Ein ganz besonderer Apfel

Raniero

Textablader
Ein ganz besonderer Apfel

Markt und Straßen waren zwar noch nicht ganz verlassen, doch es weihnachtete schon sehr, als Regine und Wolfram Lockerhoff, das kinderlose Ehepaar Mitte dreißig, bepackt wie die Maulesel, am heiligen Abend gegen dreizehn Uhr von den letzten Einkäufen in ihre Wohnung zurückkehrten.
Bei diesen Einkäufen handelte es sich zum großen Teil um Delikatessen und andere Kleinigkeiten für die Festtage, die das vollzeitbeschäftigte Ehepaar quasi in letzter Minute erstanden hatte.
Hierfür hatten die beiden es auf Regines Drängen in Kauf genommen, die übervölkerte City aufzusuchen, denn in den anderen Stadtvierteln hätten sie um diese Uhrzeit am vierundzwanzigsten Dezember keine Chance mehr gehabt.

Während Regine die Lebensmittel auspackte, machte Wolfram sich daran, den Weihnachtsbaum zu schmücken, als er plötzlich einen gellenden Schrei vernahm.
Besorgt eilte er in die Küche.
„Was ist denn los, Schatz?“

Regine wies auf den Küchentisch, auf dem sie fein säuberlich die frischen Lebensmittel ausgebreitet hatte.
„Wir haben was vergessen, Wolfram. Etwas sehr wichtiges“, sagte sie.
„Und deshalb schreist du so, Regine?“ zeigte sich ihr Mann irritiert. „Was sollen wir denn vergessen haben, was so wichtig ist?“
„Die Äpfel“, antwortete die Frau, „wir haben die Äpfel vergessen.“
„Welche Äpfel, Regine. Da liegen doch Äpfel, eine ganze Tüte voll, marktfrisch. Ich weiß nicht, was du willst.“
„Das verstehst du nicht, Schatz. Es handelt sich um eine ganz spezielle Sorte Äpfel. Wir haben sie glatt vergessen. Mein Gott, wo habe ich nur meinen Kopf gehabt, heute morgen. Das kommt davon, wenn man auf den letzten Drücker einkaufen geht.“
„So so, auf den letzten Drücker“, gab Wolfram bissig zurück, „von wem kam denn wohl der Vorschlag?“
„Ist ja gut“, erwiderte Regine, die sich von ihrem Schock erholt hatte, „meckern nutzt jetzt auch nichts. Du musst schnell noch mal los, Wolfram. Du kriegst die Äpfel beim gleichen türkischen Feinkosthändler, bei dem wir vorhin die anderen Lebensmittel gekauft haben. Es sind Mutters Lieblingsäpfel, beeil' dich bitte.“

'Mutters Lieblingsäpfel', dachte Wolfram und verdrehte die Augen.
„Ich fahr doch jetzt nicht noch mal in die Stadt zurück“, protestierte er, „nur für ein paar Äpfel, die du vergessen hast. Ich hab bei Gott noch anderes zu tun. Der Baum, der Schmuck, die Kerzen. Außerdem muss ich nachher auch noch deine Mutter abholen, wann soll ich das alles schaffen?“
„Ich habe auch genug zu tun, bis heute Abend, um mit allem fertig zu werden“, wies Regine auf den Küchentisch.
„Und ich hab keine Lust, jetzt noch mal in die Stadt zu fahren, verdammt noch mal“, schrie ihr Mann.
„Dann gibt’s eben kein Weihnachten dieses Jahr“, antwortete Regine, den Tränen nah.
Wolfram lenkte ein.
„Mein Gott, Schatz, nun mach doch nicht so ein Gesicht, verdammt noch mal, ich fahr ja schon. Wie heißt die Apfelsorte? Wie viele soll ich holen?“
„Der Apfel heißt Granatapfel; es ist eine ganz bestimmte Sorte, Granatapfel, kannst du dir das merken? Sonst schreib es dir auf.“
„Granatapfel, okay. Wie viele? Ein Kilo, zwei, oder mehr?“
„Um Gottes Willen, nein, doch keine zwei Kilo. Eigentlich brauch ich nur einen.“
„Wie bitte? Ich hör wohl nicht recht? Nur einen Apfel?“
„Ja, Schatz, ich brauch nur einen Apfel, zuerst als Dekoration, später vielleicht als Nachtisch. Fahr bitte sofort los.“

