Ein blauer Tag

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Walther

Mitglied
Ein blauer Tag


Es ist ein blauer Tag. Und mehr ist nicht zu wissen.
Der Drachen steigt, die wilde Bö ins Herz zu küssen.
Will immer, immer höher, weiter fliegen müssen.
Die Sonne ruht im weichen weißen Wolkenkissen.

Es ist ein blauer Tag. Doch er verführt zu Schlüssen,
Die, falsch gefasst, ein zart gewebtes Netz zerrissen.
Es ist ein blauer Tag. Es scheint dies Bild verschlissen,
Zerfetzt das Ohr von fernen, lauten Böllerschüssen,

Die vor der Zeit der Welt den großen Sieg verkünden.
Es ist ein blauer Tag. Es wird sich keiner finden,
Weil alle Taten in ein kaltes Garnichts münden,

Weil alle sich in Wirklichkeit vergeblich schinden,
Uns das Gegebene als richtig zu begründen.
Es bleibt ein blauer Tag, gestreichelt von den Winden.
 

presque_rien

Mitglied
Hi Walther,

die Idee ist ganz toll und es berührt mich, nur bitte arbeite noch etwas an dem Versmaß.. Oder ist er so gewollt? Ich bin beim Lesen jedenfalls nicht klargekommen :(...

LG presque
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
grundsätzlich würde ich (versmaß hin oder her) dieses "es ist" ersatzlos streichen.

alles liebe otto


p.s. ich habe keine ahnung, sollte schweigen. aber fühlen kann ich, lieber walther. fühlen kann ich.
 

Walther

Mitglied
Hallo Presque-Rien, lieber Otto,

dies ist ein klassischer 6 hebiger Jambus, auch Alexandriner genannt.
Es ist ein blauer Tag. Und mehr ist nicht zu wissen.
o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o
Der Drachen steigt, die wilde Bö ins Herz zu küssen.
o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o
Will immer, immer höher, weiter fliegen müssen.
o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o
Die Sonne ruht im weichen weißen Wolkenkissen.
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Es ist ein blauer Tag. Doch er verführt zu Schlüssen,
o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o
Die, falsch gefasst, ein zart gewebtes Netz zerrissen.
o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o
Es ist ein blauer Tag. Es scheint dies Bild verschlissen,
o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o
Zerfetzt das Ohr von fernen, lauten Böllerschüssen,
o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o

Die vor der Zeit der Welt den großen Sieg verkünden.
o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o
Es ist ein blauer Tag. Es wird sich keiner finden,
o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o
Weil alle Taten in ein kaltes Garnichts münden,
o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o

Weil alle sich in Wirklichkeit vergeblich schinden,
o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o
Uns das Gegebene als richtig zu begründen.
o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o
Es bleibt ein blauer Tag, gestreichelt von den Winden.
o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o-x-o
Letztlich also ein Sonett, das von seiner Konstruktion das barocke Gedicht eines Gryphius, auch das Vergeblichkeitsthema, aufgreift.

Nur eben, daß Gott ferner ist, nicht mehr greifbar. Und doch:
Es bleibt ein blauer Tag, gestreichelt von den Winden.
Was für ein Anblick diese Schöpfung doch ist für den, der schaut:
Es ist ein blauer Tag. Und mehr ist nicht zu wissen.
Der Drachen steigt, die wilde Bö ins Herz zu küssen.
Will immer, immer höher, weiter fliegen müssen.
Die Sonne ruht im weichen weißen Wolkenkissen.
Was gibt es mehr zu sagen.

Ich danke Euch für Eure einfühlsamen Einträge.

Liebe Grüße W.
 

Otto Lenk

Foren-Redakteur
Teammitglied
ich hatte (dich) es verstanden. du mich leider nicht, lieber walther. lang lebe der klassisch 6 hebige jambus. und dies ohne wenn und aber.

"es ist" wie es ist.

alles liebe dir otto
 

Walther

Mitglied
Moin Otto!
Das "Es ist" stellt eine letzte Versicherung dar, daß das, was der Protagonist sieht, auch ist. Bis er meint, Gewißheit zu haben, im Abschlußvers.
Ich glaube schon, Dich verstanden zu haben. Und wenn nicht, dann danke ich Dir dennoch für Deine Einfühlsamkeit. Deine Kommentare sind für mich immer wichtig.
Liebe Grüße W.
 

presque_rien

Mitglied
Hallo Walther,

vielen Dank für die ausführliche Erläuterung. Ja, dein Gedicht hat mich sofort an Gryphius erinnert! Dennoch muss ich dir widersprechen: Es ist kein Alexandriner. Ein Alexandriner hat eine Zäsur bzw. - in der deutschen Variante - eine Diärese nach der 3. Hebung.

