Ein ganz normaler Abend im Literaturclub

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Steven Omen

Mitglied
Paolo, mittleren Alters und Größe, mit kurzem schwarzen Haar, sehr gepflegt und Leiter des Literaturclubs in Haidhausen, schlenderte durch die Bierstraße. Seine markant-baskische Nase unterstrich sein energisches Wesen. Die Bierstraße war eine besondere Straße. Im Herzen Haidhausens gelegen, beginnend mit einem irischen Pub, kurz und noch mit pittoresken Katzenköpfen versehen, gesäumt mit Schatten spendenden Kastanienbäumen, war sie eine der schönsten Straßen Münchens. Autos fuhren nur selten durch, oft aber Fahrradfahrer. Die Häuser waren durchgehend Altbau, vierstöckig, die Fassaden neu renoviert in blass gelblichen Farbtönen, die Dächer in fuchsroten Tönen gehalten. In den unteren Etagen hatten sich viele kleine Läden oder Künstlerwerkstätten etabliert. Eine davon war der „Club“, wie ihn Alle nur nannten. Ein Anlaufpunkt in München für Literaturinteressierte und solche, die es werden wollen. Viele hoffnungsvolle Karrieren begannen hier oder scheiterten, bevor sie überhaupt begonnen hatten... Paolo war mit einer Türkin verheiratet. Keine einfache Liaison in Zeiten von Minarettverbot und der brennenden zwei Türme. Der Literaturclub war von außen unscheinbar. Während der Woche wurde er von einer Malerin als Atelier und Ausstellungsraum genutzt. An der Wand hingen Bilder der Malerin, die Meisten mit Landschaften aus der Toskana. An jedem Freitag um Punkt 19 Uhr erwachte der Literaturclub zum Leben. Dann verwandelte sich das Atelier der Malerin in einen Ort, an dem das gesprochene Wort im Mittelpunkt stand. Es war der erste Freitag im Oktober, also gab es einen offenen Abend. An diesem besonderen Abend lasen sechs Autoren Texte mit höchstens zehn Minuten Länge. Dazwischen wurden die Texte diskutiert und am Ende stimmte das Publikum per Zettel ab, wer der glückliche Sieger ist. Es nieselte und die Wetterprognose war für das gesamte Wochenende schlecht. Ein guter Abend also, um sich die Zeit mit Literatur zu vertreiben. Paolo betrat den Club zuerst, denn er hatte Dienst heute Abend. Dies beinhaltete den Ausschank der Getränke, erste Anlaufstelle für Neulinge zu sein, Interessierte auf den Lesekalender hinzuweisen, in den man sich eintragen konnte, wenn man einen halben oder ganzen Abend lesen wollte; kurzum, heute war Paolo die Mutter der Kompanie. Nicht zu vergessen würde Paolo später die Auslosung der Vorlesenden vornehmen und die ganze Lesung moderieren. Nachdem er die Glastür aufgeschlossen und die Klappstühle aufgestellt hatte, alle akribisch in Reihen nebeneinander, trudelten langsam die ersten Literaten ein. Helga kam eigentlich immer, blieb aber meistens nur bis zur Hälfte. Sie war mit einem Bildhauer verheiratet und lebte teilweise in Südtirol. Kurzes graues Haar, lustige Stirnfalten und Altersflecken auf ihren Händen deuteten auf ihr betagtes Alter hin. Jean, der gefürchtete Kritiker mit der Hornbrille, bestellte sich, als er eintrat, sogleich ein Bier. Augustiner natürlich, das Beste Bier Münchens. „Ja, Servus Silke“, bist du auch mal wieder da“´, begrüßte er sie. Sein schwäbischer Akzent, die laute Stimme, gemischt mit einem abgeschlossenen Germanistikstudium, das er aber mit einem Job als Steuerberater vergeudete, bildeten gefährliche Waffen bei schlechten Texten. „Ja, ich habe mal wieder Lust auf schlechte Literatur.“ Silke,30 Jahre alt, langes braunes Haar, war etwas mollig aber eine Seele von einem Menschen. Immer lustig und zu einem Witz aufgelegt. Dazu passte auch die rosa Brille. Hans, auch ein treuer Stammbesucher des Clubs, unterhielt sich mit Sofia, eine ältere Matrone, über die letzte Sendung von Michael Skasa auf Bayern 2. „Unglaublich, die haben meinen Text vorgelesen und noch nichts überwiesen“, beklagte er sich. „Schick ihm eine Email, war bestimmt ein Versehen oder das Geld wird demnächst überwiesen.“ Die Meisten kamen regelmäßig und kannten sich mehr oder weniger gut. Viele lasen auch regelmäßig im Club. Natürlich kamen immer wieder Neue hinzu, aber sie blieben nur schmückendes Beiwerk. Es ging Richtung 19 Uhr 30. Paolo bat die Raucher, die draußen auf der Straße standen, doch bitte hereinzukommen, damit es los gehen könne. Da bog um die Ecke eine Gestalt, schwarz gekleidet, mit einer Baskenmütze, blitzenden türkisblauen Augen und – man wollte es nicht glauben- mit einer schwarzen Katze auf dem Arm. Seine blankpolierten schwarzen Schuhe klackerten auf dem nassen Bürgersteig. „Ist das hier der Literaturclub?“, fragte er Paolo. „Ja, kommen sie doch herein, wollen sie heute Abend lesen? Ich hoffe die Katze kratzt nicht?“ „Nein, Nein, sie ist ganz zahm, da kann ich sie beruhigen, ein wahres Schmusekätzchen. Gerne würde ich noch lesen, wenn es noch möglich ist. Ich bin nur auf der Durchreise und habe nur durch Zufall von diesem Club erfahren, wissen sie.“ „Gewiss, es haben sich bisher erst Fünf angemeldet, mit Ihnen wären wir Sechs.
Majestätisch schritt Paolo auf das Podest und räusperte sich theatralisch. Die Ge-spräche verstummten und er erklärte das Prozedere. Dann zog er die Namen aus einer Schachtel und schrieb sie auf eine Tafel. Als erstes wurde Karl gezogen. Auch er war ein langjähriger Stammgast im Club, beteiligte sich aber nie an den Diskussionen und war eine ruhige Natur. Er stieg die Treppe zum Podest hinauf, setzte sich, nahm ein Schluck Wasser und begann zu lesen:
"Ich spring jetzt. Ist schon spät heute", sagte ich zu meinen Kollegen und verließ das Büro. Es war wieder ein arbeitsreicher Tag gewesen und ich freute mich auf den Feierabend. Ein Sturm tobte schon den ganzen Tag. Blätter, Äste und Papierschnipsel wirbelten durch die Luft. Ich näherte mich einer Baustelle. Mein Gott, wie lange würde das mit der Renovierung dieses Hauses noch gehen?, fragte ich mich, als ich das Baugerüst unterquerte. Da passierte es. Der Ziegelstein, der für mich bestimmt war, war bereits unterwegs. Er traf mich auf eine Art und Weise, die keine Fragen offen ließ. Ein Schweben setzte ein. He, dachte ich, was ist denn das? Bin das ich, da unten? Ja, tatsächlich, ich konnte von oben auf mich hinuntersehen wie ich da lag und der Ziegelstein neben mir.
Ich stieg immer höher und konnte bald die Straßenzüge erkennen. Es machte mir immer mehr Spaß, zu fliegen. Auf einer Wolke saß Aloisius. Er grüßte mich gries-grämig, während er „Halluluja, Himmi Hergott, Erdäppfi, Saggerament, luuuja“, froh-lockte . Bald erkannte ich Kontinente und schließlich die ganze Erde. Sie sah aus wie eine weiß-blaue Murmel. Ich klopfte ans Fenster der internationalen Raumstation. Ein Astronaut sah heraus. Er zeigte mir einen Vogel. Dann schaute ich durchs Hubble-Teleskop, um mich zu orientieren. Der Mond lockte mich. Ich flog hin und schrieb in den Mondstaub „Ich war hier“. Auf der Mondbasis Alpha 1 unterhielt ich mich mit Commander John Koenig über Dimensionssprünge. Danach klaute ich die amerikanische Flagge und nahm sie mit auf den Mars. Dann flog ich zur Sonne. Verdammt, ich hatte das Sonnenöl zu Hause gelassen. Doch bald wurde es kälter. Beim Vorbeiflug grüßte ich Fred vom Jupiter. Ich beschleunigte und zog links blinkend am Raumschiff Enterprise vorbei, mir das lange Gesicht des Captain Kirk vorstellend und das von Herrn Spock, mit dem mich eine innige Abneigung verband. Mein Flug dauerte lange. Vor Langeweile zählte ich bis zur Unendlichkeit – Zwei Mal. Dann überlegte ich so lange, bis mir die letzte Ziffer von Pi einfiel. Zum Glück begleitete mich eine Zeit lang Barbarella. Auf Krypton holte ich mir neue Kräfte. Kurz vor dem Kampfstern Galactica bog ich rechts ab, vorbei am Planeten Melmac, hielt mich dann links, passierte E.T.`s Heimatplaneten, durchquerte einen Asteroidengürtel, aus dem mich glücklicherweise Perry Rhodan wieder herauslotste und traf Mork auf Ork. Auf Elektron übernachtete ich in Trigans Palast. Flash Gordon hatte leider keine Zeit für mich, da er gemeinsam mit Buck Rogers ein Techtelmechtel mit Imperator Ming hatte. Aliens Heimatplaneten umflog ich vorsichtshalber weitläufig. Die Raumpatrouille Orion brachte mich wieder auf den richtigen Weg. Nebenbei rettete ich Prinzessin Leia aus Darth Vaders Fängen und übergab sie dem glücklichen Luke Skywalker. Auf dem Planet der Affen taten mir die Menschen schon ein wenig leid. Wieder auf Kurs, konnte ich nur mit Mühe dem Computer HAL ausweichen, der mal wieder sein Raumschiff per Countdown zerstören wollte. Auf dem niedlichen Planeten des kleinen Prinzen ruhte ich mich aus und diskutiert mit ihm die Frage, ob man vor einem Hut Angst haben soll. Schließlich sah ich einen wunderbaren Planeten. Er war faszinierend. Ich landete und traf auf einen glücklichen in weiß gewandeten Menschen. „Wo bin ich hier?“, fragte ich ihn. „Dieser Ort hat keinen Namen. Wir nennen ihn aber Paradies.“
„"'Bin ich tot? Bist du der Petrus?' Der Mann mußte Petrus sein. Das konnte gar nicht anders sein bei diesem Bart und dem Schlüsselbund. „Ja, so ist es.“ „Ist es hier, wo ich meine Jungfrauen bekomme?“ 'Nein', sagte Petrus, 'Jungfrauen nur für Muslime. Und auch nur, wenn sie ihre Gebete brav aufgesagt haben. „Und was macht man so hier den ganzen Tag?“ „Du kannst tun und lassen was du willst.“ „Und wenn ich Böses tun will?“ „Dafür haben wir auch eine Abteilung, die ist aber ein paar Etagen tiefer und da ist es deutlich wärmer.“ Ich verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und überlegte. „Hm, was wollte ich schon immer mal tun? Ich habs! Ich wollte schon immer ein berühmter Schriftsteller werden und einen herzzerreißenden Liebesroman schreiben.
So kehrte ich auf die Erde zurück, mietete mir in Paris im Quartier Latin ein Pent-house und machte eine Collage aus „Casablanca“, „Der Meister und Margerita“ so-wie „Vom Winde verweht“. Ich aktualisierte das Personal, erstellte ein hübsches Cluster und schrieb das Manuskript innerhalb ein paar Wochen druckfertig. Dieses sandte ich dem Verlag der auch Harry Potter herausbrachte zu. Nach kurzer Zeit kam der positive Bescheid. Mein Liebesroman mit dem Titel „Der Wind aus Casab-lanca weht heiß“ wurde innerhalb kurzer Zeit ein Weltbestseller und verkaufte sich in 188 Länder. Nach unzähligen Lesungen in ausverkauften Hallen, TV-Auftritten, Filmverfilmungen aller 12 noch erfolgreicheren Nachfolgebände und schlussendlich dem Literaturnobelpreis, wurde mir die Sache langweilig und ich setzte meinem Literatenleben durch einen spektakulären Sturz vom Eiffelturm ein Ende.
Nun packte mich der wissenschaftliche Ehrgeiz. Ich schrieb mich an der University of Massachusetts ein, Amherst, Astrophysik. Nach ein paar Jahren war ich Professor. So bekam ich Zugang zum Hubble-Teleskop und verbesserte durch meine bahnbrechenden Ideen die Leistung des Teleskops um den Faktor 103. Ich entdeckte unbekannte Galaxien und Weltraumphänomene. Dazu zählten „Die heliotischen Bollwerke“, „Die Negashäre“ und „Die große Leere“. Nebenbei vereinigte ich die allgemeine Relativitätstheorie mit der Quantengravitation und wies mit einer kinderleichten Formel nach, dass das Universum ein Ellipsoid ist. Bis auf die Hundertstel berechnete ich die Zeit vom Urknall bis Jetzt. Nach dem wohlverdienten Nobelpreis wurde mir auch diese Disziplin langweilig.
Ich bekam eine Sinnkrise. Da kam mir die Erleuchtung! Warum nicht eine Religion gründen? Gesagt, getan. In Indien sammelte ich meine 12 Jünger durch billige Ta-schenspielertricks, wobei ich auch Frauen aufnahm. Warum es immer 12 sein müssen, wusste ich auch nicht. Ist eben so. Ich mischte alle Weltreligionen durcheinander, fügte als Funfaktor noch ein wenig Baghwan hinzu und fertig war meine neue Religion. Meine Jünger hingen mir an den Lippen, als ich Ihnen meine heiligen Gebote predigte, z.B. „Du sollst zwei Stunden Mittagsschlaf halten“ oder „Du sollst morgens mit dem linken Fuß aufstehen und abends mit dem rechten Fuß zu Bett gehen“. Stundenlang diskutierten wir, ob wir die „Volksfront von Dehli“ oder „Dehliansiche Volksfront“ heißen sollten und naschten nebenbei Otternasen. Unglücklicherweise wurde ich recht schnell wegen Terrorismusverdacht verhaftet und nach kurzem Prozess gehängt. Sie haben mich eben nicht erkannt, die Ungläubigen. Seit diesem Tag brachten die Jünger in ewiger Erinnerung auf ihren Gotteshäusern einen Galgen an. Rasch verbreitete sich die Galgenreligion auf der ganzen Welt und ich kehrte erschöpft ins Paradies zurück. Petrus erwarte mich am Eingang. „Und was machst du jetzt?“ „Jetzt, Petrus“, antwortete ich geläutert, „möchte ich nur noch jeden Freitag ins Literaturbüro gehen, denn es ist der Himmel der Himmel.“
Wie immer las er zu monoton und mit einigen Verhasplern. Das Echo war geteilt. Knut, ein pensionierter Deutschlehrer, bemängelter mit nasaler Stimme die vielen Klischees. Überhaupt war sein Lieblingswort Klischee. Und überhaupt, der Still sei anfängerhaft, besonders zu Beginn. Knut konnte Karl nicht ausstehen. Immer wenn Karl etwas vorlas, bemäkelte und bekrittelte Knut seine Texte. Ein Anderer, Florian, der arbeitslose Schauspieler mit dem lustigen Ziegenbärtchen, meinte, dass das Ganze eine Allegorie auf die auch in der Antike dargestellte Reise der Seele von der Erde über dem Mond, der Sonne, bis zum Paradies sei. Insgesamt gab es doch ein positives Feedback und Paolo bat den Nächsten aufs Podest. Da öffnete sich die Tür und es ertönte ein Saxophon. Hugo, der Kaputte mit der immer gleichen braunen Lederjacke und der Schiebermütze nebst Sonnenbrille, spielte munter einen alten Schlager. Unter allgemeinen Gelächter wurde Hugo von Paolo energisch zurechtgewiesen , worauf dieser fluchend den Club wieder verlies. „Unerhört!, Banausen!“, hörte man noch, als die Tür krachend zufiel.
Nun las Helga. Mit ernster Stimme begann sie:
„Seit 1990 geht von deutschem Boden kein Frieden mehr aus. Der Krieg nach außen bedingt den Krieg im Inneren. Diese beiden Sätze können als Konzentrat politischer Erfahrungen der letzten 20 Jahre in der Bundesrepublik gelten. Die Durchsetzung der „Agenda 2010“ seit 2003 verlief vergleichsweise schüchtern verglichen mit dem Furor, mit dem seit einigen Monaten die Arrivierten dieses Landes und ihre Zeitgeist-besorger in den Medien auf „Modernisierungsversager“ verbal einschlagen. Die Zustimmung, die den Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin aus den Kreisen der Besserverdienden erreicht, deutet auf eine Verschiebung nach rechts im Selbstverständnis der Herrschenden, die ihren Ausdruck auch im Ergebnis der Bundestagswahlen gefunden hat: Jetzt wird nicht nur wie vor sechs Jahren Armut per Gesetz dekretiert, gleichzeitig aber abgestritten, dass es überhaupt um Senkung des Preises der Ware Arbeitskraft gehen könnte. Jetzt wird der „Erfolg der Arbeitsmarktreform“ gefeiert und dem „Prekariat“ das Zeugnis ausgestellt – es ist milieubedingt oder aus biologischen Gründen nicht zum sozialen Aufstieg befähigt. Der sozial-rassistische Dreck ältester konservativer und nazistischer Ideologie hat sich – mal wieder – in der sogenannten gesellschaftlichen Mitte breitgemacht. Wer „Leistungsträger“ ist, darf Milliarden Euro versenken, hat aber amtlichen Anspruch auf Millionen Euro „Bonus“. Wer Essensreste nicht wegwirft, sondern mit nach Hause nimmt, bekommt amtlich die Entlassung and als 59jährige wie im Fall der schwäbischen Maultaschen vermutlich nie wieder eine Stelle. Die sozialen Kontraste werden nach dem Geschmack besorgter Ideologen zu deutlich sichtbar, der Klassenkampf von oben wird etwas zu munter betrieben. Diese Auseinandersetzung ums richtige Kostüm ist nicht der wichtigste Gegenstand, wohl aber die Ideen der Herrschenden insgesamt. Zu ihnen gehört an erster Stelle, die soziale Frage nicht soziale Frage zu nennen und Klassenkampf zu betreiben, aber nicht den Gedanken an ihn aufkommen zu lassen.“
Es herrschte kurz Stille, dann fragte Hans, ob politische Texte überhaupt am offenen Abend zugelassen sind. „Natürlich, Alles kann vorgelesen werden, nur muss der Autor mit der anschließenden Kritik auch leben können“, erläuterte Paolo. Natürlich gab es Widerspruch. Wie nicht Anders zu erwarten aus der rechten Ecke. Alfred, aktives Mitglied der Republikaner, meinte, dies sei linke Propaganda, habe nichts mit der deutschen Realität zu tun und Alles sei völlig verzerrt dargestellt. Paolo unterbrach seinen Redeschwall mit der Bitte, sich doch mit dem Still, formalen Aufbau etc. und nicht mit dem Inhalt zu beschäftigen. Nachdem es keine Wortmeldungen mehr gab, rief Paolo Herrn Baal, so hieß der Unbekannte mit der Katze, auf das Podest. Langsam und bedächtig kam er hoch. Seine schwarzen Haare waren streng nach hinten gekämmt. Mit 60 Jahren wirkte er noch erstaunlich vital. Er setzte sich und mit seinen buschigen Augenbrauen fixierte er seinen Text. Die blauen Augen passten nicht zu seinem südländischen Aussehen. Nur seine auffällige Narbe an der linken Wange störte das perfekte Bild eines Bonvivants. „Meine Damen und Herren, ich will Ihnen heute Lyrik vortragen.“ „ Zwei mal vorlesen bitte, das ist bei uns so üblich“, bat Paolo. „Aber gerne“ Mit ruhiger, tiefer Stimme trug er vor:

