Ralf Langer
Mitglied
Ein dichter Abend
Der Herbst des Jahres neunundachtzig kam schnaufend.
Er näherte sich, wie eine alte Frau, die mühsam ihre letzten Einkäufe in den dritten Stock trägt.
Aber es war nicht allein das Wetter:
Veränderung lag nicht nur in der Luft. Sie war sichtbar geworden. Nicht hier. Nicht in Gelsenkirchen.
Aber der ganze Osten war auf den Beinen. Menschenmassen in Leipzig, in Dresden.
Bald waren es Hunderttausende die unterwegs waren, mit Kerzen in den Händen, mit Hoffnung in den Köpfen.
Hoffnung, die hatte ich auch. Aber nicht sehr. Meist war ich ängstlich.
Während alles in Bewegung war, war ich es nicht.
Ich war starr.
Jeden Tag ging ich die zwei Stockwerke von meiner Wohnung hinab, und schaute in den Briefkasten. Alles war darin. Rechnungen vor allem.
Ich aber, wartete auf den Brief.
Schmucklos würde er sein, in umweltbewusstem grau. Rechts oben wäre ein kleiner verräterischer Stempel.
Kulturamt der Stadt Gelsenkirchen wäre dort zu lesen.
Wenn alles so lief, wie ich es mir erhoffte, wäre es meine offizielle Eintrittskarte in eine andere Welt.
Sehr geehrter Herr Nagler, hiermit freuen wir uns Ihnen mitzuteilen, dass der diesjährige Kulturförderpreis der Stadt am neunten November 1989, Ihnen übergeben wird.
So, oder so ähnlich, würde es dort stehen.
Oder auch nicht. Die Variante hatte ich schon Zuhause.
Jetzt war ich das dritte Mal nominiert worden. Das letzte Mal!
So waren die Statuten. Dann wäre ich dreißig. Und ab dreißig musst du es geschafft haben. Danach ist man alt, zumindest zu alt für einen Förderpreis.
Und wieder rann mir der Schweiß von der Stirn, als ich den Briefkasten öffnete.
Nichts. Nur Werbung. Ein Knöllchen dazu.
Erst hatte ich Angst. Diese verräterische graue Farbe des Umschlages, aber leider nur versehen mit dem Stempel des Ordnungsamtes.
Meine Hände wurden wieder ruhig.
Ich spürte Erleichterung. Lachte wie ein Idiot. Oswald hatte gesagt, dieses Mal stünden meine Chancen gut.
„Immerhin habe ich dich nominiert!“
Seine rotweingeölte Stimme klang mir noch im Ohr.
Oswald! Der war jemand. Seine Stimme hatte Gewicht.
Der einzige zu Fleisch gewordene Künstler Gelsenkirchens:
Gelernter Schriftsetzer. Schüler von Beuys, wie geflüstert wurde. Dann Karriere an Hochschulen. Erst Dozent für Gestaltung in Ulm, dann Professor an der Akademie in Kiel.
Und Ausstellungen. Weltweit. Eine sogar, in den Siebziegern Jahren, in New York im Museum of Modern Art.
Er soll Warhol die Hände geschüttelt haben!
Eine große Karriere!
Möglicherweise hatte er nur einen einzigen Fehler in seinem Künstlerleben gemacht.
Er war nach Gelsenkirchen zurückgekehrt.
Glück für mich, dachte ich, als ich langsam wieder die Treppen hinauf in meine Wohnung lief.
Das Telefon klingelte.
Ludger. Wer sonst.
„Und?“, fragte er.
„Wieder nichts!“
Pause.
„Scheiß drauf. Der Oswald macht heute ein Sit-in. Hat mir gesagt, dass ich dich mitbringen soll!“
„Ich weiß nicht recht.“
„Hör mal gut zu Hölderlin. Das ist ein Pflichttermin!“
Ich holte tief Luft.