Deswegen:
[red]
Es ist ein blauer Tag.[/red] [blue]Und mehr ist nicht zu wissen.[/blue]

liest sich wie

[red]Der schnelle Tag ist hin[/red], [blue]die Nacht schwingt ihre Fahn[/blue]

aber vgl.

[red]Und führt die Sterne auf.[/red] [blue]Der Menschen müde Scharen[/blue]

mit

[red]
Der Drachen steigt, die wil[/red][blue]de Bö ins Herz zu küssen.[/blue]

Ich persönlich finde, dass eine Zäsur etwas ist, was ein Gedicht von Anfang an sehr stark charakterisiert. Deswegen macht deine nicht durchgehende Zäsur dein Gedicht für mich leider schwer lesbar - schade, weil ich die Idee, wie gesagt, schön finde, und auch ein großer Fan von Wiederholungen und barocken Themen bin.

LG presque
 
Hallo Walther,
enddecke ich ein Gedicht von dir, fange ich sofort an, die Silben zu zählen, bis zum Ende.
Die Metrik stimmt, doch was war der Inhalt des Gedichtes? Vor lauter Zählen habe ich nichts begriffen.
Vielleicht lese ich es morgen noch einmal.
Viele Grüße
Marie-Luise.
Ps. Wenn ich außerhalb der Leselupe das Wort'' Metrik'' höre, ist meine Assoziation ''Walter''.
 

Walther

Mitglied
Hallo Presque_Rien,

es sind Alexandriner (erst Aufstieg, dann Abstieg) mit 6-hebigen Jamben gemischt, das ist richtig dargelegt. Mein Hinweis war in der Tat zu pauschal (wobei ich nicht damit rechnete, bei dieser Ungenauigkeit erwischt zu werden, touché also :) ).

Dennoch möchte ich die Melodie des Gedichts im Moment nicht verändern. Sie ist in sich durchkomponiert und auch mit den Endreimen eng verbunden, so daß ein Eingehen auf Deine Anmerkungen eine völlige Neuformulierung bedeuten würde. Dazu sehe ich im Moment noch keinen richtigen Anlaß.

Was aber nicht heißt, daß ich Deine Hinweise für überzogen oder falsch hielte oder sie aus irgendwelchen anderen Gründen für nicht unterstützend und mich weiterbringend. Das Gegenteil ist richtig, daher mein allerbester Dank für Deine ausführliche Beschäftigung mit diesem eher unscheinbaren und insgesamt nicht so wirklich wichtigen Dicht- und Reimwerk.

Liebe Grüße und das Beste

W.
 

Walther

Mitglied
Moin Marie-Louise,

es dauert mich, bei Dir solche Assoziationen auszulösen. Da ich das bereits ahnte, habe ich mich aus dem Silben- bzw. "Erbsen"-Zählen weitgehend zurückgezogen. Das werden wohl wenige bedauern, wobei ich durchaus hilfreich sein wollte.

Da man hilfreich nicht immer von beckmesserisch unterscheiden kann - und ich einfach nicht für immer der Beckmesser sein wollte -, überlasse ich jetzt die Technikkritik anderen, es sei denn, ich werde dazu "eingeladen" (so wie hier). Ich möchte einfach nicht nur mit dieser - leider notwendigen - Dichterübung in Verbindung gebracht werden. Das schon deshalb, weil ich immer noch voller Hoffnung bin, wenigstens manchmal ein nicht allein handwerklich gelungenes sondern auch inhaltlich gehaltvolles Gedicht zu schreiben.

Und in dieser Hoffnung auch gerne vor meinen Richter treten würde, wenn er irgendwann die Freundlichkeit und Weisheit hat, mich zu sich zu rufen. Wobei man ja auch das nicht mit Sicherheit weiß, ob er jemals ruft und auch noch zu sich.

Es grüßt, (irgendetwas) zählend,

W.
 