Wolfram Lockerhoff verdrehte erneut die Augen.
„Du jagst mich in die Stadt“, fluchte er, „um diese Zeit, am Heiligen Abend, um einen Apfel zu kaufen. Ja, bist du denn noch zu retten?“
„Schatz“, flehte seine Frau, wiederum den Tränen nah, „tu es für mich, und tu es für meine Mutter, bitte.“

„Weiber!“ brüllte Wolfram.
Fluchend verließ er die Küche, schnappte sich die Autoschlüssel und stürmte aus der Wohnung.
„Einen Granatapfel, Schatz“, rief seine Frau ihm schluchzend hinterher, „bitte, einen Granatapfel, Schatz, hörst du?“
Schatz hörte nicht mehr hin, sondern verfluchte lautstark das Sakrament der Ehe.

Wütend warf er sich draußen in den Wagen und schoss los wie eine Granate, auf der Jagd nach dem letzten Granatapfel, der vor Weihnachten noch aufzutreiben war. Mit quietschenden Bremsen hielt er vor dem Einkaufszentrum mitten in der City, rannte wie ein Verrückter durch die gesamte Eingangshalle auf das Ladenlokal des Feinkosthändlers, der gerade im Begriff war, die Jalousien herunter zu lassen, zu. Der Mann zeigte sich nicht wenig erstaunt, als er Wolfram im Laufschritt heran eilen sah.
„Nanu, Herr Lockerhoff, ich dachte, Sie säßen bereits unterm Tannenbaum. Noch was vergessen?“
„Gott sei Dank“, rief Wolfram erleichtert, „dass Sie noch da sind. Ich brauche noch einen Apfel, Herr Öskurt.“
„Einen nur! Und dafür kommen Sie im Laufschritt zu mir gerannt. Um diese Zeit?“ „Ja, wissen Sie, die Frauen“, erwiderte Wolfram gequält und berichtete dem Händler kurz, was er nicht alles für seine Frau und deren Mutter, diese arme Witwe, die mit ihnen die Festtage verbringen würde, tat, nur um den Weihnachtsfrieden zu erhalten.
„Na, dann wollen wir mal sehen“, hatte der Händler vollstes Verständnis.


Die Suche nach dem einen Granatapfel gestaltete sich schwieriger, als gedacht.
Da Herr Öskurt die meisten Waren über die Feiertage im angrenzenden Kühllager verstaut hatte, musste er sich regelrecht einen Weg bahnen. Zum Glück wurde er nach einiger Zeit fündig.
„Ich hab' ihn, Herr Lockerhoff! Der letzte Granatapfel.“
„Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Herr Öskurt“, fiel Wolfram dem Händler fast in die Arme, „Sie haben mir das Weihnachtsfest gerettet.“
„Na, dann mal frohe Weihnacht, Herr Lockerhoff“, lachte der Retter.
„Ihnen auch, Herr Öskurt, Ihnen und Ihrer ganzen Familie. Und vielen Dank noch einmal!“

Wie ein Juwel umklammerte Wolfram den Granatapfel, steckte ihn in die Manteltasche und eilte mit Riesenschritten aus dem Einkaufszentrum, um gerade noch rechtzeitig die Rücklichter seines eigenen Autos zu sehen, im Schlepptau eines großen Wagens einer Abschleppfirma.
Die freundliche Politesse, die gerade einem anderen Wagen ein Protokoll verpasste, teilte Wolfram kurz mit, wo er sein Auto nach den Feiertagen einlösen könne und wünschte ihm ein frohes Weihnachtsfest.
Wolfram erwiderte diesen Wunsch nicht.