„Ludger, du weißt wie sehr ich es hasse, wenn du mich Hölderlin nennst.“
„Stell dich nicht so an. Ihr habt viel gemeinsam. Also bis nachher.“
Ich hatte den Telefonhörer weggeworfen.
Hölderlin! Wenn ich bis jetzt etwas mit ihm gemein hatte, dann nur das ihn so gut wie niemand zu seinen Lebzeiten wahrgenommen hatte.
In schriftstellerischen Kreisen hatte man ihn bloß für einen Nachahmer Schillers gehalten.
Alles Idioten!
Aber ich war kein Hölderlin.
Ich war nicht graecophil. Mich trieben profanere Gedanken.
Dabei sein ist alles. Gebt mir den Preis. Ja gebt ihn mir, dann hab ich Ruhe!
Ich ging duschen, seifte mich so richtig ab, schrubbte die Haut bis sie rot wurde, fing sogar an laut zu singen, bis ich, endlich mit mir im Reinem, aus dem Badezimmer lief, und mich nackt vor den großen Ankleidespiegel im Flur stellte.
Mein Spiegelbild wusste zu gefallen. Ich war der perfekte Dichter.
Gut aussehend, sportlich, beinahe muskulös, eine rasierte Glatze, die die dunklen Augenbrauen, und die etwas wölfische Züge im Gesicht, angenehm unterstrichen.
Ich war perfekt.
Nur das genaue Gegenteil von mir wäre auch perfekt.
Ein dichtender Krüppel.
Hatte ich schon drüber nachgedacht, aber verworfen.
Wäre ja eine Schande.
Ich schaute auf meinen Schwanz.
„Du bist auch perfekt. Warts ab, wenn ich diesen Preis habe, hast du auch wieder Arbeit.“
Oswald hatte wirklich Geschmack.
Es waren etwa zwei Dutzend Leute, die er geladen hatte. Künstler vor allem. Aber auch Kunstinteressierte. Leute mit Geld und auch ein paar mit Stil.
Es war ein munteres Aufeinandertreffen zweier Welten, die nur eines gemeinsam hatten:
Jeder hatte etwas, was der andere nicht hatte.
So gesehen, war ich der einzig wirklich fehlplazierte. Ich hatte Nichts.
Oswald umarmte mich.
„Schön, dass du kommen konntest.“
Er drückte mir rechts und links einen seiner Rotweinküsse auf die Wange.
„Hört mal Leute“, rief er, „das ist Levi. Levi ist Dichter.“
Er nahm mich fest in den Arm.
„An ihm werden wir alle noch viel Freude haben! Er wird uns die Leviten lesen.“
Der Witz gefiel ihm. Sollte er.
Ich streckte mein Rückgrat durch. Mein Blick war auf Bulkow gefallen.
Dr. phil. Volker Bulkow. Der Kulturamtsleiter war also auch hier.
Gib mir den Preis, du Schuft, hörst du.
Beinahe erschrak ich. Aber ich hatte nicht gesprochen. Nur gedacht.
Ich glättete die Ärmel meiner Anzugjacke, atmete tief durch, und streckte Bulkow
meine Hand entgegen.
„ Herr Bulkow“, säuselte ich, “schön das wir uns kennen lernen.“
Dann ein paar Höflichkeiten. Ich scannte sein Gesicht, suchte in seinen Zügen, auch in der Art wie er mit mir sprach, nach Hinweisen. Keine Chance.
Schnell wurde er mir überdrüssig. Noch ein paar schmierige Worte zur komplexen Arbeit im Kulturamt, und ich war verschwunden.
Einfach in der Menge untertauchen. Smalltalk bis die Fetzen fliegen.
Das konnte ich.
Ludger, mein einziger Freund hier, hatte mir ein Glas Whiskey in die Hand gedrückt.
Ihn mochten alle.
Er hatte aus beiden Welten etwas. Geld von seinen Eltern, und das Talent zu unglaublich skurrilen Kurzfilmen.