Carlo Ihde

Mitglied
Ich überleg ehrlich, lieber Walther, was uns dieser blaue Tag denn nun sagen soll. Ist es nur DEIN blauer Tag, oder auch UNSER? Hat er etwas verändert, hat er etwas hinterlassen, kann er auf eine positive Bilanz verweisen, ist er ein relatives Ende, ein Anfang, ein Stück mittendrin? Ist er Vergangenheit, ist er Zukunft? Ich fühle, dass innerhalb der als durchaus positiv zu bewertenden Form (Sonett mit Extravaganzen), ein Stück eines erhofften Inhaltes nicht ausreichend transportiert oder gar nicht erst angegangen wird. Schade. Ein Gedicht leidet sofort unter dem Verlust der kleinsten Dimension. Der Ausdruck ist leider nur Form.
 

Walther

Mitglied
Hallo Carlo,

danke für Deinen ehrlichen Eintrag. Nicht immer sind Einträge angenehm, aber die unangenehmen sind es, die weiterbringen.
Ich überleg ehrlich, lieber Walther, was uns dieser blaue Tag denn nun sagen soll. Ist es nur DEIN blauer Tag, oder auch UNSER?
Es ist der Tag des Betrachters, in dessen Innerem sich ein Bild zu einer Frage an dem Sinn und Zweck des Ganzen formt.
Hat er etwas verändert, hat er etwas hinterlassen, kann er auf eine positive Bilanz verweisen, ist er ein relatives Ende, ein Anfang, ein Stück mittendrin? Ist er Vergangenheit, ist er Zukunft?
Es ist das Hier und Jetzt, das angesprochen wird, daher auch das Präsenz. Letztlich eine klassische Literaturform, das Stream of Thinking, wenn die Pupillen unklar werden, die Landschaft verschwimmt. Im letzten Vers schärft sich, refokussiert dieser Blick sich wieder.
Ich fühle, dass innerhalb der als durchaus positiv zu bewertenden Form (Sonett mit Extravaganzen), ein Stück eines erhofften Inhaltes nicht ausreichend transportiert oder gar nicht erst angegangen wird. Schade.
Der Inhalt ist eigentlich klar dargelegt. Wenn er Dir nichts sagt, ist es wirklich schade, dann war die Sprachkunst so groß und erdrückend, daß der Inhalt nicht mehr sichtbar ist.
Ein Gedicht leidet sofort unter dem Verlust der kleinsten Dimension. Der Ausdruck ist leider nur Form.
Das ist sehr richtig. Ein Sprachkunstwerk kann zur l'art pour l'art verkommen. Sollte ich das geschafft haben, dann bin ich sehr traurig, weil dann die Mühe so gänzlich umsonst war.

Gruß W.
 

Carlo Ihde

Mitglied
Ein neuer Tag, ein neuer Text lieber Walther. Viel Glück bei der Suche.


Nebenbei: ich bin gerne auch mal herausgefordert. Hier bestand die Herausforderung in einem unglaublichen Maße im Wortlaut. Schon anspruchsvoll. Aber deine eingehende Ausführung erklärt mir vieles und entwirrt zum Teil das Anspruchsvolle.
 

Walther

Mitglied
Hallo Carlo,
den ersten Teil: es gibt also noch Hoffnung. (schnüff)
den zweiten Teil: verstehe ich nicht, aber so sei es. Jetzt sind wir wenigstens im gleichen Zustand. Verwirrend herausgefordert.
Gruß W.
 

presque_rien

Mitglied
Hallo Walther,

jetzt wollte ich diesen Deinen Tag gerade vor der vorzeitigen Versenkung auf die zweite Forumseite, wo Zeit und Raum keine Macht mehr haben, bewahren - aber dann hast Du das noch während ich schreibe, selbst geregelt - ts ts ;)...

Ich sage nichts mehr zu der Form :)!