'Auch das noch!' dachte er voller Wut. 'Alles das wegen eines einzigen verdammten Apfels.'
Voller Wut zog er den Granatapfel aus der Tasche; am liebsten hätte er ihn durch die Luft geschleudert, direkt an den Kopf der Politesse.
Mit letzter Kraft konnte er sich beherrschen, voller Resignation steckte er die 'Granate' wieder in die Manteltasche.
Verzweifelt blickte er auf die Uhr.
Fuhren jetzt überhaupt noch Busse, am Heiligen Abend?
Ein Taxi wollte er nicht nehmen, ihm reichten schon die Abschleppkosten, die da auf ihn zukamen.
Mit Mühe und Not erwischte er den letzten Bus nach Hause.


Während der längeren Fahrt kam ihm unwillkürlich die Episode von Adam und Eva in den Sinn.
Waren die beiden nicht aus dem Paradies rausgeschmissen worden, nur, weil diese erste Frau der Geschichte, die sich nicht beherrschen konnte, ihren Mann mit einem Apfel - war es nicht sogar ein Granatapfel - verführt hatte.
Wolfram war drauf und dran, das verhasste Obststück aus dem Busfenster zu werfen, zum Glück ließ sich dieses nicht öffnen.

Endlich zuhause eingetroffen, schlich Wolfram gleich in Richtung gute Stube, an Regine vorbei, die in der Küche hantierte; er wusste noch nicht so recht, wie er ihr beibringen würde, dass sie über Weihnachten kein Auto hätten.


Als er die Wohnzimmertür öffnete, traf ihn fast der Schlag.
Mitten auf dem festlich geschmückten Tisch stach ihm auf einer Schale ein leuchtend roter Granatapfel ins Auge, schöner noch als der, den er gerade unter so qualvollen Umständen erstanden hatte.

„Regine“, brüllte er wie von Sinnen, „was ist das? Wo kommt dieser Apfel her.“

„Ach, Schatz, du bist schon da? Was schreist du denn so? Ich hatte Glück gehabt, als ich in den Keller ging, habe ich im Hausflur unsere Nachbarin, die alte Frau Schmitz, getroffen. Und zufällig, wie das so ist, erzählte ich ihr beiläufig, dass wir den Granatapfel vergessen hatten.
Stell dir vor, sie war heute morgen schon ganz früh auf dem Markt. Sie hat sogar zwei Granatäpfel gekauft, einen in Reserve, den hat sie mir gleich mitgegeben. Schade, du warst schon weg, ich wollte dich noch anrufen, aber du hattest ja dein Handy ausgestellt, wie immer.“

Die letzten Worte hörte Wolfram nicht mehr.
Wie ein Besessener zog er den Apfel aus der Tasche, seinen Granatapfel, trat ans Fenster und warf ihn im hohen Bogen hinaus, aus dem zweiten Stock.

Regine wurde weiß wie Schnee.
„Bist du verrückt geworden. Warum schmeißt du denn den Apfel aus dem Fenster, am Heiligen Abend?“
Weinend warf sie sich in einen Sessel.
„Du Scheusal? Was hab' ich bloß für einen Mann geheiratet, der zu Weihnachten Äpfel aus dem Fenster schmeißt?“
„Weißt du“, brüllte Wolfram zurück, „was mich dein Gra nat apf el“, betonte er jede Silbe, „dein Gra nat apf el gekostet hat? Dieser verfluchte Apfel?“

In drohender Haltung näherte er sich dem Tisch, auf dem ihm der frische Apfel der Nachbarin entgegen leuchtete, in saftigem Rot.
„Das wagst du nicht; Wolfram!“ schrie Regine. „Ich lass mich scheiden! Noch heute!“
Ungerührt nahm ihr Mann den schönen Apfel in die Hand und betrachtete ihn von allen Seiten.
Das Fenster stand noch offen.