Sein eigentliches Steckenpferd aber, waren Scheidungen.
Manchmal packte er sein 16mm Arriflex ein, fuhr zum Rathaus, und filmte heimlich frisch getrennte Ehepaare.
„Trauungen kann jeder“, hatte er mir mal gesagt. „Aber, das wahre Geheimnis liegt in den Gesichtern von geschiedenen Leuten.“
Wie zum Beispiel in jenem von der Frau, mit der ich mich nun geraume Zeit unterhielt.
Da war ein Trennungsstrich als Lidschatten getarnt unter ihren Brauen. Ich mag Frauen, die etwas verloren haben, an denen ein Makel ist, der nichts mit Schönheit zu tun hat.
Denn schön war sie.
Möglicherweise Anfang vierzig. Sinnlicher Mund. Gepflegte Fingernägel. Voller Busen.
„Sie sind also Levi, der Dichter!“, sagte sie, als sich unsere Blicke zufällig berührt hatten.
Ich nickte.
„Sind sie Jude.“
Ich lächelte. Zuckte mit den Achseln.
„Nobody is perfect“, entgegnete ich. „ Mein Evangelium ist die Lyrik.“
„Und das macht die Seele heil?“
„Verzeihen sie,“ ignorierte ich ihre Frage, “ich habe ihren Namen nicht verstanden. Wie lautete er noch gleich?“
„Katharina.“
„Katharina. Das ist bemerkenswert. Sie kennen die Bedeutung ihres Namens?“
Sie schüttelte mit dem Kopf.
„Nun“, sagte ich, „es gibt Menschen, die können aus Händen lesen. Ich kann aus Namen lesen.“
„Seien sie vorsichtig Levi. Frauen sind komplizierte Wesen. Sie verbringen stundenlang vor dem Spiegel um ein Geheimnis zu bewahren. Also überschätzen sie nicht meine Gutmütigkeit.“
„Ihr Name kommt aus dem altgriechischen. Katharsis. Die Reinigung. In den griechischen Tragödien ist sie der Höhepunkt in der Dramaturgie. Die Katharsis führt die Helden zusammen.
Setzt sie einander aus und führt, wie so oft, durch den Tod, die Einzelteile zu etwas Vollkommenen zusammen. Der Chor sinkt. Applaus. Das Stück ist aus.“
„ Also bin ich die Reine?“
„ Oder die zu Reinigende. Das Altgriechische ist hier flexibel.“
„ Wirklich interessant.“
„Nicht zu vergessen. Die Glaubensgemeinschaft der Katharer. In der Zeit, die wir das dunkle Mittelalter nennen, versammelten sich unter diesem Namen viele von der Mutter Kirche enttäuschten. Sie predigten den Dualismus. Die Unvereinbarkeit von Fleisch und Seele. Nannten sich selbst boni homini, die guten Menschen.“
War Katharina noch bei mir? Wurde es ihr langweilig?
„ Nun ja, genug geredet. Nur eins noch. Sie endeten alle auf dem Scheiterhaufen.
Als Ketzer. Ketzer , Katharer, Katharina. Alles ein und dasselbe Wort“
„ Und Levi, was denken sie. Was von alledem bin ich?“
Ich lachte.
„Mein Gott, Katharina. Sie sind eine Frau. Sie sind etwas von Allem!“
Ich weiß nicht wie. Aber mittlerweile standen wir auf der Terrasse. Es hatte angefangen zu regnen. Es war kalt und ich hatte meinen Arm um Katharinas Schulter gelegt.
Einen Moment lang schien es ihr zu gefallen.
Aber etwas in ihr wurde plötzlich ernst.
„Und was machen sie eigentlich beruflich?“
Da war sie dann doch. Diese Frage:
Ihre Sympathiewerte sanken in den Keller.
Was machen sie beruflich?
Hat jemand schon einmal einen Schornsteinfeger gefragt, was er beruflich mache?