Aber es gibt auch Einiges am Inhalt, was ich diskutieren möchte, bevor ich bewerten kann:
Es ist ein blauer Tag. Doch er verführt zu Schlüssen,
Die, falsch gefasst, [blue]ein zart gewebtes Netz [/blue]zerrissen.
Wofür steht das Netz? Ich vermute, Gedanken/Hoffnungen - aber was für welche? Erstmal erweckt so ein blauer Tag - wie Du ganz am Anfang beschreibst - den Eindruck, dass eigentlich keine Gedanken möglich bzw. notwendig sind: "Mehr gibt es nicht zu wissen": Dies und die Ruhe der Sonne in den Wolken weisen eigentlich auf eine angebrachte entsprechende Ruhe in der Seele hin. Aber die Seele - vermute ich - ist der Drachen, der den Sturm sucht, die wilde Bö, die Anstrengung - für den die Kraft eben nicht in der Ruhe liegt, sondern in der ewigen Suche. Aber dann wird sich die Seele plötzlich des blauen Tags bewusst - er "verführt zu Schlüssen" - und sieht, dass ihre Anstrengungen unbedeutend sind und nichts daran ändern, wie dieser Tag für alle Anderen erscheint. Somit gibt es keine Gründe, fliegen zu müssen (oder müssen zu wollen) und kein Wissen als Belohnung. Ist das hier der Augenblick, in dem das (Sicherheits-)Netz (der Hoffnung) zerreißt? Aber warum sind diese Schlüsse dann "falsch gefasst"?
Es ist ein blauer Tag. Es scheint dies Bild verschlissen,
Zerfetzt das Ohr [blue]von[/blue] fernen, lauten Böllerschüssen,
Die vor der Zeit der Welt [blue]den großen Sieg[/blue] verkünden.
Erstmal verstehe ich die Präposition nicht ganz: Handelt es sich um eine Ellipse von "Zerfetzt [scheint/ist/wird] das Ohr von..."? Diese Lesmöglichkeit wäre dann nicht sehr auffällig (ich habe sie erst vor zwei Sekunden gesehen ;)) - aber interpretiert man das Verb als konjugiert, passt die Präposition nicht. Und was ist das für ein Sieg, der Verkündet wird? Wenn es der Sieg des Menschen mit seinem Geist, seiner Seele und seiner Tatkraft usw. über die allgemeine Ungewissheit, den Tod usw. ist - was am nächsten läge - verstehe ich den Übergang hierzu in den Zeilen, die ich zitiert habe, nicht... - deshalb finde ich die gesamte zweite Strophe am ungelungensten.
Es ist ein blauer Tag. Es wird sich keiner finden,
- kein Sieg? Dann ist "finden" ein relativ seltsames Verb... Ab hier beginnt allerdings auch meine Ohrwurmstelle in dem ganzen Text :)!
Weil alle sich in Wirklichkeit vergeblich schinden,
Uns das Gegebene [blue]als richtig[/blue] zu begründen.
Hier kommt zum ersten Mal eine Wertung in das Gedicht - was ich überraschend finde, da ich dachte, es gehe um Gegensätze auf einer höheren Ebene: Wissen vs. Nicht-Wissen, Sinnsuche cs. Sinnlosigkeit usw. Deswegen ist mir als Leser nicht klar, was hier das "richtige" ausmachen soll. Oder ist "richtig" einfach als "wahr" zu interpretieren? Das wäre dann etwas bemüht...

Das Ende des Gedichts ist wieder so wunderschön, wie der Anfang. Insgesamt - lass Dich von den vielen Fragen und Kritikpunkten nicht täuschen - finde ich das Gedicht wirklich toll: Es hat Atmosphäre, und das ist mit großem Abstand das wichtigste an einem Gedicht und auch das, was man am Schwierigsten gezielt herstellen kann. Dennoch hätte ich gerne Antworten auf meine Fragen! :)

LG presque
 

Walther

Mitglied
Hallo liebe Presque_Rien!

Wie Du sicherlich bereits gesehen hast, arbeite ich sehr gerne mit Naturbildern, die ich dann mit zwei Inhalten fülle: dem sichtbaren und den figurativen (der sog. übertragene Sinn). :)

Die beiden Verse
Es ist ein blauer Tag. Doch er verführt zu Schlüssen,
Die, falsch gefasst, ein zart gewebtes Netz zerrissen.
benutzen eine solche doppelte Metapher. Solche Metaphern, die ich teilweise auch mit noch mehr Ebenen versehe, kommen in diesem Gedicht öfter vor, daher auch Deine Fragen und der Versuch einer Erläuterung.

Das Stichwort "Netz" habe ich wieder in diesem Gedicht benutzt http://www.leselupe.de/lw/titel-Die%20M%E4rchen%20erz%E4hlt-83648.htm. das übrigens, wie ich meine, ebenso unterschätzt wird wie dieses hier, aber gut. Manchmal verklausuliert man den Sinn so sehr, daß man ihn nicht mehr entschlüsseln kann, das Schicksal vieler Wortakrobaten. Das Bild des Spinnennetzes, das in feinen Fäden den Garten Welt durchzieht, findet man wieder in den Strings der Astrophysik, die ich hier http://www.leselupe.de/lw/titel-Laut niesen-83229.htm thematisiert habe. Nun gibt es über der Wirklichkeitssphäre auch den sog. Äther, als die geistige Sphäre, fein gewoben sind die Gedankengespinste, die durch falsche Schlüsse hier "zerrissen".