Formentera, du Glückliche
So sich die Traumwesen zurückgezogen
In die Ewigkeit verdrängt
Löst sich das Sternenzelt auf
Unwirklich konturierte Farbigkeit
Die Wolken in den geschlossenen Augen
Verblassen im zunehmenden Licht
Ohne Erinnerung kehre ich zurück
Das Eiland räkelt und streckt sich
Grellbunte Erneuerung
Leuchtender Tag, unerschöpfliche Energie
Klarer Horizont
Sanfte Helligkeit, vertraute Farben und Düfte
Mit allen Sinnen erfahren
Mein Herz schwingt glückerfüllt
Freude, Zufriedenheit, Leben
Helle Wärme auf der Haut
Grobe Schönheit intensiver Existenz
Wohlige Milde, behagliche Schwere, Zikaden
Smaragdgrün, türkis, aquamarin und saphirblau
Rauscht das Meer am feingelben Strand
Die Götter der Meere fühlen
Sich in den Wind fallen lassen
Wolken, wie weiße Asche am Horizont
Gleichklang, Treiben in die Zeit
Allenthalben vollkommene Reinheit
Selbstverständliche, glückliche Zufriedenheit, Stille
Leichte Brise, lockende Müdigkeit
Rosenfarbiger Himmel
Über purpur und violett zu schwarz
In der Dämmerung zwischen Wach und Schlaf
Liegt das Traumland
Der Feuerball versinkt im flüssigen Gold
Und dunkelroter Glut im Meer
Der Sternendom erglimmt erst silbern und schwach
Dann wie goldener Staub in der Unendlichkeit

Jean unterbrach nach einigen Sekunden die Stille. „Irgendeine Mischung aus Wer-beprospekt und Kitsch“, fiel sein vernichtendes Urteil aus. „Wenn er wüsste, dass ich diese Verse mit Sappho auf Lesbos damals geschmiedet habe“, dachte sich Baal. Aber dies ist eine andere Geschichte. Silke gefiel das Gedicht besonders gut. Sie hing förmlich an seinen Lippen und saugte jedes Wort auf. Sie konnte sich nicht lösen von diesen Zeilen. Am liebsten hätte sie laut applaudiert und hurra geschrien. Zeilen wie „Denn wie goldener Staub in der Unendlichkeit“ ließen Seiten ihr schwingen, die sie lange nicht mehr empfunden hatte. Und außerdem: „Herr Ball ist ja eine prachtvolle Erscheinung. Wie er mich immer angeschaut hat beim Vorlesen. Mir war, als liest er das Gedicht nur für mich“, dachte sie sich. Franz, der immer den gleichen Pulli anhatte und skurrile Kommentare von sich gab, meinte: “Na, Neckermann Reisen abgeschrieben, hahaha, versuchens doch mal mit TUI, die sind noch billiger!“ Baal griff sich an seine Nase. „Ich glaube nicht, dass sie nach dieser Aussage nicht gut schlafen werden.“ „Wie soll ich denn das verstehen?“ „Sie werden es sehen, Herr..“ „Für sie Herr Risper, aber alle anderen nennen mich Franz, hohoho“ Pikiert stand Baal auf und verließ den Vorleseplatz, wobei er wie durch Zufall den Platz von Silke streifte und sie durchdringend anlächelte. Silke wurde rot, was ihr schon lange nicht mehr passiert war. „Sie ist es, sie passt genau rein, ja, sie mache ich verliebt“, dachte er sich als er sich hinsetzte. Paolo bat theatralisch um Ruhe und verkündete: „Pause, 15 Minuten!“ Die Raucher gingen vor die Tür, an der Theke im hinteren Raum des Clubs konnte man Wein oder Bier kaufen. Das Bier natürlich aus der Flasche. Schnell war der Raum erfüllt von Diskussionen über das bisher Vorgetragene, Ab und zu entspanntes Gelächter. „Herr Baal ist aber auch von ein seltsamer Vogel“, meinte Jean zu Silke. „Meinst du?“ „Oder hast du schon Jemand gesehen, der mit einer Katze auf dem Schoß hier vorträgt?“ „Nein, das nicht, aber auf mich macht er einen guten Eindruck. Das sind doch noch wenigstens Männer mit Profil.“ „Das Gedicht erinnert mich an irgend Etwas, ich werde es noch raus finden an was.“ „Ah, da kommt er ja, unser Katzenliebhaber“. Silke streichte sich verlegen eine Strähne aus ihrer Stirn. „Guten Abend, junge Frau, hat Ihnen die Lyrik gefallen?“, fragte Baal ohne Umschweife Silke. „Ja, ausnehmend. So gefühlvoll und mit Emotionen. Sie haben wirklich Talent. Haben Sie schon öfters vorgetragen?“ „Ja, das mache ich schon hin und wieder, wissen sie, was soll man denn machen, wenn man unendlich viel Zeit hat?“ „Unendlich?“, fragte Silke nach. „Sind wir nicht alle Staubkörner im Univer-sum?“, dozierte Baal weiter ohne die Frage zu beantworten, „haben wir nicht alle eine Bestimmung, wir sind nur ein Augenzwinkern im Vergleich zur Unendlichkeit der Zeit auf dieser Erde, kaum sind wir geboren, tragen wir den Keim zum Tod schon in uns. Es ist eine Tragik des Lebens, dass wir nur eine bestimmte kurze Zeit auf diesem Planeten sind und danach wieder zu Staub werden. Ich hingegen…“ „“Ja, Herr Baal“. „Ich hingegen, möchte jetzt einen Rotwein bestellen und für meinen Kater eine Schale Milch.“ „Sagen sie mal Herr Baal, woran erinnert mich ihre Lyrik?“, fragte Jean. „Dieses Gedicht wird sie an Sappho von Lesbos erinnern. Ich kannte sie mal ganz gut äh ich verehre sie sehr…“ „Ja, Herr Baal ist wirklich seltsam“, meinte Silke, als er an der Theke seinen Wein bestellte, „aber nett!“. Paolo beendete die Pause. „Bitte die Raucher hereinkommen, wir fangen an!“ Der zweite Teil fiel ab. Es folgte eine Bewältigungsgeschichte einer älteren Frau, die über ihre überwundene Krebserkrankung schrieb. Frei nach dem Motto: „Wie ich meine größte Krise bewältigte und ein besserer Mensch wurde.“ Hausfrauenliteratur im Teletubbie-Stil. Florian, der arbeitslose Schauspieler, empfahl, es doch mal anstatt mit Schreiben mit einem Töpferkurs zu versuchen. Der nächste Autor las einen Ausschnitt aus seinem fertigen Buch über römische Geschichte. Als ob bisher Niemand darüber geschrieben hätte. Jean wies ihm stringent einige inhaltliche Ungereimtheiten und Verfälschungen nach. „Es ist ja nur für Hauptschüler geschrieben“, war die Antwort. Arme Hauptschüler. Der letzte Autor bildete den Tiefpunkt. Ein ehemaliger Pastor brachte eine Zote über einen Pfarrer da, der eine Frau kennen lernt, mit ihr Sex hat und danach mit ihr nach Südamerika durchbrennt. Natürlich Literatur der untersten Art, aber es gab sogar einige Lacher. Danach wurde abgestimmt. Das Publikum entschied per Stimmzettel wer Erster, Zweiter oder Dritter wurde. Das Ergebnis war überraschend: Auf allen Stimmzetteln stand an erster Stelle der Name Mithras Baal. „Das stimmt was nicht“, sagte Hans zu Sofia, „Ich habe Baal nicht an erster Stelle gewählt.“ „Ich auch nicht!“, erwiderte Sofia.
 