Einen Zahnarzt? Oder einen Bestatter?
Nein.
Ich hätte vor Wut kotzen können.
Ich bin Dichter, schrie eine Stimme in mir. Also dichte ich. Aus Berufung.
Wenn sie wissen wollte, womit ich mein Geld verdiene, warum fragt sie es nicht direkt.
Dazu diese unterschwellige Unterstellung, man könne mit Gedichten kein Geld verdienen.
Und natürlich mein Wissen und ihr Wissen, das dem so ist.
Eine völlig überflüssige Frage also.
Jetzt half nur noch mein Freund Johnnie Walker. Ich tat einen tiefen Zug.
Es dauerte nicht mehr lang, da hatte der Whiskey sein Ziel erreicht. Ein Schalter, den ich nüchtern in meinem Kopf nicht erreichen konnte, legte sich wie von Geisterhand um.
Die Welt wurde lustig. Die Menschen um mich herum waren alle nett.
Selbst ich vergaß meine Ängste.
Ludger war wieder an meiner Seite.
„ Der Oswald gibt ne Runde Pot aus. In seinem Schamanenhäuschen im Garten. Wie sieht’s aus? Lust auf bunte Bilder im Kopf. Der Stoff vom Oswald ist Weltklasse.“
Ich stiefelte Ludger hinterher.
„Hör mal“, fragte ich ihn, „Wer ist eigentlich die Lady mit der ich mich unterhalten habe?“
„Welche Lady?“
„Gutaussehende Frau. Um die vierzig. Hört auf den Namen Katharina. Ich glaube sie ist geschieden.“
Ludger lachte.
„ Ich liebe geschiedene Leute.“
Er hatte sich auf der Terrasse umgedreht, wankte dabei ein wenig, und stierte in das Atelier hinein.
„ Ich sehe niemanden auf den deine Beschreibung passt. Ach, Scheiß drauf, lass uns mächtig eine dampfen und ein bisschen mit Oswald musizieren.“
„Vielleicht ist sie auf der Toilette.“
Ludger rollte mit den Augen und legte einen Arm auf meine Schulter.
„Hat der feine Herr Dichter wohl eine Muse gefunden, was?“
„Leck mich. Los gehen wir los und tauschen diese Realität gegen eine Andere ein.“
Im Schamanenhäuschen saßen sechs Leute. Oswald hatte eine Pfeife gestopft und lies sie herum gehen. Ludger und ich zwängten uns dazwischen, warteten bis die Pfeife wieder bei uns angekommen war und nahmen tiefe Züge.
Es dauerte nur einen winzigen Moment, dann wurde meine Zunge trocken und mein Rückenmark fühlte sich an, als hätte es einen sanften Stromschlag bekommen.
„Und jetzt machen wir Musik“, rief Oswald.
Er stand auf, torkelte zu einem kleinen Schrank, kramte einen Moment lang, drehte sich dann wieder um, und gab jedem ein afrikanisches Holzinstrument.
Ich bekam eine Kokosnuss am Stiel, gefüllt mit Reiskörnern.
„ Ich werde heute singen.“
Oswald war aufgestanden, stellte sich in unsere Mitte, die Pfeife mit Pot, wie ein Matrose lose im Mundwinkel, und fing an zu summen.
Dann formten seine Lippe Klänge, die etwas von Babysprache hatten. Von bekifften Babys.
Ich begann dazu zu rasseln. Ludger quälte eine Flöte. Was die anderen im Einzelnen für Musikinstrumente malträtierten ist in dem Lärm, der nun entstand, untergegangen.
Es war schrecklich. Irgendwann begann Oswald wie ein Derwisch an zu tanzen. Wir alle grölten mittlerweile in dieser bekifften Babysprache.
Ich glaube in diesem Moment waren wir alle glücklich. Glücklich und unschuldig.
Unschuldig, wie es nur Kinder, Tiere oder Betrunkene sein können.
