die Falschen, kostet Geld, das ist es doch, was alle sagen, nicht wahr?“ Der Mann kam ganz nah an den Bildschirm, schien fast in ihr Schlafzimmer eintreten zu wollen. Er grinste breit, schüttelte überlegen den Kopf. „Nein, nein, nein, alles falsch. Wir haben den optimalen Gefährten für Sie.“ Er trat zurück, mit einem Tusch fiel die Kiste auseinander und ein riesiger Dobermann stand vor der Kamera. Er hatte ein blitzeblaues Fell und grinste genauso breit wie der Verkäufer.

„Das ist Bernie, Sie werden ihn lieben! Eine Seele von Hund. Und das Schönste: Er frisst nichts, muss nicht Gassi gehen, riecht so, wie Sie es wünschen, beißt, wen Sie wollen. Er versteht Sie einfach.“ Der Mann setzte sich begeistert auf das blaue Tier und winkte die Oben-ohne-Tante wieder herbei, die ein Schild mit einer Nummer zeigte. „Und jetzt das Beste: Wenn Sie gleich anrufen, kostet Bernie – nichts! Ja, Sie haben richtig gehört, der erste Anrufer bekommt Bernie für Nullkommanichts.“

„Ruf misch an,“ stöhnte die Barbusige auf einmal wieder, ihr Schild wackelte auf und ab, und der Hund im Takt gleich mit. „Ich bitte Sie, greifen Sie zum Telefon, dieses Angebot kommt nie wieder,“ bettelte der Mann, blickte sehnsüchtig Frau Grünkamp ins Gesicht.

Diese bemerkte plötzlich auf ihrer Bettdecke das Handy von Martha, es war ihr aus dem Kittel gerutscht. Ein lange nicht mehr gespürtes Glücksgefühl erfasste sie. „Soll ich wirklich anrufen?“ murmelte sie hin und her gerissen. Fast schien es ihr, als wenn der Hund zustimmend mit dem Kopf genickt hätte. Eigentümlich schnell fanden ihre Finger die Tasten. Im Studio klingelte das Telefon, wie elektrisiert nahm der Mann den Hörer ab. Und ehe die alte Frau etwas sagen konnte, schrie er: „Ich freue mich so, dass Sie es sind, wir bringen Bernie morgen zu Ihnen nach Hause.“

Bevor sie antworten konnte, blitzte und donnerte es heftig – und der Fernseher ging wieder aus. Etwas ratlos legte sie das Handy auf den Nachtschrank. Hatte sie nur geträumt? Vieles ging ihr durch den Kopf, und doch schlief sie wieder fest ein.

Am nächsten Morgen wurde Frau Grünkamp vom Martha geweckt, denn sie hatte verschlafen. Unwillig bemerkte die Pflegehilfe, dass ihr Handy auf dem Nachttisch lag. Prüfend schaute sie der alten Frau ins Gesicht, steckte es dann wortlos ein. Sie würde es doch nicht gewagt haben, ihr Telefon zu benutzen! Jedenfalls ging sie diesmal besonders grob mit der ihr Anvertrauten um.

Nachdem die alte Frau versorgt war und ihr Frühstück eingenommen hatte, saß sie wie immer allein am Fenster und beobachtete die Straße. Sie wusste genau, was wann geschah, sah die Kinder auf ihren Fahrrädern davon streben, den Briefträger sich abmühen, immer die gleichen Fahrzeuge an ihr vorbeifahren. Den blauen Lieferwagen bemerkte sie sofort, den hatte sie noch nie gesehen. Blitzeblau, und als einziges Firmenlogo eine weiße Wolke. Er hielt vor ihrer Tür, und ein Herr im Blaumann, dessen breites, pferdeartiges Lächeln sie irgendwo schon einmal gesehen hatte, schleppte ein großes Paket auf ihr Haus zu.