Steven Omen

Mitglied
Paolo, mittleren Alters und Größe, mit kurzem schwarzen Haar, sehr gepflegt und Leiter des Literaturclubs in Haidhausen, schlenderte durch die Bierstraße. Seine markant-baskische Nase unterstrich sein energisches Wesen. Die Bierstraße war eine besondere Straße. Im Herzen Haidhausens gelegen, beginnend mit einem irischen Pub, kurz und noch mit pittoresken Katzenköpfen versehen, gesäumt mit Schatten spendenden Kastanienbäumen, war sie eine der schönsten Straßen Münchens. Autos fuhren nur selten durch, oft aber Fahrradfahrer. Die Häuser waren durchgehend Altbau, vierstöckig, die Fassaden neu renoviert in blass gelblichen Farbtönen, die Dächer in fuchsroten Tönen gehalten. In den unteren Etagen hatten sich viele kleine Läden oder Künstlerwerkstätten etabliert. Eine davon war der „Club“, wie ihn Alle nur nannten. Ein Anlaufpunkt in München für Literaturinteressierte und solche, die es werden wollen. Viele hoffnungsvolle Karrieren begannen hier oder scheiterten, bevor sie überhaupt begonnen hatten... Paolo war mit einer Türkin verheiratet. Keine einfache Liaison in Zeiten von Minarettverbot und der brennenden zwei Türme. Der Literaturclub war von außen unscheinbar. Während der Woche wurde er von einer Malerin als Atelier und Ausstellungsraum genutzt. An der Wand hingen Bilder der Malerin, die Meisten mit Landschaften aus der Toskana. An jedem Freitag um Punkt 19 Uhr erwachte der Literaturclub zum Leben. Dann verwandelte sich das Atelier der Malerin in einen Ort, an dem das gesprochene Wort im Mittelpunkt stand. Es war der erste Freitag im Oktober, also gab es einen offenen Abend. An diesem besonderen Abend lasen sechs Autoren Texte mit höchstens zehn Minuten Länge. Dazwischen wurden die Texte diskutiert und am Ende stimmte das Publikum per Zettel ab, wer der glückliche Sieger ist. Es nieselte und die Wetterprognose war für das gesamte Wochenende schlecht. Ein guter Abend also, um sich die Zeit mit Literatur zu vertreiben. Paolo betrat den Club zuerst, denn er hatte Dienst heute Abend. Dies beinhaltete den Ausschank der Getränke, erste Anlaufstelle für Neulinge zu sein, Interessierte auf den Lesekalender hinzuweisen, in den man sich eintragen konnte, wenn man einen halben oder ganzen Abend lesen wollte; kurzum, heute war Paolo die Mutter der Kompanie. Nicht zu vergessen würde Paolo später die Auslosung der Vorlesenden vornehmen und die ganze Lesung moderieren. Nachdem er die Glastür aufgeschlossen und die Klappstühle aufgestellt hatte, alle akribisch in Reihen nebeneinander, trudelten langsam die ersten Literaten ein. Helga kam eigentlich immer, blieb aber meistens nur bis zur Hälfte. Sie war mit einem Bildhauer verheiratet und lebte teilweise in Südtirol. Kurzes graues Haar, lustige Stirnfalten und Altersflecken auf ihren Händen deuteten auf ihr betagtes Alter hin. Jean, der gefürchtete Kritiker mit der Hornbrille, bestellte sich, als er eintrat, sogleich ein Bier. Augustiner natürlich, das Beste Bier Münchens. „Ja, Servus Silke“, bist du auch mal wieder da“´, begrüßte er sie. Sein schwäbischer Akzent, die laute Stimme, gemischt mit einem abgeschlossenen Germanistikstudium, das er aber mit einem Job als Steuerberater vergeudete, bildeten gefährliche Waffen bei schlechten Texten. „Ja, ich habe mal wieder Lust auf schlechte Literatur.“ Silke,30 Jahre alt, langes braunes Haar, war etwas mollig aber eine Seele von einem Menschen. Immer lustig und zu einem Witz aufgelegt. Dazu passte auch die rosa Brille. Hans, auch ein treuer Stammbesucher des Clubs, unterhielt sich mit Sofia, eine ältere Matrone, über die letzte Sendung von Michael Skasa auf Bayern 2. „Unglaublich, die haben meinen Text vorgelesen und noch nichts überwiesen“, beklagte er sich. „Schick ihm eine Email, war bestimmt ein Versehen oder das Geld wird demnächst überwiesen.“ Die Meisten kamen regelmäßig und kannten sich mehr oder weniger gut. Viele lasen auch regelmäßig im Club. Natürlich kamen immer wieder Neue hinzu, aber sie blieben nur schmückendes Beiwerk. Es ging Richtung 19 Uhr 30. Paolo bat die Raucher, die draußen auf der Straße standen, doch bitte hereinzukommen, damit es los gehen könne. Da bog um die Ecke eine Gestalt, schwarz gekleidet, mit einer Baskenmütze, blitzenden türkisblauen Augen und – man wollte es nicht glauben- mit einer schwarzen Katze auf dem Arm. Seine blankpolierten schwarzen Schuhe klackerten auf dem nassen Bürgersteig. „Ist das hier der Literaturclub?“, fragte er Paolo. „Ja, kommen sie doch herein, wollen sie heute Abend lesen? Ich hoffe die Katze kratzt nicht?“ „Nein, Nein, sie ist ganz zahm, da kann ich sie beruhigen, ein wahres Schmusekätzchen. Gerne würde ich noch lesen, wenn es noch möglich ist. Ich bin nur auf der Durchreise und habe nur durch Zufall von diesem Club erfahren, wissen sie.“ „Gewiss, es haben sich bisher erst Fünf angemeldet, mit Ihnen wären wir Sechs.
Majestätisch schritt Paolo auf das Podest und räusperte sich theatralisch. Die Ge-spräche verstummten und er erklärte das Prozedere. Dann zog er die Namen aus einer Schachtel und schrieb sie auf eine Tafel. Als erstes wurde Karl gezogen. Auch er war ein langjähriger Stammgast im Club, beteiligte sich aber nie an den Diskussionen und war eine ruhige Natur. Er stieg die Treppe zum Podest hinauf, setzte sich, nahm ein Schluck Wasser und begann zu lesen:
"Ich spring jetzt. Ist schon spät heute", sagte ich zu meinen Kollegen und verließ das Büro. Es war wieder ein arbeitsreicher Tag gewesen und ich freute mich auf den Feierabend. Ein Sturm tobte schon den ganzen Tag. Blätter, Äste und Papierschnipsel wirbelten durch die Luft. Ich näherte mich einer Baustelle. Mein Gott, wie lange würde das mit der Renovierung dieses Hauses noch gehen?, fragte ich mich, als ich das Baugerüst unterquerte. Da passierte es. Der Ziegelstein, der für mich bestimmt war, war bereits unterwegs. Er traf mich auf eine Art und Weise, die keine Fragen offen ließ. Ein Schweben setzte ein. He, dachte ich, was ist denn das? Bin das ich, da unten? Ja, tatsächlich, ich konnte von oben auf mich hinuntersehen wie ich da lag und der Ziegelstein neben mir.
Ich stieg immer höher und konnte bald die Straßenzüge erkennen. Es machte mir immer mehr Spaß, zu fliegen. Auf einer Wolke saß Aloisius. Er grüßte mich gries-grämig, während er „Halluluja, Himmi Hergott, Erdäppfi, Saggerament, luuuja“, froh-lockte . Bald erkannte ich Kontinente und schließlich die ganze Erde. Sie sah aus wie eine weiß-blaue Murmel. Ich klopfte ans Fenster der internationalen Raumstation. Ein Astronaut sah heraus. Er zeigte mir einen Vogel. Dann schaute ich durchs Hubble-Teleskop, um mich zu orientieren. Der Mond lockte mich. Ich flog hin und schrieb in den Mondstaub „Ich war hier“. Auf der Mondbasis Alpha 1 unterhielt ich mich mit Commander John Koenig über Dimensionssprünge. Danach klaute ich die amerikanische Flagge und nahm sie mit auf den Mars. Dann flog ich zur Sonne. Verdammt, ich hatte das Sonnenöl zu Hause gelassen. Doch bald wurde es kälter. Beim Vorbeiflug grüßte ich Fred vom Jupiter. Ich beschleunigte und zog links blinkend am Raumschiff Enterprise vorbei, mir das lange Gesicht des Captain Kirk vorstellend und das von Herrn Spock, mit dem mich eine innige Abneigung verband. Mein Flug dauerte lange. Vor Langeweile zählte ich bis zur Unendlichkeit – Zwei Mal. Dann überlegte ich so lange, bis mir die letzte Ziffer von Pi einfiel. Zum Glück begleitete mich eine Zeit lang Barbarella. Auf Krypton holte ich mir neue Kräfte. Kurz vor dem Kampfstern Galactica bog ich rechts ab, vorbei am Planeten Melmac, hielt mich dann links, passierte E.T.`s Heimatplaneten, durchquerte einen Asteroidengürtel, aus dem mich glücklicherweise Perry Rhodan wieder herauslotste und traf Mork auf Ork. Auf Elektron übernachtete ich in Trigans Palast. Flash Gordon hatte leider keine Zeit für mich, da er gemeinsam mit Buck Rogers ein Techtelmechtel mit Imperator Ming hatte. Aliens Heimatplaneten umflog ich vorsichtshalber weitläufig. Die Raumpatrouille Orion brachte mich wieder auf den richtigen Weg. Nebenbei rettete ich Prinzessin Leia aus Darth Vaders Fängen und übergab sie dem glücklichen Luke Skywalker. Auf dem Planet der Affen taten mir die Menschen schon ein wenig leid. Wieder auf Kurs, konnte ich nur mit Mühe dem Computer HAL ausweichen, der mal wieder sein Raumschiff per Countdown zerstören wollte. Auf dem niedlichen Planeten des kleinen Prinzen ruhte ich mich aus und diskutiert mit ihm die Frage, ob man vor einem Hut Angst haben soll. Schließlich sah ich einen wunderbaren Planeten. Er war faszinierend. Ich landete und traf auf einen glücklichen in weiß gewandeten Menschen. „Wo bin ich hier?“, fragte ich ihn. „Dieser Ort hat keinen Namen. Wir nennen ihn aber Paradies.“
„"'Bin ich tot? Bist du der Petrus?' Der Mann mußte Petrus sein. Das konnte gar nicht anders sein bei diesem Bart und dem Schlüsselbund. „Ja, so ist es.“ „Ist es hier, wo ich meine Jungfrauen bekomme?“ 'Nein', sagte Petrus, 'Jungfrauen nur für Muslime. Und auch nur, wenn sie ihre Gebete brav aufgesagt haben. „Und was macht man so hier den ganzen Tag?“ „Du kannst tun und lassen was du willst.“ „Und wenn ich Böses tun will?“ „Dafür haben wir auch eine Abteilung, die ist aber ein paar Etagen tiefer und da ist es deutlich wärmer.“ Ich verstand den Wink mit dem Zaunpfahl und überlegte. „Hm, was wollte ich schon immer mal tun? Ich habs! Ich wollte schon immer ein berühmter Schriftsteller werden und einen herzzerreißenden Liebesroman schreiben.
So kehrte ich auf die Erde zurück, mietete mir in Paris im Quartier Latin ein Pent-house und machte eine Collage aus „Casablanca“, „Der Meister und Margerita“ so-wie „Vom Winde verweht“. Ich aktualisierte das Personal, erstellte ein hübsches Cluster und schrieb das Manuskript innerhalb ein paar Wochen druckfertig. Dieses sandte ich dem Verlag der auch Harry Potter herausbrachte zu. Nach kurzer Zeit kam der positive Bescheid. Mein Liebesroman mit dem Titel „Der Wind aus Casab-lanca weht heiß“ wurde innerhalb kurzer Zeit ein Weltbestseller und verkaufte sich in 188 Länder. Nach unzähligen Lesungen in ausverkauften Hallen, TV-Auftritten, Filmverfilmungen aller 12 noch erfolgreicheren Nachfolgebände und schlussendlich dem Literaturnobelpreis, wurde mir die Sache langweilig und ich setzte meinem Literatenleben durch einen spektakulären Sturz vom Eiffelturm ein Ende.
Nun packte mich der wissenschaftliche Ehrgeiz. Ich schrieb mich an der University of Massachusetts ein, Amherst, Astrophysik. Nach ein paar Jahren war ich Professor. So bekam ich Zugang zum Hubble-Teleskop und verbesserte durch meine bahnbrechenden Ideen die Leistung des Teleskops um den Faktor 103. Ich entdeckte unbekannte Galaxien und Weltraumphänomene. Dazu zählten „Die heliotischen Bollwerke“, „Die Negashäre“ und „Die große Leere“. Nebenbei vereinigte ich die allgemeine Relativitätstheorie mit der Quantengravitation und wies mit einer kinderleichten Formel nach, dass das Universum ein Ellipsoid ist. Bis auf die Hundertstel berechnete ich die Zeit vom Urknall bis Jetzt. Nach dem wohlverdienten Nobelpreis wurde mir auch diese Disziplin langweilig.
Ich bekam eine Sinnkrise. Da kam mir die Erleuchtung! Warum nicht eine Religion gründen? Gesagt, getan. In Indien sammelte ich meine 12 Jünger durch billige Ta-schenspielertricks, wobei ich auch Frauen aufnahm. Warum es immer 12 sein müssen, wusste ich auch nicht. Ist eben so. Ich mischte alle Weltreligionen durcheinander, fügte als Funfaktor noch ein wenig Baghwan hinzu und fertig war meine neue Religion. Meine Jünger hingen mir an den Lippen, als ich Ihnen meine heiligen Gebote predigte, z.B. „Du sollst zwei Stunden Mittagsschlaf halten“ oder „Du sollst morgens mit dem linken Fuß aufstehen und abends mit dem rechten Fuß zu Bett gehen“. Stundenlang diskutierten wir, ob wir die „Volksfront von Dehli“ oder „Dehliansiche Volksfront“ heißen sollten und naschten nebenbei Otternasen. Unglücklicherweise wurde ich recht schnell wegen Terrorismusverdacht verhaftet und nach kurzem Prozess gehängt. Sie haben mich eben nicht erkannt, die Ungläubigen. Seit diesem Tag brachten die Jünger in ewiger Erinnerung auf ihren Gotteshäusern einen Galgen an. Rasch verbreitete sich die Galgenreligion auf der ganzen Welt und ich kehrte erschöpft ins Paradies zurück. Petrus erwarte mich am Eingang. „Und was machst du jetzt?“ „Jetzt, Petrus“, antwortete ich geläutert, „möchte ich nur noch jeden Freitag ins Literaturbüro gehen, denn es ist der Himmel der Himmel.“
Wie immer las er zu monoton und mit einigen Verhasplern. Das Echo war geteilt. Knut, ein pensionierter Deutschlehrer, bemängelter mit nasaler Stimme die vielen Klischees. Überhaupt war sein Lieblingswort Klischee. Und überhaupt, der Still sei anfängerhaft, besonders zu Beginn. Knut konnte Karl nicht ausstehen. Immer wenn Karl etwas vorlas, bemäkelte und bekrittelte Knut seine Texte. Ein Anderer, Florian, der arbeitslose Schauspieler mit dem lustigen Ziegenbärtchen, meinte, dass das Ganze eine Allegorie auf die auch in der Antike dargestellte Reise der Seele von der Erde über dem Mond, der Sonne, bis zum Paradies sei. Insgesamt gab es doch ein positives Feedback und Paolo bat den Nächsten aufs Podest. Da öffnete sich die Tür und es ertönte ein Saxophon. Hugo, der Kaputte mit der immer gleichen braunen Lederjacke und der Schiebermütze nebst Sonnenbrille, spielte munter einen alten Schlager. Unter allgemeinen Gelächter wurde Hugo von Paolo energisch zurechtgewiesen , worauf dieser fluchend den Club wieder verlies. „Unerhört!, Banausen!“, hörte man noch, als die Tür krachend zufiel.
Nun las Helga. Mit ernster Stimme begann sie:
„Seit 1990 geht von deutschem Boden kein Frieden mehr aus. Der Krieg nach außen bedingt den Krieg im Inneren. Diese beiden Sätze können als Konzentrat politischer Erfahrungen der letzten 20 Jahre in der Bundesrepublik gelten. Die Durchsetzung der „Agenda 2010“ seit 2003 verlief vergleichsweise schüchtern verglichen mit dem Furor, mit dem seit einigen Monaten die Arrivierten dieses Landes und ihre Zeitgeist-besorger in den Medien auf „Modernisierungsversager“ verbal einschlagen. Die Zustimmung, die den Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin aus den Kreisen der Besserverdienden erreicht, deutet auf eine Verschiebung nach rechts im Selbstverständnis der Herrschenden, die ihren Ausdruck auch im Ergebnis der Bundestagswahlen gefunden hat: Jetzt wird nicht nur wie vor sechs Jahren Armut per Gesetz dekretiert, gleichzeitig aber abgestritten, dass es überhaupt um Senkung des Preises der Ware Arbeitskraft gehen könnte. Jetzt wird der „Erfolg der Arbeitsmarktreform“ gefeiert und dem „Prekariat“ das Zeugnis ausgestellt – es ist milieubedingt oder aus biologischen Gründen nicht zum sozialen Aufstieg befähigt. Der sozial-rassistische Dreck ältester konservativer und nazistischer Ideologie hat sich – mal wieder – in der sogenannten gesellschaftlichen Mitte breitgemacht. Wer „Leistungsträger“ ist, darf Milliarden Euro versenken, hat aber amtlichen Anspruch auf Millionen Euro „Bonus“. Wer Essensreste nicht wegwirft, sondern mit nach Hause nimmt, bekommt amtlich die Entlassung and als 59jährige wie im Fall der schwäbischen Maultaschen vermutlich nie wieder eine Stelle. Die sozialen Kontraste werden nach dem Geschmack besorgter Ideologen zu deutlich sichtbar, der Klassenkampf von oben wird etwas zu munter betrieben. Diese Auseinandersetzung ums richtige Kostüm ist nicht der wichtigste Gegenstand, wohl aber die Ideen der Herrschenden insgesamt. Zu ihnen gehört an erster Stelle, die soziale Frage nicht soziale Frage zu nennen und Klassenkampf zu betreiben, aber nicht den Gedanken an ihn aufkommen zu lassen.“
Es herrschte kurz Stille, dann fragte Hans, ob politische Texte überhaupt am offenen Abend zugelassen sind. „Natürlich, Alles kann vorgelesen werden, nur muss der Autor mit der anschließenden Kritik auch leben können“, erläuterte Paolo. Natürlich gab es Widerspruch. Wie nicht Anders zu erwarten aus der rechten Ecke. Alfred, aktives Mitglied der Republikaner, meinte, dies sei linke Propaganda, habe nichts mit der deutschen Realität zu tun und Alles sei völlig verzerrt dargestellt. Paolo unterbrach seinen Redeschwall mit der Bitte, sich doch mit dem Still, formalen Aufbau etc. und nicht mit dem Inhalt zu beschäftigen. Nachdem es keine Wortmeldungen mehr gab, rief Paolo Herrn Baal, so hieß der Unbekannte mit der Katze, auf das Podest. Langsam und bedächtig kam er hoch. Seine schwarzen Haare waren streng nach hinten gekämmt. Mit 60 Jahren wirkte er noch erstaunlich vital. Er setzte sich und mit seinen buschigen Augenbrauen fixierte er seinen Text. Die blauen Augen passten nicht zu seinem südländischen Aussehen. Nur seine auffällige Narbe an der linken Wange störte das perfekte Bild eines Bonvivants. „Meine Damen und Herren, ich will Ihnen heute Lyrik vortragen.“ „ Zwei mal vorlesen bitte, das ist bei uns so üblich“, bat Paolo. „Aber gerne“ Mit ruhiger, tiefer Stimme trug er vor:

Formentera, du Glückliche
So sich die Traumwesen zurückgezogen
In die Ewigkeit verdrängt
Löst sich das Sternenzelt auf
Unwirklich konturierte Farbigkeit
Die Wolken in den geschlossenen Augen
Verblassen im zunehmenden Licht
...

Jean unterbrach nach einigen Sekunden die Stille. „Irgendeine Mischung aus Werbeprospekt und Kitsch“, fiel sein vernichtendes Urteil aus. „Wenn er wüsste, dass ich diese Verse mit Sappho auf Lesbos damals geschmiedet habe“, dachte sich Baal. Aber dies ist eine andere Geschichte. Silke gefiel das Gedicht besonders gut. Sie hing förmlich an seinen Lippen und saugte jedes Wort auf. Sie konnte sich nicht lösen von diesen Zeilen. Am liebsten hätte sie laut applaudiert und hurra geschrien. Zeilen wie „Denn wie goldener Staub in der Unendlichkeit“ ließen Seiten ihr schwingen, die sie lange nicht mehr empfunden hatte. Und außerdem: „Herr Ball ist ja eine prachtvolle Erscheinung. Wie er mich immer angeschaut hat beim Vorlesen. Mir war, als liest er das Gedicht nur für mich“, dachte sie sich. Franz, der immer den gleichen Pulli anhatte und skurrile Kommentare von sich gab, meinte: “Na, Neckermann Reisen abgeschrieben, hahaha, versuchens doch mal mit TUI, die sind noch billiger!“ Baal griff sich an seine Nase. „Ich glaube nicht, dass sie nach dieser Aussage nicht gut schlafen werden.“ „Wie soll ich denn das verstehen?“ „Sie werden es sehen, Herr..“ „Für sie Herr Risper, aber alle anderen nennen mich Franz, hohoho“ Pikiert stand Baal auf und verließ den Vorleseplatz, wobei er wie durch Zufall den Platz von Silke streifte und sie durchdringend anlächelte. Silke wurde rot, was ihr schon lange nicht mehr passiert war. „Sie ist es, sie passt genau rein, ja, sie mache ich verliebt“, dachte er sich als er sich hinsetzte. Paolo bat theatralisch um Ruhe und verkündete: „Pause, 15 Minuten!“ Die Raucher gingen vor die Tür, an der Theke im hinteren Raum des Clubs konnte man Wein oder Bier kaufen. Das Bier natürlich aus der Flasche. Schnell war der Raum erfüllt von Diskussionen über das bisher Vorgetragene, Ab und zu entspanntes Gelächter. „Herr Baal ist aber auch von ein seltsamer Vogel“, meinte Jean zu Silke. „Meinst du?“ „Oder hast du schon Jemand gesehen, der mit einer Katze auf dem Schoß hier vorträgt?“ „Nein, das nicht, aber auf mich macht er einen guten Eindruck. Das sind doch noch wenigstens Männer mit Profil.“ „Das Gedicht erinnert mich an irgend Etwas, ich werde es noch raus finden an was.“ „Ah, da kommt er ja, unser Katzenliebhaber“. Silke streichte sich verlegen eine Strähne aus ihrer Stirn. „Guten Abend, junge Frau, hat Ihnen die Lyrik gefallen?“, fragte Baal ohne Umschweife Silke. „Ja, ausnehmend. So gefühlvoll und mit Emotionen. Sie haben wirklich Talent. Haben Sie schon öfters vorgetragen?“ „Ja, das mache ich schon hin und wieder, wissen sie, was soll man denn machen, wenn man unendlich viel Zeit hat?“ „Unendlich?“, fragte Silke nach. „Sind wir nicht alle Staubkörner im Univer-sum?“, dozierte Baal weiter ohne die Frage zu beantworten, „haben wir nicht alle eine Bestimmung, wir sind nur ein Augenzwinkern im Vergleich zur Unendlichkeit der Zeit auf dieser Erde, kaum sind wir geboren, tragen wir den Keim zum Tod schon in uns. Es ist eine Tragik des Lebens, dass wir nur eine bestimmte kurze Zeit auf diesem Planeten sind und danach wieder zu Staub werden. Ich hingegen…“ „“Ja, Herr Baal“. „Ich hingegen, möchte jetzt einen Rotwein bestellen und für meinen Kater eine Schale Milch.“ „Sagen sie mal Herr Baal, woran erinnert mich ihre Lyrik?“, fragte Jean. „Dieses Gedicht wird sie an Sappho von Lesbos erinnern. Ich kannte sie mal ganz gut äh ich verehre sie sehr…“ „Ja, Herr Baal ist wirklich seltsam“, meinte Silke, als er an der Theke seinen Wein bestellte, „aber nett!“. Paolo beendete die Pause. „Bitte die Raucher hereinkommen, wir fangen an!“ Der zweite Teil fiel ab. Es folgte eine Bewältigungsgeschichte einer älteren Frau, die über ihre überwundene Krebserkrankung schrieb. Frei nach dem Motto: „Wie ich meine größte Krise bewältigte und ein besserer Mensch wurde.“ Hausfrauenliteratur im Teletubbie-Stil. Florian, der arbeitslose Schauspieler, empfahl, es doch mal anstatt mit Schreiben mit einem Töpferkurs zu versuchen. Der nächste Autor las einen Ausschnitt aus seinem fertigen Buch über römische Geschichte. Als ob bisher Niemand darüber geschrieben hätte. Jean wies ihm stringent einige inhaltliche Ungereimtheiten und Verfälschungen nach. „Es ist ja nur für Hauptschüler geschrieben“, war die Antwort. Arme Hauptschüler. Der letzte Autor bildete den Tiefpunkt. Ein ehemaliger Pastor brachte eine Zote über einen Pfarrer da, der eine Frau kennen lernt, mit ihr Sex hat und danach mit ihr nach Südamerika durchbrennt. Natürlich Literatur der untersten Art, aber es gab sogar einige Lacher. Danach wurde abgestimmt. Das Publikum entschied per Stimmzettel wer Erster, Zweiter oder Dritter wurde. Das Ergebnis war überraschend: Auf allen Stimmzetteln stand an erster Stelle der Name Mithras Baal. „Das stimmt was nicht“, sagte Hans zu Sofia, „Ich habe Baal nicht an erster Stelle gewählt.“ „Ich auch nicht!“, erwiderte Sofia.
 