Der Herbst des Jahres neunundachtzig kam schnaufend.
Er näherte sich, wie eine alte Frau, die mühsam ihre letzten Einkäufe in den dritten Stock trägt.
Aber es war nicht allein das Wetter:
Veränderung lag nicht nur in der Luft. Sie war sichtbar geworden. Nicht hier. Nicht in Gelsenkirchen.
Aber der ganze Osten war auf den Beinen. Menschenmassen in Leipzig, in Dresden.
Bald waren es Hunderttausende die unterwegs waren, mit Kerzen in den Händen, mit Hoffnung in den Köpfen.
Hoffnung, die hatte ich auch. Aber nicht sehr. Meist war ich ängstlich.
Während alles in Bewegung war, war ich es nicht.
Ich war starr.
Jeden Tag ging ich die zwei Stockwerke von meiner Wohnung hinab, und schaute in den Briefkasten. Alles war darin. Rechnungen vor allem.
Ich aber, wartete auf den Brief.
Schmucklos würde er sein, in umweltbewusstem grau. Rechts oben wäre ein kleiner verräterischer Stempel.
Kulturamt der Stadt Gelsenkirchen wäre dort zu lesen.
Wenn alles so lief, wie ich es mir erhoffte, wäre es meine offizielle Eintrittskarte in eine andere Welt.
Sehr geehrter Herr Nagler, hiermit freuen wir uns Ihnen mitzuteilen, dass der diesjährige Kulturförderpreis der Stadt am neunten November 1989, Ihnen übergeben wird.
So, oder so ähnlich, würde es dort stehen.
Oder auch nicht. Die Variante hatte ich schon Zuhause.
Jetzt war ich das dritte Mal nominiert worden. Das letzte Mal!
So waren die Statuten. Dann wäre ich dreißig. Und ab dreißig musst du es geschafft haben. Danach ist man alt, zumindest zu alt für einen Förderpreis.
Und wieder rann mir der Schweiß von der Stirn, als ich den Briefkasten öffnete.
Nichts. Nur Werbung. Ein Knöllchen dazu.
Erst hatte ich Angst. Diese verräterische graue Farbe des Umschlages, aber leider nur versehen mit dem Stempel des Ordnungsamtes.
Meine Hände wurden wieder ruhig.
Ich spürte Erleichterung. Lachte wie ein Idiot. Oswald hatte gesagt, dieses Mal stünden meine Chancen gut.
„Immerhin habe ich dich nominiert!“
Seine rotweingeölte Stimme klang mir noch im Ohr.
Oswald! Der war jemand. Seine Stimme hatte Gewicht.
Der einzige zu Fleisch gewordene Künstler Gelsenkirchens:
Gelernter Schriftsetzer. Schüler von Beuys, wie geflüstert wurde. Dann Karriere an Hochschulen. Erst Dozent für Gestaltung in Ulm, dann Professor an der Akademie in Kiel.
Und Ausstellungen. Weltweit. Eine sogar, in den Siebziegern Jahren, in New York im Museum of Modern Art.
Er soll Warhol die Hände geschüttelt haben!
Eine große Karriere!
Möglicherweise hatte er nur einen einzigen Fehler in seinem Künstlerleben gemacht.
Er war nach Gelsenkirchen zurückgekehrt.
Glück für mich, dachte ich, als ich langsam wieder die Treppen hinauf in meine Wohnung lief.
Das Telefon klingelte.
Ludger. Wer sonst.
„Und?“, fragte er.
„Wieder nichts!“
Pause.
„Scheiß drauf. Der Oswald macht heute ein Sit-in. Hat mir gesagt, dass ich dich mitbringen soll!“
„Ich weiß nicht recht.“
„Hör mal gut zu Hölderlin. Das ist ein Pflichttermin!“
Ich holte tief Luft.