Auch hier also wenigstens 2, wenn nicht gar 3 Betrachungsebenen, gut, das setzt voraus, daß man sich mehr Zeit nimmt, einen Text wirklich zu "lesen", im Sinne aufzulesen, auszulesen, ja, die Wörter zu wenden, unter ihnen nachzuschauen, was steckt denn alles an Bedeutungsebenen dahinter. Wie sagte JoteS: Manche meiner Gedichte erweitern ihren Bedeutungskreis mit dem Wiederlesen, sie dehnen sich sozusagen in die Räume und die Sphären aus. Ja, JoteS hat recht, für den schnellen Konsum sind nicht einmal meine Spaßgedicht gedacht. Eigentlich.

Auch die zweite Textstelle arbeitet mit diesem (Be-)Deutungsebenen:
Es ist ein blauer Tag. Es scheint dies Bild verschlissen,
Zerfetzt das Ohr von fernen, lauten Böllerschüssen,
Die vor der Zeit der Welt den großen Sieg verkünden.
Ja, die Ankündigungsplauderer: Da wird ein Sieg verkauft, bevor die Arbeit begonnen ist, eine Siegesfeier mit lauten Applomb ínszeniert, und was kam heraus: heiße Luft. Kommt Dir dieses Verhalten nicht bekannt vor?

Was habe ich hier getan? Ich habe diese Feier in Worten/Wörtern inszeniert, den Zustand der aktuellen Medienlandschaft, der Medienwelt, beschrieben, in der das Symbol wichtiger geworden ist als die Tat. Und ich habe gesagt, was wir längst wissen: Auch dieses Bild ist zerschlissen. Nichts mehr ist glaubwürdig. Alles ist Mache.

Und jetzt, der "Turbo" an Sinn- und Bildverschachtelungen:
Es ist ein blauer Tag. Es wird sich keiner finden,
Weil alle Taten in ein kaltes Garnichts münden,

Weil alle sich in Wirklichkeit vergeblich schinden,
Uns das Gegebene als richtig zu begründen.
Wir haben alles und alle entkleidet, verstanden, daß Wahrhaftigkeit und Klarheit, daß Identität von Reden und Handeln nicht ist. Wir haben auch verstanden, und das scheint aus dem Barock ungeschützt in die gottlose Neuzeit herüber, aber Bach und Gyrphius hatten wenigstens noch Gott, wir haben ihn nicht mehr, weil wir des Weiteren gelernt haben, auch den Symbolen zu mißtrauen, daß alles eben doch vergeblich ist, weil das letzte Hemd keine Taschen hat und das Paradies auf Erden eine Sache ist, die spätestens seit dem Ende des realen Kommunismus als völlig unglaubwürdig sich decourviert hat.

Und spätestens jetzt sollte verständlich geworden sein, warum an diesem Text nichts wirklich "konstruiert" ist, alles hat seinen Grund und Platz. Daß dann daraus ein Sonett mit sechshebigem Jambus und einer sehr kunstvollen Reimbildung entstanden ist - man beachte auch die Vokaldoppel, die hier ihren Einsatz gefunden haben -, ist ein separates Gutzele, das ich in unserer Zeit, die solche Verzierungen nicht goutiert, weil man sie zuerst gar nicht bemerkt, eigentlich fast gar nicht mehr erwähnen möchte. Denn zum Einen ahnt keiner, wie schwer es ist, solch leichte Verse zu schreiben und ebenso wenig erfreut er sich an der Form, die selbst bereits ein kleines Kunststück ist. :D

Und wer, bitte, soll sich jetzt "finden, ..., das Gegebene als richtig zu begründen ..."? Das "Finden" ist hier auch als Spiegel, als Teil des Wortpaares "Wer suchet, der findet" (Suchen-Finden) zu sehen. Das Finden setzt ein Suchen voraus, dies aber muß mit Ziel und Sinn erfolgen, wo aber ist das, wenn es nichts Sinnstiftendes mehr gibt, außer dem eigenen Affen Zucker zu geben.

Zum Schluß das erlösende Aber: Es ist Hoffnung, es ist Schönheit, in der entseelten Welt:
Es bleibt ein blauer Tag, gestreichelt von den Winden.
Und ist diese Welt, jenseits des Stream of Thinking nicht einfach schön (spricht der ewige Romantiker W. http://www.leselupe.de/lw/titel-Getroffen-83764.htm). ;)

Liebe Grüße W.
 



 
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