Steven Omen

Mitglied
Paolo, mittleren Alters und Größe, mit kurzem schwarzen Haar, sehr gepflegt und Leiter des Literaturclubs in Haidhausen, schlenderte durch die Bierstraße. Seine markant-baskische Nase unterstrich sein energisches Wesen. Die Bierstraße war eine besondere Straße. Im Herzen Haidhausens gelegen, beginnend mit einem irischen Pub, kurz und noch mit pittoresken Katzenköpfen versehen, gesäumt mit Schatten spendenden Kastanienbäumen, war sie eine der schönsten Straßen Münchens. Autos fuhren nur selten durch, oft aber Fahrradfahrer. Die Häuser waren durchgehend Altbau, vierstöckig, die Fassaden neu renoviert in blass gelblichen Farbtönen, die Dächer in fuchsroten Tönen gehalten. In den unteren Etagen hatten sich viele kleine Läden oder Künstlerwerkstätten etabliert. Eine davon war der „Club“, wie ihn Alle nur nannten. Ein Anlaufpunkt in München für Literaturinteressierte und solche, die es werden wollen. Viele hoffnungsvolle Karrieren begannen hier oder scheiterten, bevor sie überhaupt begonnen hatten... Paolo war mit einer Türkin verheiratet. Keine einfache Liaison in Zeiten von Minarettverbot und der brennenden zwei Türme. Der Literaturclub war von außen unscheinbar. Während der Woche wurde er von einer Malerin als Atelier und Ausstellungsraum genutzt. An der Wand hingen Bilder der Malerin, die Meisten mit Landschaften aus der Toskana. An jedem Freitag um Punkt 19 Uhr erwachte der Literaturclub zum Leben. Dann verwandelte sich das Atelier der Malerin in einen Ort, an dem das gesprochene Wort im Mittelpunkt stand. Es war der erste Freitag im Oktober, also gab es einen offenen Abend. An diesem besonderen Abend lasen sechs Autoren Texte mit höchstens zehn Minuten Länge. Dazwischen wurden die Texte diskutiert und am Ende stimmte das Publikum per Zettel ab, wer der glückliche Sieger ist. Es nieselte und die Wetterprognose war für das gesamte Wochenende schlecht. Ein guter Abend also, um sich die Zeit mit Literatur zu vertreiben. Paolo betrat den Club zuerst, denn er hatte Dienst heute Abend. Dies beinhaltete den Ausschank der Getränke, erste Anlaufstelle für Neulinge zu sein, Interessierte auf den Lesekalender hinzuweisen, in den man sich eintragen konnte, wenn man einen halben oder ganzen Abend lesen wollte; kurzum, heute war Paolo die Mutter der Kompanie. Nicht zu vergessen würde Paolo später die Auslosung der Vorlesenden vornehmen und die ganze Lesung moderieren. Nachdem er die Glastür aufgeschlossen und die Klappstühle aufgestellt hatte, alle akribisch in Reihen nebeneinander, trudelten langsam die ersten Literaten ein. Helga kam eigentlich immer, blieb aber meistens nur bis zur Hälfte. Sie war mit einem Bildhauer verheiratet und lebte teilweise in Südtirol. Kurzes graues Haar, lustige Stirnfalten und Altersflecken auf ihren Händen deuteten auf ihr betagtes Alter hin. Jean, der gefürchtete Kritiker mit der Hornbrille, bestellte sich, als er eintrat, sogleich ein Bier. Augustiner natürlich, das Beste Bier Münchens. „Ja, Servus Silke“, bist du auch mal wieder da“´, begrüßte er sie. Sein schwäbischer Akzent, die laute Stimme, gemischt mit einem abgeschlossenen Germanistikstudium, das er aber mit einem Job als Steuerberater vergeudete, bildeten gefährliche Waffen bei schlechten Texten. „Ja, ich habe mal wieder Lust auf schlechte Literatur.“ Silke,30 Jahre alt, langes braunes Haar, war etwas mollig aber eine Seele von einem Menschen. Immer lustig und zu einem Witz aufgelegt. Dazu passte auch die rosa Brille. Hans, auch ein treuer Stammbesucher des Clubs, unterhielt sich mit Sofia, eine ältere Matrone, über die letzte Sendung von Michael Skasa auf Bayern 2. „Unglaublich, die haben meinen Text vorgelesen und noch nichts überwiesen“, beklagte er sich. „Schick ihm eine Email, war bestimmt ein Versehen oder das Geld wird demnächst überwiesen.“ Die Meisten kamen regelmäßig und kannten sich mehr oder weniger gut. Viele lasen auch regelmäßig im Club. Natürlich kamen immer wieder Neue hinzu, aber sie blieben nur schmückendes Beiwerk. Es ging Richtung 19 Uhr 30. Paolo bat die Raucher, die draußen auf der Straße standen, doch bitte hereinzukommen, damit es los gehen könne. Da bog um die Ecke eine Gestalt, schwarz gekleidet, mit einer Baskenmütze, blitzenden türkisblauen Augen und – man wollte es nicht glauben- mit einer schwarzen Katze auf dem Arm. Seine blankpolierten schwarzen Schuhe klackerten auf dem nassen Bürgersteig. „Ist das hier der Literaturclub?“, fragte er Paolo. „Ja, kommen sie doch herein, wollen sie heute Abend lesen? Ich hoffe die Katze kratzt nicht?“ „Nein, Nein, sie ist ganz zahm, da kann ich sie beruhigen, ein wahres Schmusekätzchen. Gerne würde ich noch lesen, wenn es noch möglich ist. Ich bin nur auf der Durchreise und habe nur durch Zufall von diesem Club erfahren, wissen sie.“ „Gewiss, es haben sich bisher erst Fünf angemeldet, mit Ihnen wären wir Sechs.
Majestätisch schritt Paolo auf das Podest und räusperte sich theatralisch. Die Gespräche verstummten und er erklärte das Prozedere. Dann zog er die Namen aus einer Schachtel und schrieb sie auf eine Tafel. Als erstes wurde Karl gezogen. Auch er war ein langjähriger Stammgast im Club, beteiligte sich aber nie an den Diskussionen und war eine ruhige Natur. Er stieg die Treppe zum Podest hinauf, setzte sich, nahm ein Schluck Wasser und begann zu lesen.
Wie immer las er zu monoton und mit einigen Verhasplern. Das Echo war geteilt. Knut, ein pensionierter Deutschlehrer, bemängelter mit nasaler Stimme die vielen Klischees. Überhaupt war sein Lieblingswort Klischee. Und überhaupt, der Still sei anfängerhaft, besonders zu Beginn. Knut konnte Karl nicht ausstehen. Immer wenn Karl etwas vorlas, bemäkelte und bekrittelte Knut seine Texte. Ein Anderer, Florian, der arbeitslose Schauspieler mit dem lustigen Ziegenbärtchen, meinte, dass das Ganze eine Allegorie auf die auch in der Antike dargestellte Reise der Seele von der Erde über dem Mond, der Sonne, bis zum Paradies sei. Insgesamt gab es doch ein positives Feedback und Paolo bat den Nächsten aufs Podest. Da öffnete sich die Tür und es ertönte ein Saxophon. Hugo, der Kaputte mit der immer gleichen braunen Lederjacke und der Schiebermütze nebst Sonnenbrille, spielte munter einen alten Schlager. Unter allgemeinen Gelächter wurde Hugo von Paolo energisch zurechtgewiesen , worauf dieser fluchend den Club wieder verlies. „Unerhört!, Banausen!“, hörte man noch, als die Tür krachend zufiel.
Nun las Helga. Mit ernster Stimme begann sie:
„Seit 1990 geht von deutschem Boden kein Frieden mehr aus. Der Krieg nach außen bedingt den Krieg im Inneren. Diese beiden Sätze können als Konzentrat politischer Erfahrungen der letzten 20 Jahre in der Bundesrepublik gelten. Die Durchsetzung der „Agenda 2010“ seit 2003 verlief vergleichsweise schüchtern verglichen mit dem Furor, mit dem seit einigen Monaten die Arrivierten dieses Landes und ihre Zeitgeist-besorger in den Medien auf „Modernisierungsversager“ verbal einschlagen. Die Zustimmung, die den Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin aus den Kreisen der Besserverdienden erreicht, deutet auf eine Verschiebung nach rechts im Selbstverständnis der Herrschenden, die ihren Ausdruck auch im Ergebnis der Bundestagswahlen gefunden hat: Jetzt wird nicht nur wie vor sechs Jahren Armut per Gesetz dekretiert, gleichzeitig aber abgestritten, dass es überhaupt um Senkung des Preises der Ware Arbeitskraft gehen könnte. Jetzt wird der „Erfolg der Arbeitsmarktreform“ gefeiert und dem „Prekariat“ das Zeugnis ausgestellt – es ist milieubedingt oder aus biologischen Gründen nicht zum sozialen Aufstieg befähigt. Der sozial-rassistische Dreck ältester konservativer und nazistischer Ideologie hat sich – mal wieder – in der sogenannten gesellschaftlichen Mitte breitgemacht. Wer „Leistungsträger“ ist, darf Milliarden Euro versenken, hat aber amtlichen Anspruch auf Millionen Euro „Bonus“. Wer Essensreste nicht wegwirft, sondern mit nach Hause nimmt, bekommt amtlich die Entlassung and als 59jährige wie im Fall der schwäbischen Maultaschen vermutlich nie wieder eine Stelle. Die sozialen Kontraste werden nach dem Geschmack besorgter Ideologen zu deutlich sichtbar, der Klassenkampf von oben wird etwas zu munter betrieben. Diese Auseinandersetzung ums richtige Kostüm ist nicht der wichtigste Gegenstand, wohl aber die Ideen der Herrschenden insgesamt. Zu ihnen gehört an erster Stelle, die soziale Frage nicht soziale Frage zu nennen und Klassenkampf zu betreiben, aber nicht den Gedanken an ihn aufkommen zu lassen.“
Es herrschte kurz Stille, dann fragte Hans, ob politische Texte überhaupt am offenen Abend zugelassen sind. „Natürlich, Alles kann vorgelesen werden, nur muss der Autor mit der anschließenden Kritik auch leben können“, erläuterte Paolo. Natürlich gab es Widerspruch. Wie nicht Anders zu erwarten aus der rechten Ecke. Alfred, aktives Mitglied der Republikaner, meinte, dies sei linke Propaganda, habe nichts mit der deutschen Realität zu tun und Alles sei völlig verzerrt dargestellt. Paolo unterbrach seinen Redeschwall mit der Bitte, sich doch mit dem Still, formalen Aufbau etc. und nicht mit dem Inhalt zu beschäftigen. Nachdem es keine Wortmeldungen mehr gab, rief Paolo Herrn Baal, so hieß der Unbekannte mit der Katze, auf das Podest. Langsam und bedächtig kam er hoch. Seine schwarzen Haare waren streng nach hinten gekämmt. Mit 60 Jahren wirkte er noch erstaunlich vital. Er setzte sich und mit seinen buschigen Augenbrauen fixierte er seinen Text. Die blauen Augen passten nicht zu seinem südländischen Aussehen. Nur seine auffällige Narbe an der linken Wange störte das perfekte Bild eines Bonvivants. „Meine Damen und Herren, ich will Ihnen heute Lyrik vortragen.“ „ Zwei mal vorlesen bitte, das ist bei uns so üblich“, bat Paolo. „Aber gerne“ Mit ruhiger, tiefer Stimme trug er vor:

Formentera, du Glückliche
So sich die Traumwesen zurückgezogen
In die Ewigkeit verdrängt
Löst sich das Sternenzelt auf
Unwirklich konturierte Farbigkeit
Die Wolken in den geschlossenen Augen
Verblassen im zunehmenden Licht
...