Es klingelte, und sie drückte auf die Gegensprechanlage. „Ja, Sie sind hier richtig, bei Grünkamp. Aber ich habe nichts angefordert, mein Sohn hat es mir doch verboten, außerdem kann ich mich an keine Bestellung erinnern. Und im Übrigen, ich habe sowieso kein Geld. Bitte gehen Sie wieder!“ Mit einer Mischung aus Ablehnung und Neugier beäugte sie durchs Fenster den vor der Tür stehenden Boten. Der Mann ließ sich nicht abschütteln, schaute flehend zu ihr hoch, sprach immer wieder beschwörend ins Haustelefon. Es sei doch ihre Eilbestellung von letzter Nacht, sie sei die Gewinnerin, und alles sei kostenfrei. Und der Wolkenversand sei wirklich seriös. Sie wollte ihn schon endgültig wegschicken, da vernahm sie ein leises Wimmern, dann ein unterdrücktes Bellen. Es kam unzweifelhaft aus dem Paket, das vor der Haustür lag. Da war sie wieder, die Erinnerung an letzte Nacht. Sie wurde unsicher, und ein Gefühl tief in ihr drängte sie, ihn hereinzulassen, wider alle Vernunft und Gepflogenheiten. „Aber ich warne Sie! Wenn Sie ein Betrüger sind, dann werden Sie es bereuen. Mein Sohn ist Rechtsanwalt, mein Mann war bei der Polizei, und seine alte Waffe liegt immer griffbereit,“ feuerte sie schnell noch eine Breitseite auf den Blaumann ab, dennoch betätigte sie den Öffner.

„Ich danke Ihnen,“ antwortete der Bote, drückte erleichtert die summende Eingangstür auf und erschien bei ihr im Zimmer. Er setzte das Paket ab, lächelte wie ein Zauberer. Dann klatschte er in die Hände, die Kiste fiel auseinander, genauso wie es die alte Frau schon nachts im TV gesehen hatte, und Bernie stand vor ihr. Blitzeblau und mit diesem eigentümlichen Lächeln. Frau Grünkamp schlug sich die Hand vor den Mund. „Ach du meine Güte! Der frisst doch bestimmt für drei, und braucht ständig Auslauf. Es ist zu schön um wahr zu sein, aber nein, man muss ehrlich bleiben, ständig in der Wohnung, das wäre doch eine Quälerei für das Tier. Obgleich, wo ich ihn jetzt sehe, muss ich sagen: Er ist einfach wunderschön.“

Der freundliche Herr strahlte. „Sehen Sie, so schnell gewöhnt man sich an ihn. Und wie versprochen, er frisst nichts, muss nicht Gassi und folgt aufs Wort.“

„Und was ist, wenn ich ihn nicht behalten darf? Mein Sohn ist immer so streng mit mir. Er ist ja ein guter Mensch, kümmert sich um alles, wird aber oft recht schnell nervös. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll,“ wandte sie unglücklich ein.

Der Mann blickte verständnisvoll. „Sie werden mit Bernie keinerlei Mühe haben. Wenn Sie ihn nicht mehr wollen, sagen Sie es ihm, er versteht Sie, er wird von selbst zurückfinden, Sie brauchen sich um nichts zu kümmern, glauben Sie mir. Aber das wird nicht geschehen, ich weiß es jetzt schon.“ Und er lächelte sein Pferdelächeln, verbeugte sich, und bevor sie noch etwas sagen konnte, war er draußen, der blaue Wagen machte einen beschwingten Satz, und weg war er.

„Ach Herrje, ich habe ja gar nichts unterschrieben, keinen Lieferschein bekommen, keine Adresse. Was ist mit der Hundesteuer? Und wenn er Martha beißt, und wenn er doch was fressen möchte? Das ist doch unmöglich, dass der nichts braucht, so ein großes Tier. Worauf habe ich mich nur wieder eingelassen?!“ Erst jetzt bemerkte sie, dass der Hund ständig den Kopf hin und her geschüttelt hatte, als hätte er jedes Wort verstanden.