„Ludger, du weißt wie sehr ich es hasse, wenn du mich Hölderlin nennst.“
„Stell dich nicht so an. Ihr habt viel gemeinsam. Also bis nachher.“
Ich hatte den Telefonhörer weggeworfen.
Hölderlin! Wenn ich bis jetzt etwas mit ihm gemein hatte, dann nur das ihn so gut wie niemand zu seinen Lebzeiten wahrgenommen hatte.
In schriftstellerischen Kreisen hatte man ihn bloß für einen Nachahmer Schillers gehalten.
Alles Idioten!
Aber ich war kein Hölderlin.
Ich war nicht graecophil. Mich trieben profanere Gedanken.
Dabei sein ist alles. Gebt mir den Preis. Ja gebt ihn mir, dann hab ich Ruhe!
Ich ging duschen, seifte mich so richtig ab, schrubbte die Haut bis sie rot wurde, fing sogar an laut zu singen, bis ich, endlich mit mir im Reinem, aus dem Badezimmer lief, und mich nackt vor den großen Ankleidespiegel im Flur stellte.
Mein Spiegelbild wusste zu gefallen. Ich war der perfekte Dichter.
Gut aussehend, sportlich, beinahe muskulös, eine rasierte Glatze, die die dunklen Augenbrauen, und die etwas wölfische Züge im Gesicht, angenehm unterstrichen.
Ich war perfekt.
Nur das genaue Gegenteil von mir wäre auch perfekt.
Ein dichtender Krüppel.
Hatte ich schon drüber nachgedacht, aber verworfen.
Wäre ja eine Schande.
Ich schaute auf meinen Schwanz.
„Du bist auch perfekt. Warts ab, wenn ich diesen Preis habe, hast du auch wieder Arbeit.“
Oswald hatte wirklich Geschmack.
Es waren etwa zwei Dutzend Leute, die er geladen hatte. Künstler vor allem. Aber auch Kunstinteressierte. Leute mit Geld und auch ein paar mit Stil.
Es war ein munteres Aufeinandertreffen zweier Welten, die nur eines gemeinsam hatten:
Jeder hatte etwas, was der andere nicht hatte.
So gesehen, war ich der einzig wirklich fehlplazierte. Ich hatte Nichts.
Oswald umarmte mich.
„Schön, dass du kommen konntest.“
Er drückte mir rechts und links einen seiner Rotweinküsse auf die Wange.
„Hört mal Leute“, rief er, „das ist Levi. Levi ist Dichter.“
Er nahm mich fest in den Arm.
„An ihm werden wir alle noch viel Freude haben! Er wird uns die Leviten lesen.“
Der Witz gefiel ihm. Sollte er.
Ich streckte mein Rückgrat durch. Mein Blick war auf Bulkow gefallen.
Dr. phil. Volker Bulkow. Der Kulturamtsleiter war also auch hier.
Gib mir den Preis, du Schuft, hörst du.
Beinahe erschrak ich. Aber ich hatte nicht gesprochen. Nur gedacht.
Ich glättete die Ärmel meiner Anzugjacke, atmete tief durch, und streckte Bulkow
meine Hand entgegen.
„ Herr Bulkow“, säuselte ich, “schön das wir uns kennen lernen.“
Dann ein paar Höflichkeiten. Ich scannte sein Gesicht, suchte in seinen Zügen, auch in der Art wie er mit mir sprach, nach Hinweisen. Keine Chance.
Schnell wurde er mir überdrüssig. Noch ein paar schmierige Worte zur komplexen Arbeit im Kulturamt, und ich war verschwunden.
Einfach in der Menge untertauchen. Smalltalk bis die Fetzen fliegen.
Das konnte ich.
Ludger, mein einziger Freund hier, hatte mir ein Glas Whiskey in die Hand gedrückt.
Ihn mochten alle.
Er hatte aus beiden Welten etwas. Geld von seinen Eltern, und das Talent zu unglaublich skurrilen Kurzfilmen.