Jean unterbrach nach einigen Sekunden die Stille. „Irgendeine Mischung aus Werbeprospekt und Kitsch“, fiel sein vernichtendes Urteil aus. „Wenn er wüsste, dass ich diese Verse mit Sappho auf Lesbos damals geschmiedet habe“, dachte sich Baal. Aber dies ist eine andere Geschichte. Silke gefiel das Gedicht besonders gut. Sie hing förmlich an seinen Lippen und saugte jedes Wort auf. Sie konnte sich nicht lösen von diesen Zeilen. Am liebsten hätte sie laut applaudiert und hurra geschrien. Zeilen wie „Denn wie goldener Staub in der Unendlichkeit“ ließen Seiten ihr schwingen, die sie lange nicht mehr empfunden hatte. Und außerdem: „Herr Ball ist ja eine prachtvolle Erscheinung. Wie er mich immer angeschaut hat beim Vorlesen. Mir war, als liest er das Gedicht nur für mich“, dachte sie sich. Franz, der immer den gleichen Pulli anhatte und skurrile Kommentare von sich gab, meinte: “Na, Neckermann Reisen abgeschrieben, hahaha, versuchens doch mal mit TUI, die sind noch billiger!“ Baal griff sich an seine Nase. „Ich glaube nicht, dass sie nach dieser Aussage nicht gut schlafen werden.“ „Wie soll ich denn das verstehen?“ „Sie werden es sehen, Herr..“ „Für sie Herr Risper, aber alle anderen nennen mich Franz, hohoho“ Pikiert stand Baal auf und verließ den Vorleseplatz, wobei er wie durch Zufall den Platz von Silke streifte und sie durchdringend anlächelte. Silke wurde rot, was ihr schon lange nicht mehr passiert war. „Sie ist es, sie passt genau rein, ja, sie mache ich verliebt“, dachte er sich als er sich hinsetzte. Paolo bat theatralisch um Ruhe und verkündete: „Pause, 15 Minuten!“ Die Raucher gingen vor die Tür, an der Theke im hinteren Raum des Clubs konnte man Wein oder Bier kaufen. Das Bier natürlich aus der Flasche. Schnell war der Raum erfüllt von Diskussionen über das bisher Vorgetragene, Ab und zu entspanntes Gelächter. „Herr Baal ist aber auch von ein seltsamer Vogel“, meinte Jean zu Silke. „Meinst du?“ „Oder hast du schon Jemand gesehen, der mit einer Katze auf dem Schoß hier vorträgt?“ „Nein, das nicht, aber auf mich macht er einen guten Eindruck. Das sind doch noch wenigstens Männer mit Profil.“ „Das Gedicht erinnert mich an irgend Etwas, ich werde es noch raus finden an was.“ „Ah, da kommt er ja, unser Katzenliebhaber“. Silke streichte sich verlegen eine Strähne aus ihrer Stirn. „Guten Abend, junge Frau, hat Ihnen die Lyrik gefallen?“, fragte Baal ohne Umschweife Silke. „Ja, ausnehmend. So gefühlvoll und mit Emotionen. Sie haben wirklich Talent. Haben Sie schon öfters vorgetragen?“ „Ja, das mache ich schon hin und wieder, wissen sie, was soll man denn machen, wenn man unendlich viel Zeit hat?“ „Unendlich?“, fragte Silke nach. „Sind wir nicht alle Staubkörner im Univer-sum?“, dozierte Baal weiter ohne die Frage zu beantworten, „haben wir nicht alle eine Bestimmung, wir sind nur ein Augenzwinkern im Vergleich zur Unendlichkeit der Zeit auf dieser Erde, kaum sind wir geboren, tragen wir den Keim zum Tod schon in uns. Es ist eine Tragik des Lebens, dass wir nur eine bestimmte kurze Zeit auf diesem Planeten sind und danach wieder zu Staub werden. Ich hingegen…“ „“Ja, Herr Baal“. „Ich hingegen, möchte jetzt einen Rotwein bestellen und für meinen Kater eine Schale Milch.“ „Sagen sie mal Herr Baal, woran erinnert mich ihre Lyrik?“, fragte Jean. „Dieses Gedicht wird sie an Sappho von Lesbos erinnern. Ich kannte sie mal ganz gut äh ich verehre sie sehr…“ „Ja, Herr Baal ist wirklich seltsam“, meinte Silke, als er an der Theke seinen Wein bestellte, „aber nett!“. Paolo beendete die Pause. „Bitte die Raucher hereinkommen, wir fangen an!“ Der zweite Teil fiel ab. Es folgte eine Bewältigungsgeschichte einer älteren Frau, die über ihre überwundene Krebserkrankung schrieb. Frei nach dem Motto: „Wie ich meine größte Krise bewältigte und ein besserer Mensch wurde.“ Hausfrauenliteratur im Teletubbie-Stil. Florian, der arbeitslose Schauspieler, empfahl, es doch mal anstatt mit Schreiben mit einem Töpferkurs zu versuchen. Der nächste Autor las einen Ausschnitt aus seinem fertigen Buch über römische Geschichte. Als ob bisher Niemand darüber geschrieben hätte. Jean wies ihm stringent einige inhaltliche Ungereimtheiten und Verfälschungen nach. „Es ist ja nur für Hauptschüler geschrieben“, war die Antwort. Arme Hauptschüler. Der letzte Autor bildete den Tiefpunkt. Ein ehemaliger Pastor brachte eine Zote über einen Pfarrer da, der eine Frau kennen lernt, mit ihr Sex hat und danach mit ihr nach Südamerika durchbrennt. Natürlich Literatur der untersten Art, aber es gab sogar einige Lacher. Danach wurde abgestimmt. Das Publikum entschied per Stimmzettel wer Erster, Zweiter oder Dritter wurde. Das Ergebnis war überraschend: Auf allen Stimmzetteln stand an erster Stelle der Name Mithras Baal. „Das stimmt was nicht“, sagte Hans zu Sofia, „Ich habe Baal nicht an erster Stelle gewählt.“ „Ich auch nicht!“, erwiderte Sofia.
 
I

Ivor Joseph

Gast
Hallo Steven,
vielen Dank für diesen Beitrag - hat mir wirklich gefallen. Du hast die Atmosphäre
gut eingefangen und ihr Geheimnis spürbar gemacht.

Leider beinhaltet dein Text einen schwerwiegenden Fehler:

>> Augustiner natürlich, das Beste Bier Münchens ...

Für den »Edelstoff« mag das einigermaßen zutreffen, ansonsten wurde
mir von einem Uraltmünchner namens Kraus - seines Zeichens Paulaner -,
zugesichert, dass es sich um »Katzenpisse« handelt. Eine sensorische Probe
meinerseits konnte dies nicht widerlegen.

Lieb Grüße, Ivor
 

Steven Omen

Mitglied
Paolo, mittleren Alters und Größe, mit kurzem schwarzen Haar, sehr gepflegt und Leiter des Literaturclubs in Haidhausen, schlenderte durch die Bierstraße. Das Auffallendste an ihm war die markant-baskische Nase. Die Bierstraße war eine besondere Straße. Im Herzen Haidhausens gelegen, beginnend mit einem irischen Pub, kurz und noch mit pittoresken Katzenköpfen versehen, gesäumt mit Schatten spendenden Kastanienbäumen, war sie eine der schönsten Straßen Münchens. Autos fuhren nur selten, oft aber Fahrradfahrer. Die Häuser waren durchgehend Altbau, vierstöckig, die Fassaden neu renoviert in blass gelblichen Farbtönen, die Dächer in fuchsroten Tönen gehalten. In den unteren Etagen hatten sich viele kleine Läden oder Künstlerwerkstätten etabliert. Eine davon war der „Club“, wie ihn Alle nur nannten. Ein Anlaufpunkt in München für Literaturinteressierte und solche, die es werden wollten. Viele hoffnungsvolle Karrieren begannen hier oder scheiterten, bevor sie überhaupt begonnen hatten...
Paolo war mit einer Türkin verheiratet. Keine einfache Liaison in Zeiten drohenden Minarettverbots. Der Literaturclub war von außen unscheinbar. Während der Woche wurde er von einer Malerin als Atelier und Ausstellungsraum genutzt. An der Wand hingen Landschaftsbilder, die Meisten aus der Toskana. An jedem Freitag um Punkt 19 Uhr erwachte der Literaturclub zum Leben. Dann verwandelte sich das Atelier in einen Ort, an dem das gesprochene Wort im Mittelpunkt stand. Es war der erste Freitag im Oktober, also gab es einen offenen Abend. Es nieselte und die Wetterprognose war für das gesamte Wochenende schlecht. Ein guter Abend also, um sich die Zeit mit Literatur zu vertreiben. Paolo betrat den Club zuerst, denn er hatte Dienst heute Abend. Dies beinhaltete den Ausschank der Getränke, erste Anlaufstelle für Neulinge zu sein, Interessierte auf den Kalender hinzuweisen, in den man sich zum Lesen eintragen konnte; kurzum, heute war Paolo die Mutter der Kompanie. Nicht zu vergessen würde Paolo später die Auslosung der Vorlesenden vornehmen und die ganze Lesung moderieren. Nachdem er die Glastür aufgeschlossen und die Klappstühle aufgestellt hatte, alle akribisch in Reihen nebeneinander, trudelten langsam die ersten Literaten ein. Helga kam eigentlich immer, blieb aber meistens nur bis zur Hälfte. Sie war mit einem Bildhauer verheiratet und lebte teilweise in Südtirol. Kurzes graues Haar, lustige Stirnfalten und Altersflecken auf ihren Händen deuteten auf ihr Alter hin. Jean, der gefürchtete Kritiker mit der Hornbrille, trat ein.
„Ein Augustiner“
„Aus der Flasche?“
„Klar, nur so schmeckt das Beste Bier Münchens“
„Du solltest weniger Bier trinken und mehr Tee wie ich“
Jean lachte. Da kam Bella herein.
Ja, Servus Bella, bist du auch mal wieder da.“ Jeans leicht hessischer Akzent, die laute Stimme, gemischt mit einem abgeschlossenen Germanistikstudium, das er aber mit einem Job als Buchhalter vergeudete, bildeten gefährliche Waffen bei schlechten Texten.
„Ja, ich habe mal wieder Lust auf schlechte Literatur.“
Bella, Mitte 40, hatte langes blondes Haar, blaue Augen waren ihr auffälligstes Merkmal. Sie war mittelgroß, etwas mollig und eine Seele von einem Menschen. Sie war eben eine Frau mit den richtigen Rundungen. Immer lustig und zu einem Witz aufgelegt. Dazu passte auch die rosa Brille. Von Beruf war sie Tagesmutter bei drei verschiedenen Familien. Sie fuhr alle paar Wochen die eine Stunde mit dem Zug aus Bad Wörishofen nach München in den Club. Sie ging gerne aus, z.B. ins Theater, Bars oder Cafés. Aber sie tanzte auch gerne. Seit einiger Zeit hatte sie sich heimlich bei einer Partnervermittlung im Internet angemeldet, da sie in ihrer langjährigen Ehe keine Zukunft mehr sah. Sie lebte praktisch mit ihrem Mann nur noch wie in einer WG zusammen. Ihr Kleidungsstill war eher unkonventionell, aber man konnte sie insgesamt als attraktiv bezeichnen.
„Unglaublich, die haben meinen Text bei Skasa auf Bayern 2 vorgelesen und noch nichts überwiesen“, beklagte sich Jean. „Schick ihm eine Email, es war bestimmt ein Versehen oder das Geld wird demnächst überwiesen“ antwortete Bella.
Die Meisten kamen regelmäßig und kannten sich mehr oder weniger gut. Viele lasen auch regelmäßig im Club. Natürlich kamen immer wieder Neue hinzu, aber sie blieben nur schmückendes Beiwerk. Der Club war inzwischen gut gefüllt. Ein Brausen dumpfer Stimmen, mitunter von einer keuchenden, heiseren Rede unterbrochen, erfüllte die Luft. Es ging Richtung 19 Uhr 30. Paolo trat auf die Straße.
„Bitte die Raucher wieder reinkommen, wir wollen beginnen!“
Da bog um die Ecke eine Gestalt, schwarz gekleidet, mit einer Baskenmütze, blitzenden türkisblauen Augen und – man wollte es nicht glauben- mit einer schwarzen Katze auf dem Arm. Seine blankpolierten schwarzen Schuhe klackerten auf dem nassen Bürgersteig.
„Ist das hier der Literaturclub?“, fragte er Paolo.
„Ja, kommen sie doch herein, wollen sie heute Abend lesen? Ich hoffe die Katze kratzt nicht?“
„Nein, Nein, sie ist ganz zahm, da kann ich sie beruhigen, ein wahres Schmusekätzchen. Gerne würde ich noch lesen, wenn es noch möglich ist. Ich bin nur auf der Durchreise und habe durch Zufall von diesem Club erfahren, wissen sie.“
„Gewiss, es haben sich bisher erst Fünf angemeldet, mit Ihnen wären wir Sechs.
Majestätisch schritt Paolo auf das Podest und räusperte sich theatralisch. Die Gespräche verstummten und er erklärte das Prozedere. Dann zog er die Namen aus einer Schachtel und schrieb sie auf eine Tafel. Als erstes wurde Karl gezogen. Auch er war ein langjähriger Stammgast im Club, beteiligte sich aber nie an den Diskussionen und war eine ruhige Natur. Er stieg die Treppe zum Podest hinauf, setzte sich, nahm einen Schluck Wasser und begann zu lesen. Wie immer las er zu monoton und mit einigen Verhasplern. Das Echo war geteilt. Knut, ein pensionierter Deutschlehrer, bemängelte mit nasaler Stimme die vielen Klischees. Und überhaupt, der Still sei anfängerhaft, besonders zu Beginn. Knut konnte Karl nicht ausstehen. Immer wenn Karl etwas vorlas, bemäkelte und bekrittelte Knut seine Texte. Florian, der arbeitslose Schauspieler mit dem spitz zulaufenden Ziegenbärtchen meinte, dass das Ganze eine Allegorie auf die auch in der Antike dargestellte Reise der Seele von der Erde über den Mond, an der Sonne vorbei, bis zum Paradies sei. Insgesamt gab es ein positives Feedback und Paolo bat den Nächsten aufs Podest. Da öffnete sich die Tür und es ertönte ein Saxophon. Hugo, der Kaputte mit der immer gleichen braunen Lederjacke und der Schiebermütze nebst Sonnenbrille, spielte munter einen alten Schlager. Unter allgemeinen Gelächter wurde Hugo von Paolo energisch zurecht gewiesen , worauf dieser fluchend den Club wieder verlies. „Unerhört!, Banausen!“, hörte man noch, als die Tür krachend wieder zufiel.
Nun las Helga. Mit ernster Stimme begann sie. Danach herrschte kurz Stille. Dann fragte Jemand aus dem Publikum, ob politische Texte überhaupt am offenen Abend zugelassen sind. „Natürlich, Alles kann vorgelesen werden, nur muss der Autor mit der anschließenden Kritik auch leben können. Wer sich in die Küche begibt, der muss damit rechnen, dass es auch heiss wird.“, erläuterte Paolo. Natürlich gab es Wider-spruch. Wie nicht Anders zu erwarten aus der rechten Ecke. Alfred, aktives Mitglied der Republikaner, meinte, dies sei linke Propaganda, habe nichts mit der deutschen Realität zu tun und Alles sei völlig verzerrt dargestellt. Paolo unterbrach seinen Redeschwall mit der Bitte, sich doch mit dem Still, formalen Aufbau etc. und nicht mit dem Inhalt zu beschäftigen. Nachdem es keine Wortmeldungen mehr gab, rief Paolo Herrn Baal, so hieß der Unbekannte mit der Katze, auf das Podest. Langsam und bedächtig kam er hoch. Seine schwarzen Haare waren streng nach hinten gekämmt. Er sah aus wie 60 wirkte erstaunlich vital. Er setzte sich und mit seinen buschigen Augenbrauen fixierte er seinen Text. Die blauen Augen passten nicht zu seinem südländischen Aussehen. Nur seine auffällige Narbe an der linken Wange störte das perfekte Bild eines Bonvivants. „Meine Damen und Herren, ich will Ihnen heute Lyrik vortragen.“ „ Zwei mal vorlesen bitte, das ist bei uns so üblich“, bat Paolo. „Aber gerne“ Mit ruhiger, tiefer Stimme trug er vor:

DU

Schreite zum Mond, er glüht in Dir
Schreite zurück in die Zeit mit Ihr
Blühende Gärten schimmern im Licht

Jean unterbrach nach einigen Sekunden die Stille. „Irgendeine Mischung aus Romantik und Kitsch“, fiel sein vernichtendes Urteil aus.
„Wenn er wüsste, dass ich diese Verse mit Eichendorff damals geschmiedet habe“, dachte sich Baal. „Aber dies ist eine andere Geschichte.“
Bella gefiel das Gedicht besonders gut. Sie hing förmlich an seinen Lippen und saugte jedes Wort auf. Sie konnte sich nicht lösen von diesen Zeilen. Am liebsten hätte sie laut applaudiert und hurra geschrien. Zeilen wie „Meine Hand auf deinem Wort“ ließen Seiten ihr schwingen, die sie lange nicht mehr empfunden hatte. Und außerdem: „Herr Ball ist ja eine prachtvolle Erscheinung. Wie er mich immer angeschaut hat beim Vorlesen. Mir war, als liest er das Gedicht nur für mich“, dachte sie sich. Franz, der immer den gleichen Pulli anhatte und skurrile Kommentare von sich gab, meinte: “Na, aus einem Bastei-Lübbe-Liebesroman angeschrieben, hahaha, versuchens doch mal mit Rosamunde Pilcher, die ist noch billiger!“ Baal griff sich verärgert an seine Nase. „Ich glaube nicht, dass sie nach dieser Aussage gut schlafen werden.“ „Wie soll ich denn das verstehen?“ „Sie werden es sehen, Herr..“ „Für sie Herr Risper, aber alle anderen nennen mich Franz, hohoho“ Pikiert stand Baal auf und verließ den Vorleseplatz, wobei er wie durch Zufall den Platz von Bella streifte und sie durchdringend anlächelte. Bella wurde rot, was ihr schon lange nicht mehr passiert war. „Sie ist es, sie passt genau rein, ja, sie mache ich verliebt“, dachte er sich als er sich hinsetzte. Paolo bat theatralisch um Ruhe und verkündete: „Pause, 15 Minuten!“ Die Raucher gingen vor die Tür, an der Theke im hinteren Raum des Clubs konnte man Wein oder Bier kaufen. Das Bier natürlich aus der Flasche. Schnell war der Raum erfüllt von Diskussionen über das bisher Vorgetragene. Ab und zu entspanntes Gelächter. „Herr Baal ist aber auch von ein seltsamer Vogel“, meinte Jean zu Bella. „Meinst du?“ „Oder hast du schon Jemand gesehen, der mit einer Katze auf dem Schoß hier vorträgt?“ „Nein, das nicht, aber auf mich macht er einen guten Eindruck. Das sind doch noch wenigstens Männer mit Profil.“ „Das Gedicht erinnert mich an irgend Etwas, ich werde es noch raus finden an was.“ „Ah, da kommt er ja, unser Katzenliebhaber“. Bella streichte sich verlegen eine Strähne aus ihrer Stirn. „Guten Abend, junge Frau, hat Ihnen die Lyrik gefallen?“, fragte Baal Bella ohne Umschweife. „Ja, ausnehmend. So gefühlvoll und mit Emotionen. Sie haben wirklich Talent. Haben Sie schon öfters vorgetragen?“ „Ja, das mache ich schon hin und wieder, wissen sie, was soll man denn machen, wenn man unendlich viel Zeit hat?“ „Unendlich?“, fragte Bella nach. „Sind wir nicht alle Staubkörner im Universum?“, dozierte Baal weiter ohne die Frage zu beantworten, „haben wir nicht alle eine Bestimmung, wir sind nur ein Augenzwinkern im Vergleich zur Unendlichkeit der Zeit auf dieser Erde, kaum sind wir geboren, tragen wir den Keim zum Tod schon in uns. Es ist eine Tragik des Lebens, dass wir nur eine bestimmte kurze Zeit auf diesem Planeten sind und danach wieder zu Staub werden. Ich hingegen…“ „“Ja, Herr Baal“. „Ich hingegen, möchte jetzt einen Rotwein bestellen und für meinen Kater eine Schale Milch.“ „Sagen sie mal Herr Baal, woran erinnert mich ihre Lyrik?“, fragte Jean. „Dieses Gedicht wird sie an Joseph von Eichendorff erinnern. Ich kannte ihn mal ganz gut äh ich verehre ihn sehr…“ „Ja, Herr Baal ist wirklich seltsam“, meinte Bella, als er an der Theke seinen Wein bestellte, „Aber nett!“. Paolo beendete die Pause. „Bitte die Raucher hereinkommen, wir fangen an!“ Der zweite Teil fiel ab. Es folgte eine Bewältigungsgeschichte einer älteren Frau, die über ihre überwundene Krebserkrankung schrieb. Frei nach dem Motto: „Wie ich meine größte Krise bewältigte und ein besserer Mensch wurde.“ Hausfrauenliteratur im Teletubbie-Stil. Florian, der arbeitslose Schauspieler, empfahl, es doch mal anstatt mit Schreiben mit einem Töpferkurs zu versuchen. Der nächste Autor las einen Ausschnitt aus seinem fertigen Buch über römische Geschichte. Als ob bisher Niemand darüber geschrieben hätte. Jean wies ihm stringent einige inhaltliche Ungereimtheiten und Verfälschungen nach. „Es ist ja nur für Hauptschüler geschrieben“, war die Antwort. Arme Hauptschüler. Der letzte Autor bildete den Tiefpunkt. Ein ehemaliger Pastor brachte eine Zote über einen Pfarrer da, der eine Frau kennen lernt, mit ihr Sex hat und danach mit ihr nach Südamerika durchbrennt. Natürlich Literatur der untersten Art, aber es gab sogar einige Lacher. Danach wurde abgestimmt. Das Publikum entschied per Stimmzettel wer Erster, Zweiter oder Dritter wurde. Das Ergebnis war überraschend: Auf allen Stimmzetteln stand an erster Stelle der Name Mithras Baal. „Das stimmt was nicht“, sagte Florian zu Jean, „Ich habe Baal nicht an erster Stelle gewählt.“ „Ich auch nicht!“, erwiderte Jean.
 