Ungläubig starrte sie Bernie an, und dann wagte sie es, ihn anzusprechen. „Verstehst du mich etwa?“ Der Hund nickte mit dem Kopf, lächelte nachsichtig. Sie konnte es kaum glauben. „Und du musst wirklich nichts fressen? Das gibt es doch gar nicht! Und raus musst du auch nicht? Aber wenigstens an den Baum, markieren und schnüffeln?! Das machen Hunde doch so, oder?“

Bernie zuckte gleichgültig mit den Schultern, guckte schelmisch und hob langsam das Bein, als wollte er sich an ihrem Kleiderschrank erleichtern. Entsetzt hob sie die Hände. “Ich hab´s geahnt. Was wird nur der Pflegedienst sagen, und erst mein Sohn!“ Doch der Hund nahm sein Bein zurück, grinste, zwinkerte sie an, als wenn er sich freute, ihr einen Schrecken eingejagt zu haben. Erleichtert winkte sie ihn zu sich heran, er legte seinen Kopf auf ihren Schoß und ließ sich streicheln. In diesem Moment waren sie eine unlösbare Verbindung eingegangen.

Gemeinsam schauten sie ab jetzt aus dem Fenster, und die alte Frau erklärte ihm alle Vorgänge draußen auf der Straße, obwohl sie bald den Eindruck bekam, er wüsste bereits alles. Kam Besuch oder der Pflegedienst, kroch Bernie schnell unters Bett. Frau Grünkamp hatte das komische Gefühl, als würden ihn die anderen auch dort nicht entdecken, selbst wenn sie nachschauen würden. War er etwa nur für sie existent? Wenn ihre Pflegerin sie mit dem Rollstuhl die Rampe hinunter in den rückwärtigen Garten schob, blitzte Bernies Kopf immer wieder in der Tür auf, so dass nur sie ihn sehen konnte. Tatsächlich musste er nie hinaus, auch fressen oder wenigstens Wasser saufen musste er nicht. Die gegebenen Versprechen wurden alle eingehalten. Am liebsten schauten die beiden abends Homeshopping, und auch hierbei hatte Frau Grünkamp das Gefühl, der Hund würde alle Sendungen kennen. Jedenfalls konnte er problemlos die Fernbedienung apportieren, so dass sie deutlich länger sehen konnte als früher. Nur weigerte er sich beständig, das Telefon zu holen, er schien zu ahnen, was sie sonst vorgehabt hätte. Jedenfalls legte er seine Schnauze auf die Bettdecke und sie kraulte ihn, bis sie eingeschlafen war.

Als erste bemerkte es Martha. Frau Grünkamps Hände wurden mit der Zeit blau, und die Farbe ließ sich einfach nicht abwaschen, sosehr sie die alte Frau mit der Wurzelbürste auch quälte. Natürlich wurde der Sohn verständigt, dann der Hausarzt. Es blieb rätselhaft. Eigentümlicherweise kroch die Bläue langsam, aber unerbittlich die Arme hinauf, jeden Tag einige Zentimeter. Die Pflegerinnen maßen die Ausdehnung, der Arzt studierte die angelegte Tabelle, schüttelte nur den Kopf und murmelte etwas von Durchblutungsstörung. Immer wieder wurde sie untersucht, es gab keine überzeugende Erklärung. Obendrein bekräftigte die alte Frau ständig, sich pudelwohl zu fühlen. Endgültig kritisch wurde es für sie, als sie immer weniger aß und auch ihre Ausscheidungen nachließen. Als dann eines Tages Martha im Nachttopf ein blaues Würstchen gesehen haben wollte, war die Entscheidung des Arztes gefallen: „Frau Grünkamp muss ins Krankenhaus, unwiderruflich.“