Sein eigentliches Steckenpferd aber, waren Scheidungen.
Manchmal packte er sein 16mm Arriflex ein, fuhr zum Rathaus, und filmte heimlich frisch getrennte Ehepaare.
„Trauungen kann jeder“, hatte er mir mal gesagt. „Aber, das wahre Geheimnis liegt in den Gesichtern von geschiedenen Leuten.“
Wie zum Beispiel in jenem von der Frau, mit der ich mich nun geraume Zeit unterhielt.
Da war ein Trennungsstrich als Lidschatten getarnt unter ihren Brauen. Ich mag Frauen, die etwas verloren haben, an denen ein Makel ist, der nichts mit Schönheit zu tun hat.
Denn schön war sie.
Möglicherweise Anfang vierzig. Sinnlicher Mund. Gepflegte Fingernägel. Voller Busen.
„Sie sind also Levi, der Dichter!“, sagte sie, als sich unsere Blicke zufällig berührt hatten.
Ich nickte.
„Sind sie Jude.“
Ich lächelte. Zuckte mit den Achseln.
„Nobody is perfect“, entgegnete ich. „ Mein Evangelium ist die Lyrik.“
„Und das macht die Seele heil?“
„Verzeihen sie,“ ignorierte ich ihre Frage, “ich habe ihren Namen nicht verstanden. Wie lautete er noch gleich?“
„Katharina.“
„Katharina. Das ist bemerkenswert. Sie kennen die Bedeutung ihres Namens?“
Sie schüttelte mit dem Kopf.
„Nun“, sagte ich, „es gibt Menschen, die können aus Händen lesen. Ich kann aus Namen lesen.“
„Seien sie vorsichtig Levi. Frauen sind komplizierte Wesen. Sie verbringen stundenlang vor dem Spiegel um ein Geheimnis zu bewahren. Also überschätzen sie nicht meine Gutmütigkeit.“
„Ihr Name kommt aus dem altgriechischen. Katharsis. Die Reinigung. In den griechischen Tragödien ist sie der Höhepunkt in der Dramaturgie. Die Katharsis führt die Helden zusammen.
Setzt sie einander aus und führt, wie so oft, durch den Tod, die Einzelteile zu etwas Vollkommenen zusammen. Der Chor sinkt. Applaus. Das Stück ist aus.“
„ Also bin ich die Reine?“
„ Oder die zu Reinigende. Das Altgriechische ist hier flexibel.“
„ Wirklich interessant.“
„Nicht zu vergessen. Die Glaubensgemeinschaft der Katharer. In der Zeit, die wir das dunkle Mittelalter nennen, versammelten sich unter diesem Namen viele von der Mutter Kirche enttäuschten. Sie predigten den Dualismus. Die Unvereinbarkeit von Fleisch und Seele. Nannten sich selbst boni homini, die guten Menschen.“
War Katharina noch bei mir? Wurde es ihr langweilig?
„ Nun ja, genug geredet. Nur eins noch. Sie endeten alle auf dem Scheiterhaufen.
Als Ketzer. Ketzer , Katharer, Katharina. Alles ein und dasselbe Wort“
„ Und Levi, was denken sie. Was von alledem bin ich?“
Ich lachte.
„Mein Gott, Katharina. Sie sind eine Frau. Sie sind etwas von Allem!“
Ich weiß nicht wie. Aber mittlerweile standen wir auf der Terrasse. Es hatte angefangen zu regnen. Es war kalt und ich hatte meinen Arm um Katharinas Schulter gelegt.
Einen Moment lang schien es ihr zu gefallen.
Aber etwas in ihr wurde plötzlich ernst.
„Und was machen sie eigentlich beruflich?“
Da war sie dann doch. Diese Frage:
Ihre Sympathiewerte sanken in den Keller.
Was machen sie beruflich?
Hat jemand schon einmal einen Schornsteinfeger gefragt, was er beruflich mache?