Steven Omen

Mitglied
Paolo, mittleren Alters und Größe, mit kurzem schwarzen Haar, sehr gepflegt und Leiter des Literaturclubs in Haidhausen, schlenderte durch die Bierstraße. Das auffallendste an ihm war die markant-baskische Nase. Die Bierstraße war eine besondere Straße. Im Herzen Haidhausens gelegen, beginnend mit einem irischen Pub, kurz und noch mit pittoresken Katzenköpfen versehen, gesäumt mit Schatten spendenden Kastanienbäumen, war sie eine der schönsten Straßen Münchens. Autos fuhren nur selten, oft aber Fahrradfahrer. Die Häuser waren durchgehend Altbau, die Fassaden neu renoviert in blass gelblichen Farbtönen, die Dächer in fuchsroten Tönen gehalten. In den unteren Etagen hatten sich viele kleine Läden oder Künstlerwerkstätten etabliert. Eine davon war der „Club“, wie ihn Alle nur nannten. Ein Anlaufpunkt in München für Literaturinteressierte und solche, die es werden wollten. Viele hoffnungsvolle Karrieren begannen hier oder scheiterten, bevor sie überhaupt begonnen hatten...
Der Literaturclub war von außen unscheinbar. Während der Woche wurde er von einer Malerin als Atelier und Ausstel-lungsraum genutzt. An der Wand hingen Landschaftsbilder, die Meisten aus der Toskana. An jedem Freitag um Punkt 19 Uhr erwachte der Literaturclub zum Leben. Dann verwandelte sich das Atelier in einen Ort, an dem das gesprochene Wort im Mittelpunkt stand. Es war der erste Freitag im Oktober, also gab es einen offenen Abend. Es nieselte und die Wetterprognose war für das gesamte Wochenende war schlecht. Ein guter Abend also, um sich die Zeit mit Literatur zu vertreiben. Paolo betrat den Club zuerst, denn er Dienst heute Abend. Er musste die Getränke ausschenken, Ansprechpartner für Neulinge sein, und Interessierte auf den Kalender hinweisen, in den man sich zum Lesen eintragen konnte; kurzum, heute war Paolo die Mutter der Kompanie. Nachdem er die Glastür aufgeschlossen und die Klappstühle aufgestellt hatte, alle akribisch in Reihen nebeneinander, trudelten langsam die ersten Literaten ein. Helga kam eigentlich immer, blieb aber meistens nur bis zur Hälfte. Sie war mit einem Bildhauer verheiratet und lebte teilweise in Südtirol. Kurzes graues Haar, lustige Stirnfalten und Altersflecken auf ihren Händen deuteten auf ihr Alter hin. Jean, der gefürchtete Kritiker mit der Hornbrille, trat ein.
„Ein Augustiner“
„Aus der Flasche?“, fragte Paolo zurück.
„Klar, nur so schmeckt das Beste Bier Münchens“
„Du solltest weniger Bier trinken und mehr Tee wie ich“
Jean lachte. Da kam Bella herein.
„Ja, Servus Bella, bist du auch mal wieder da“
Jean´s sächsicher Akzent, die laute Stimme, gemischt mit ei-nem abgeschlossenen Germanistikstudium, das er aber mit einem Job als Buchhalter vergeudete, bildeten gefährliche Waffen bei schlechten Texten.
„Ja, ich habe mal wieder Lust auf schlechte Literatur.“
Bella, Mitte 40, hatte langes blondes Haar, blaue Augen waren ihr auffälligstes Merkmal. Sie war mittelgroß, etwas mollig und eine Seele von einem Menschen. Sie war eben eine Frau mit den richtigen Rundungen. Immer lustig und zu einem Witz aufgelegt. Dazu passte auch die rosa Brille. Von Beruf war sie Tagesmutter bei drei verschiedenen Familien. Sie fuhr alle paar Wochen die eine Stunde mit dem Zug aus Bad Wörisho-fen nach München in den Club. Sie ging gerne aus, z.B. ins Theater, Bars oder Cafés. Aber sie tanzte auch gerne. Seit ei-niger Zeit hatte sie sich heimlich bei einer Partnervermittlung im Internet angemeldet, da sie in ihrer langjährigen Ehe keine Zukunft mehr sah. Sie lebte praktisch mit ihrem Mann nur noch wie in einer WG zusammen. Ihr Kleidungsstill war eher unkonventionell, aber man konnte sie insgesamt als attraktiv bezeichnen.
„Unglaublich, die haben meinen Text bei Skasa auf Bayern 2 vorgelesen und noch nichts überwiesen“, beklagte sich Jean. „Schick ihm eine Email, es war bestimmt ein Versehen oder das Geld wird demnächst überwiesen“ antwortete Bella.
Die Meisten kamen regelmäßig und kannten sich mehr oder weniger gut. Viele lasen auch regelmäßig im Club. Natürlich kamen immer wieder Neue hinzu, aber sie blieben nur schmückendes Beiwerk. Der Club war inzwischen gut gefüllt. Ein Brausen dumpfer Stimmen, mitunter von einer keuchenden, heiseren Rede unterbrochen, erfüllte die Luft. Es ging Richtung 19 Uhr 30. Paolo trat auf die Straße.
„Bitte die Raucher wieder reinkommen, wir wollen beginnen!“
Da bog um die Ecke eine Gestalt, schwarz gekleidet, mit einer Baskenmütze, blitzenden türkisblauen Augen und – man wollte es nicht glauben- mit einer schwarzen Katze auf dem Arm. Seine blankpolierten schwarzen Schuhe klackerten auf dem nassen Bürgersteig.
„Ist das hier der Literaturclub?“, fragte der Unbekannte Paolo.
„Ja, kommen sie doch herein, wollen sie heute Abend lesen? Ich hoffe die Katze kratzt nicht?“
„Nein, Nein, sie ist ganz zahm, da kann ich sie beruhigen, ein wahres Schmusekätzchen. Ich würde noch gerne lesen, wenn es noch möglich ist. Ich bin nur auf der Durchreise und habe durch Zufall von diesem Club erfahren, wissen sie.“
„Ja, das geht noch. Es haben sich bisher erst Fünf angemeldet, mit Ihnen wären wir Sechs.
Majestätisch schritt Paolo auf das Podest und räusperte sich theatralisch. Die Gespräche verstummten. Als erstes wurde Karl gezogen. Auch er war ein langjähriger Stammgast im Club, beteiligte sich aber nie an den Diskussionen und war eine ruhige Natur. Er stieg die Treppe zum Podest hinauf, setzte sich, nahm einen Schluck Wasser und begann zu lesen. Wie immer las er zu monoton und mit einigen Verhasplern. Das Echo war geteilt. Knut, ein pensionierter Deutschlehrer, bemängelte mit nasaler Stimme die vielen Klischees. Und überhaupt, der Still sei anfängerhaft, besonders zu Beginn. Knut konnte Karl nicht ausstehen. Immer wenn Karl etwas vorlas, bemäkelte und bekrittelte Knut seine Texte. Florian, der arbeitslose Schauspieler mit dem spitz zulaufenden Ziegenbärtchen meinte:
„Dies ist eine Allegorie auf die auch in der Antike dargestellte Reise der Seele von der Erde über den Mond, an der Sonne vorbei, bis zum Paradies“.
Insgesamt gab es ein positives Feedback und Paolo bat den Nächsten aufs Podest. Da öffnete sich die Tür und es ertönte ein Saxophon. Hugo, der Kaputte mit der immer gleichen braunen Lederjacke, Schiebermütze und Sonnenbrille, spielte munter einen alten Schlager. Unter allgemeinen Gelächter wurde Hugo von Paolo energisch zurecht gewiesen , worauf dieser fluchend den Club wieder verlies. „Unerhört!, Banausen!“, hörte man noch, als die Tür krachend wieder zufiel.
Nun las Helga. Mit ernster Stimme begann sie. Danach herrschte kurz Stille. Dann fragte Jemand aus dem Publikum, ob politische Texte überhaupt am offenen Abend zugelassen sind. „Natürlich, Alles kann vorgelesen werden, nur muss der Autor mit der anschließenden Kritik auch leben können. Wer sich in die Küche begibt, der muss damit rechnen, dass es auch heiss wird.“, erläuterte Paolo. Natürlich gab es Wider-spruch. Wie nicht Anders zu erwarten aus der rechten Ecke. Alfred, aktives Mitglied der Republikaner, meinte, dies sei linke Propaganda, habe nichts mit der deutschen Realität zu tun und Alles sei völlig verzerrt dargestellt. Paolo unterbrach seinen Redeschwall mit der Bitte, sich doch mit dem Still, formalen Aufbau etc. und nicht mit dem Inhalt zu beschäftigen. Nachdem es keine Wortmeldungen mehr gab, rief Paolo Herrn Baal, so hieß der Unbekannte mit der Katze, auf das Podest. Langsam und bedächtig kam er hoch. Seine schwarzen Haare waren streng nach hinten gekämmt. Er sah aus wie 60 und wirkte erstaunlich vital. Er setzte sich und mit seinen buschigen Augenbrauen fixierte er seinen Text. Die blauen Augen passten nicht zu seinem südländischen Aussehen. Nur seine auffällige Narbe an der linken Wange störte das perfekte Bild eines Bonvivants. „Meine Damen und Herren, ich will Ihnen heute Lyrik vortragen.“ „ Zwei mal vorlesen bitte, das ist bei uns so üblich“, bat Paolo. „Aber gerne“ Mit ruhiger, tiefer Stimme trug er vor:

DU

Schreite zum Mond, er glüht in Dir
Schreite zurück in die Zeit mit Ihr
Blühende Gärten schimmern im Licht

Jean unterbrach nach einigen Sekunden die Stille.
„Irgendeine Mischung aus Romantik und Kitsch“, fiel sein ver-nichtendes Urteil aus.
„Wenn er wüsste, dass ich diese Verse mit Eichendorff damals geschmiedet habe“, dachte sich Baal. „Aber dies ist eine andere Geschichte.“
Bella gefiel das Gedicht besonders gut. Sie hing förmlich an seinen Lippen und saugte jedes Wort auf. Sie konnte sich nicht lösen von diesen Zeilen. Am liebsten hätte sie laut applaudiert und „hurra“ geschrien. Zeilen wie „Meine Hand auf deinem Wort“ ließen Seiten ihr schwingen, die sie lange nicht mehr empfunden hatte. Und außerdem: „Herr Ball ist ja eine prachtvolle Erscheinung. Wie er mich immer angeschaut hat beim Vorlesen. Mir war, als liest er das Gedicht nur für mich“, dachte sie sich. Franz, der immer den gleichen Pulli anhatte und skurrile Kommentare von sich gab, meinte: “Na, aus einem Bastei-Lübbe-Liebesroman abgeschrieben, hahaha, versuchens doch mal mit Rosamunde Pilcher, die ist noch billiger!“ Baal griff sich verärgert an seine Nase.
„Ich glaube nicht, dass sie nach dieser Aussage noch gut schlafen werden.“
„Wie soll ich denn das verstehen?“ „Sie werden es sehen, Herr..“ „Für sie Herr Risper, aber alle anderen nennen mich Franz, hohoho“
Pikiert stand Baal auf und verließ den Vorleseplatz, wobei er wie durch Zufall den Platz von Bella streifte und sie durchdrin-gend anlächelte. Bella wurde rot, was ihr schon lange nicht mehr passiert war. „Sie ist es, sie passt genau rein, ja, sie ma-che ich verliebt“, dachte er sich als er sich hinsetzte. Paolo bat theatralisch um Ruhe und verkündete: „Pause, 15 Minuten!“ Die Raucher gingen vor die Tür, an der Theke im hinteren Raum des Clubs konnte man Wein oder Bier kaufen. Das Bier natürlich aus der Flasche. Schnell war der Raum erfüllt von Diskussionen. Ab und zu entspanntes Gelächter.
„Herr Baal ist aber auch von ein seltsamer Vogel“, meinte Jean zu Bella.
„Meinst du?“
„Oder hast du schon Jemand gesehen, der mit einer Katze auf dem Schoß hier vorträgt?“
„Nein, das nicht, aber auf mich macht er einen guten Eindruck. Das sind doch noch wenigstens Männer mit Profil.“
„Das Gedicht erinnert mich an irgend Etwas, ich werde es noch raus finden an was.“
„Ah, da kommt er ja, unser Katzenliebhaber“.
Bella streichte sich verlegen eine Strähne aus ihrer Stirn.
„Guten Abend, junge Frau, hat Ihnen die Lyrik gefallen?“, fragte Baal Bella ohne Umschweife.
„Ja, sehr. So gefühlvoll und mit Emotionen. Sie haben wirklich Talent. Haben Sie schon öfters vorgetragen?“
„Ja, das mache ich schon hin und wieder, wissen sie, was soll man denn machen, wenn man unendlich viel Zeit hat?“
„Unendlich?“, fragte Bella nach.
„Sind wir nicht alle Staubkörner im Universum?“, dozierte Baal weiter ohne die Frage zu beantworten, „haben wir nicht alle eine Bestimmung, wir sind nur ein Augenzwinkern im Vergleich zur Unendlichkeit der Zeit auf dieser Erde, kaum sind wir geboren, tragen wir den Keim zum Tod schon in uns. Es ist eine Tragik des Lebens, dass wir nur eine bestimmte kurze Zeit auf diesem Planeten sind und danach wieder zu Staub werden. Ich hingegen…“ „
“Ja, Herr Baal“. „Ich hingegen, möchte jetzt einen Rotwein be-stellen und für meinen Kater eine Schale Milch.“
„Sagen sie mal Herr Baal, woran erinnert mich ihre Lyrik?“, fragte Jean.
„Dieses Gedicht wird sie an Joseph von Eichendorff erinnern. Ich kannte ihn mal ganz gut äh ich verehre ihn sehr…“
„Ja, Herr Baal ist wirklich seltsam“, meinte Bella, als er an der Theke seinen Wein bestellte, „aber nett!“. Paolo beendete die Pause.
„Bitte die Raucher wieder hereinkommen, wir fangen an!“
Der zweite Teil fiel ab. Es folgte eine Bewältigungsgeschichte einer älteren Frau, die über ihre überwundene Krebserkran-kung schrieb. Frei nach dem Motto: „Wie ich meine größte Kri-se bewältigte und ein besserer Mensch wurde.“ Hausfrauenliteratur im Teletubbie-Stil. Florian empfahl, es doch mal anstatt mit Schreiben mit einem Töpferkurs zu versuchen. Der nächste Autor las einen Ausschnitt aus seinem fertigen Buch über römische Geschichte. Als ob bisher Niemand darüber geschrieben hätte. Jean wies ihm stringent einige inhaltliche Ungereimtheiten und Verfälschungen nach. „Es ist ja nur für Hauptschüler geschrieben“, war die Antwort. Arme Hauptschüler. Der letzte Autor bildete den Tiefpunkt. Ein ehemaliger Pastor brachte eine Zote über einen Pfarrer da, der eine Frau kennen lernt, mit ihr Sex hat und danach mit ihr nach Südamerika durchbrennt. Natürlich Literatur der untersten Art, aber es gab sogar einige Lacher. Danach wurde abgestimmt. Das Ergebnis war überraschend: Auf allen Stimmzetteln stand an erster Stelle der Name Mithras Baal.
„Das stimmt was nicht“, sagte Florian zu Jean,
„Ich habe Baal nicht an erster Stelle gewählt.“ „Ich auch nicht!“, erwiderte Jean.
 



 
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