Mühsam diskutierte sie am Abend vor der Einlieferung mit ihrem Sohn. „Es geht mir wirklich gut, ich weiß gar nicht was ihr habt, nie habe ich mich wohler gefühlt. Und das bisschen Farbe an den Händen, das kommt doch schon mal vor, Junge.“ Der aber schüttelte nur den Kopf. „Nein, nein, und nochmals nein! Du brütest was aus, das hat auch Dr. Tauschke gesagt, und wir können kein weiteres Risiko mehr eingehen. Morgen früh kommst du ins Krankenhaus. Dann sind wir alle beruhigt.“

Nachdem sie zur Nacht versorgt worden war, schaute die alte Frau wie immer Homeshopping, gemeinsam mit Bernie, der unter dem Bett hervorgekrochen war. Traurig starrte sie auf die Mattscheibe, während der Hund sie aufmerksam musterte. Auch er spürte – oder wusste? – von der bevorstehenden Veränderung im Leben seiner Herrin. Die Werbesendungen rauschten an ihr vorbei, sie nahm sie gar nicht wahr. Unglücklich schaute sie auf ihre blauen Hände, die wieder voller Kraft waren, sie hatte es nur niemandem gesagt. Und auch auf ihren Beinen konnte sie jetzt stehen, sie hatte es mehrfach ausprobiert und war aus dem Rollstuhl aufgestanden, natürlich nur, wenn sie mit Bernie alleine war. Ratlos schaute sie zu ihrem blauen Hund, der mit seiner Schnauze zum Fernseher wies.

Dort erschien soeben eine Wahrsagerin, die zu später Stunde das Horoskop las. Die mollige Frau im blauen, mit Sternen übersäten Gewand stierte in das Schlafzimmer von Frau Grünkamp. Gerade besprach sie deren Sternzeichen.

„Liebe Fische-Geborene, ich prophezeie euch eine wunderbare Zeit, ihr habt keinen Grund zur Traurigkeit. Eine schöne lange Reise steht euch bevor, ihr müsst nur den Mut haben, sie endlich anzutreten.“ Bernie sah Frau Grünkamp auffordernd an, auch die Wahrsagerin hielt inne, blickte in das Schlafzimmer. Alle schienen auf eine Entscheidung zu warten.

Die alte Frau sah auf ihre blauen Arme, ballte immer wieder die Fäuste, als könne sie dadurch an Kraft gewinnen. Dann schob sie energisch die Bettdecke weg und stand vorsichtig auf. Ja, jetzt fühlte sie wieder ihre alte Stärke, und auch die Entschlossenheit war da, etwas Neues zu beginnen. Sie kleidete sich bedächtig an, und der Hund war gar nicht überrascht. Endlich war sie fertig, die Wahrsagerin winkte ihr zu. Frau Grünkamps Wangen strahlten, sie nahm die blitzeblaue Leine aus Bernies Maul, und der Hund zog sie langsam, aber bestimmt, aus der Wohnung. Im Eingang sah sie sich noch einmal um und legte lächelnd die Schlüssel wieder zurück. Nein, sie würde sie nicht mehr brauchen. Leise schloss sie von draußen die Tür, berührte ein letztes Mal sanft ihr Heim. Dann drehte sie sich um, und sie und Bernie liefen, ja, tollten los, wie zwei junge Hunde und verschwanden in der Nacht.

Am nächsten Morgen kam der Sohn mit den Leuten vom Roten Kreuz, um seine Mutter ins Krankenhaus zu begleiten. Sie fanden die alte Frau tot im Bett. Ihr blaues Gesicht lächelte zufrieden, wie er es lange nicht mehr gesehen hatte. Als er die Männer nach draußen begleitete, blickte er wie erstarrt auf den Eingang. „Da, sehen sie doch,“ rief er und zeigte auf die Tür. Die Krankenpfleger schauten, sahen aber nichts. „Was soll dort sein?“ Sie blickten ihm besorgt ins Gesicht, dann verabschiedete man sich. Als er erneut auf die Haustür starrte, sah er ihn wieder: Den Abdruck einer blauen Hand, allmählich verblassend.
 



 
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