Hallo liebe Presque_Rien!
Wie Du sicherlich bereits gesehen hast, arbeite ich sehr gerne mit Naturbildern, die ich dann mit zwei Inhalten fülle: dem sichtbaren und den figurativen (der sog. übertragene Sinn).
Die beiden Verse
Es ist ein blauer Tag. Doch er verführt zu Schlüssen,
Die, falsch gefasst, ein zart gewebtes Netz zerrissen.
benutzen eine solche doppelte Metapher. Solche Metaphern, die ich teilweise auch mit noch mehr Ebenen versehe, kommen in diesem Gedicht öfter vor, daher auch Deine Fragen und der Versuch einer Erläuterung.
Das Stichwort "Netz" habe ich wieder in diesem Gedicht benutzt
http://www.leselupe.de/lw/titel-Die%20M%E4rchen%20erz%E4hlt-83648.htm. das übrigens, wie ich meine, ebenso unterschätzt wird wie dieses hier, aber gut. Manchmal verklausuliert man den Sinn so sehr, daß man ihn nicht mehr entschlüsseln kann, das Schicksal vieler Wortakrobaten. Das Bild des Spinnennetzes, das in feinen Fäden den Garten Welt durchzieht, findet man wieder in den Strings der Astrophysik, die ich hier
http://www.leselupe.de/lw/titel-Laut niesen-83229.htm thematisiert habe. Nun gibt es über der Wirklichkeitssphäre auch den sog. Äther, als die geistige Sphäre, fein gewoben sind die Gedankengespinste, die durch falsche Schlüsse hier "zerrissen".
Auch hier also wenigstens 2, wenn nicht gar 3 Betrachungsebenen, gut, das setzt voraus, daß man sich mehr Zeit nimmt, einen Text wirklich zu "lesen", im Sinne aufzulesen, auszulesen, ja, die Wörter zu wenden, unter ihnen nachzuschauen, was steckt denn alles an Bedeutungsebenen dahinter. Wie sagte JoteS: Manche meiner Gedichte erweitern ihren Bedeutungskreis mit dem Wiederlesen, sie dehnen sich sozusagen in die Räume und die Sphären aus. Ja, JoteS hat recht, für den schnellen Konsum sind nicht einmal meine Spaßgedicht gedacht. Eigentlich.
Auch die zweite Textstelle arbeitet mit diesem (Be-)Deutungsebenen:
Es ist ein blauer Tag. Es scheint dies Bild verschlissen,
Zerfetzt das Ohr von fernen, lauten Böllerschüssen,
Die vor der Zeit der Welt den großen Sieg verkünden.
Ja, die Ankündigungsplauderer: Da wird ein Sieg verkauft, bevor die Arbeit begonnen ist, eine Siegesfeier mit lauten Applomb ínszeniert, und was kam heraus: heiße Luft. Kommt Dir dieses Verhalten nicht bekannt vor?
Was habe ich hier getan? Ich habe diese Feier in Worten/Wörtern inszeniert, den Zustand der aktuellen Medienlandschaft, der Medienwelt, beschrieben, in der das Symbol wichtiger geworden ist als die Tat. Und ich habe gesagt, was wir längst wissen: Auch dieses Bild ist zerschlissen. Nichts mehr ist glaubwürdig. Alles ist Mache.
Und jetzt, der "Turbo" an Sinn- und Bildverschachtelungen:
Es ist ein blauer Tag. Es wird sich keiner finden,
Weil alle Taten in ein kaltes Garnichts münden,
Weil alle sich in Wirklichkeit vergeblich schinden,
Uns das Gegebene als richtig zu begründen.
Wir haben alles und alle entkleidet, verstanden, daß Wahrhaftigkeit und Klarheit, daß Identität von Reden und Handeln nicht ist. Wir haben auch verstanden, und das scheint aus dem Barock ungeschützt in die gottlose Neuzeit herüber, aber Bach und Gyrphius hatten wenigstens noch Gott, wir haben ihn nicht mehr, weil wir des Weiteren gelernt haben, auch den Symbolen zu mißtrauen, daß alles eben doch vergeblich ist, weil das letzte Hemd keine Taschen hat und das Paradies auf Erden eine Sache ist, die spätestens seit dem Ende des realen Kommunismus als völlig unglaubwürdig sich decourviert hat.
Und spätestens jetzt sollte verständlich geworden sein, warum an diesem Text nichts wirklich "konstruiert" ist, alles hat seinen Grund und Platz. Daß dann daraus ein Sonett mit sechshebigem Jambus und einer sehr kunstvollen Reimbildung entstanden ist - man beachte auch die Vokaldoppel, die hier ihren Einsatz gefunden haben -, ist ein separates Gutzele, das ich in unserer Zeit, die solche Verzierungen nicht goutiert, weil man sie zuerst gar nicht bemerkt, eigentlich fast gar nicht mehr erwähnen möchte. Denn zum Einen ahnt keiner, wie schwer es ist, solch leichte Verse zu schreiben und ebenso wenig erfreut er sich an der Form, die selbst bereits ein kleines Kunststück ist.
Und wer, bitte, soll sich jetzt "finden, ..., das Gegebene als richtig zu begründen ..."? Das "Finden" ist hier auch als Spiegel, als Teil des Wortpaares "Wer suchet, der findet" (Suchen-Finden) zu sehen. Das Finden setzt ein Suchen voraus, dies aber muß mit Ziel und Sinn erfolgen, wo aber ist das, wenn es nichts Sinnstiftendes mehr gibt, außer dem eigenen Affen Zucker zu geben.
Zum Schluß das erlösende Aber: Es ist Hoffnung, es ist Schönheit, in der entseelten Welt:
Es bleibt ein blauer Tag, gestreichelt von den Winden.
Und ist diese Welt, jenseits des Stream of Thinking nicht einfach schön (spricht der ewige Romantiker W.
http://www.leselupe.de/lw/titel-Getroffen-83764.htm).
Liebe Grüße W.