Bevor Regine, die wie von der Tarantel gestochen aus dem Sessel hochgefahren war, das Fenster schließen konnte, schritt Wolfram zur Tat, grausam und unerbittlich.
Mit aller Kraft biss er in den Granatapfel und legte ihn anschließend zufrieden lächelnd wieder in die Schale zurück.
„Da hast du deinen Apfel,“ rief er ihr zu, „übrigens, frohe Weihnachten.“

Voller Entsetzen warf sich Regine erneut in den Sessel, um sofort wieder hochzufahren.
„Das glaub ich jetzt nicht!“ schrie sie. „Gib mir sofort den Autoschlüssel. Ich fahr zu meiner Mutter. Mit dir feier' ich kein Weihnachten mehr.“

Tja, der Autoschlüssel.
Siedend heiß fiel Wolfram ein, dass es ja noch etwas zu beichten gab.
Dass sie nun über Weihnachten ohne Auto da standen, war nun absolut nicht Regines Schuld, Granatapfel hin, Granatapfel her.
Schwer atmend ließ er sich nun in einen Sessel fallen.
„Regine, Schatz, hör mal; es gibt keinen Autoschlüssel, zumindest im Moment nicht.“
Kleinlaut berichtete er ihr von den ganz besonderen Umständen beim Erwerb des letzten Granatapfels vor Weihnachten.
Regine hörte mit offenem Mund zu; nach und nach legte sich ihre Wut und zum Schluss gelang ihr sogar ein Lächeln.
„Das heißt, wir haben jetzt kein Auto, über die Feiertage“, stellte sie fest. „Na, ja, es hätte auch schlimmer kommen können. Außerdem“, wies sie auf den angebissenen Apfel, „wir haben ja jetzt alles, was wir brauchen, für Weihnachten.“
Beide mussten laut loslachen.

„Und Mutter“, fragte Wolfram, „wie kommt die jetzt zu uns?“
„Ruf sie an und sag' ihr, dass unser Auto einen Defekt hatte und in der Werkstatt ist, Schatz. Wir werden ihr später ein Taxi bestellen. Nach Weihnachten löst du dann den Wagen aus und bringst Mutter nach Haus, wie immer. Ich schau in der Zwischenzeit mal, was ich von dem Apfel der Nachbarin noch retten kann.“

Es wurde noch ein schönes Weihnachtsfest, trotz allem.
Die Mutter wunderte sich zwar, dass die diesjährige Granatapfeldekoration ein wenig anders ausfiel, als früher.
„Mutter, die Äpfel sind auch nicht mehr, was sie früher waren,“ erklärte Regine, „ich musste ein ganzes Stück raus schneiden; was will man machen, man kann ja schließlich nicht rein gucken, in den Apfel.“


Abends, im Ehebett, die Mutter war schon früher schlafen gegangen, fühlte sich Regine rundum glücklich.
„Ist ja noch alles gut gegangen, wie jedes Mal. Und weißt du, wer uns gerettet hat?“
„Nee.“
„Na, die alte Frau Schmitz, mit ihrem Reserveapfel; gut, dass es solche Nachbarn gibt.“

„Da hast du recht, Schatz, die alte Frau Schmitz“, lächelte Wolfram und stimmte mitten in der Heiligen Nacht im ehelichen Lager ein Karnevalslied an:

„Mer schenke dä Ahl en paar Blömscher e paar Blömscher für ihr Finsterbrett.
Mer schenke ihr e paar Blömscher, denn die ahl Frau Schmitz, die es esu nett.“

Weil Wolfram aber so schön gesungen hatte, in der Heiligen Nacht, konnte Regine nicht umhin, ihn anschließend in einer derart lieben Weise zu belohnen, dass sie zum nächsten Weihnachtsfest wohl nicht mehr kinderlos sein werden.

Wolfram aber hatte noch vor der Bescherung hinter Regines Rücken einen Einkaufszettel gefertigt, für das nächste Jahr Weihnachten, da stand allerdings noch nicht viel drauf; eigentlich waren es nur drei Worte mit drei Ausrufungszeichen, und diese Worte lauteten:

An Granatäpfel denken!!!
 



 
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