Einen Zahnarzt? Oder einen Bestatter?
Nein.
Ich hätte vor Wut kotzen können.
Ich bin Dichter, schrie eine Stimme in mir. Also dichte ich. Aus Berufung.
Wenn sie wissen wollte, womit ich mein Geld verdiene, warum fragt sie es nicht direkt.
Dazu diese unterschwellige Unterstellung, man könne mit Gedichten kein Geld verdienen.
Und natürlich mein Wissen und ihr Wissen, das dem so ist.
Eine völlig überflüssige Frage also.
Jetzt half nur noch mein Freund Johnnie Walker. Ich tat einen tiefen Zug.
Es dauerte nicht mehr lang, da hatte der Whiskey sein Ziel erreicht. Ein Schalter, den ich nüchtern in meinem Kopf nicht erreichen konnte, legte sich wie von Geisterhand um.
Die Welt wurde lustig. Die Menschen um mich herum waren alle nett.
Selbst ich vergaß meine Ängste.
Ludger war wieder an meiner Seite.
„ Der Oswald gibt ne Runde Pot aus. In seinem Schamanenhäuschen im Garten. Wie sieht’s aus? Lust auf bunte Bilder im Kopf. Der Stoff vom Oswald ist Weltklasse.“
Ich stiefelte Ludger hinterher.
„Hör mal“, fragte ich ihn, „Wer ist eigentlich die Lady mit der ich mich unterhalten habe?“
„Welche Lady?“
„Gutaussehende Frau. Um die vierzig. Hört auf den Namen Katharina. Ich glaube sie ist geschieden.“
Ludger lachte.
„ Ich liebe geschiedene Leute.“
Er hatte sich auf der Terrasse umgedreht, wankte dabei ein wenig, und stierte in das Atelier hinein.
„ Ich sehe niemanden auf den deine Beschreibung passt. Ach, Scheiß drauf, lass uns mächtig eine dampfen und ein bisschen mit Oswald musizieren.“
„Vielleicht ist sie auf der Toilette.“
Ludger rollte mit den Augen und legte einen Arm auf meine Schulter.
„Hat der feine Herr Dichter wohl eine Muse gefunden, was?“
„Leck mich. Los gehen wir los und tauschen diese Realität gegen eine Andere ein.“
Im Schamanenhäuschen saßen sechs Leute. Oswald hatte eine Pfeife gestopft und lies sie herum gehen. Ludger und ich zwängten uns dazwischen, warteten bis die Pfeife wieder bei uns angekommen war und nahmen tiefe Züge.
Es dauerte nur einen winzigen Moment, dann wurde meine Zunge trocken und mein Rückenmark fühlte sich an, als hätte es einen sanften Stromschlag bekommen.
„Und jetzt machen wir Musik“, rief Oswald.
Er stand auf, torkelte zu einem kleinen Schrank, kramte einen Moment lang, drehte sich dann wieder um, und gab jedem ein afrikanisches Holzinstrument.
Ich bekam eine Kokosnuss am Stiel, gefüllt mit Reiskörnern.
„ Ich werde heute singen.“
Oswald war aufgestanden, stellte sich in unsere Mitte, die Pfeife mit Pot, wie ein Matrose lose im Mundwinkel, und fing an zu summen.
Dann formten seine Lippe Klänge, die etwas von Babysprache hatten. Von bekifften Babys.
Ich begann dazu zu rasseln. Ludger quälte eine Flöte. Was die anderen im Einzelnen für Musikinstrumente malträtierten ist in dem Lärm, der nun entstand, untergegangen.
Es war schrecklich. Irgendwann begann Oswald wie ein Derwisch an zu tanzen. Wir alle grölten mittlerweile in dieser bekifften Babysprache.
Ich glaube in diesem Moment waren wir alle glücklich. Glücklich und unschuldig.
Unschuldig, wie es nur Kinder, Tiere oder Betrunkene sein können.