Ein himmlischer Prozeß

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Rakun

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Ein himmischer Prozeß

"Schon wieder eine Quintade (Himmelszeitraum von fünfzig Jahren) vorbei!", murmelte die Fee Boba Lyn, "kaum zu fas- sen!" Auf der Erde nannte sie sich Fe mit einem ‚e', um sich der enthusiastischen Abkürzungsmanie auf Erden anzupassen und damit niemand bemerkte, dass es sich bei ihrer Person um eine wahrhaftige Fee handelte. Abkürzungen erlauben in sich nichts Mystisches. Vorstellungskraft und Fantasie sind von vornherein ausgegrenzt. Lediglich zwei Buchstaben, Fe, das ideale Abkürzungsversteck in der Welt technisch logisch aufgebauter, kurz prägnanter Ausdrucksform. Boba Lyn hasste diese Verstümmelungsunart. "Es haben sich mittlerweile viel zu viele separate Sprachlager gebildet." war als Begründung für ihren neuen Erdauftrag zu lesen. "Tragen Sie die Lingualbarrieren ab, öffnen Sie Durchschlupftore für eine bessere Verständigung! Die Menschen sind unmutiger geworden. Vielen fehlt es an natürlicher Courage. Sie hinterfragen nicht, wenn sie etwas nicht verstanden haben. Das hat schon oft zu unzähligen Missverständnissen geführt. Entrümpeln Sie den Sprachenmüll!" Solch einen Auftrag hatte sie in all ihren Feenjahren noch nie erteilt bekommen. Sie saß auf Ihrer Flatterwolke hoch über Ostfriesland, als sie ihren Marschbefehl per Sonderbeauftragtenkurier erhielt. Boba Lyn war kurzsichtig und manchmal etwas schusselig, aber dafür sehr einfallsreich. Ab und zu spielte ihr das linke Ohr Hörstreiche und gab die skurrilsten Wortkreationen wieder, eigenartiges Satzgetümmel, was sie keineswegs beunruhigte. Ganz im Gegenteil, das setzte ihre verwegene Fantasie erst richtig in Gang. Meist lachte sie lauthals über das Gesagte. Ihre Gesprächspartner wiederum verstanden nie, was es da zu lachen gab. Nun bestand ihr eine neue Aufgabe bevor, mit der sie nichts anzufangen wusste, aber in ihrem Feenleben hatte sie schon ganz andere Dinge mit Bravour gemeistert. Ihr sehnlichster Wunsch war ein Gebirgsauftrag. Erstens war sie seit langem den Blick von oben gewohnt, zweitens hatte sie nur gelernt, ihren Zauberstab von oben herab in spiral förmigen Drehungen auszuschütteln, damit alle praktischen und guten Wünsche auf den Teil der Erde hinunter rieselten, für den sie zuständig war. In der Ebene musste sie erst
einen erhöhten Platz suchen, bevor sie ihre Arbeit beginnen konnte. Alle fünfzig Jahre dasselbe Dilemma. Ihrem Berg-wunsch wurde nie nachgegeben. Sie erfüllte die Voraus-setzungen nicht. Es haperte mit der Verständigung. Ihre norddeutsche Herkunft konnte sie nur schlecht mit dem süddeutschen Dialekt in Einklang bringen. Das wurde als äußerst arbeitshinderlich vom himmlischen Einsatzvergabebüro angesehen. Sie liebte den Singsang von Satzmelodien, im südlichen Sprachgebrumm dagegen hätte sie niemand ernst genommen. Das wäre untragbar gewesen, nicht zu denken an die vorprogrammierten Verwechslungen. Außerdem: der Himmel irrt nie! So ein Simpelmensch stellt sich diese begnadete Arbeit sicherlich recht einfach vor, wie ein Essen, das in Windes-
eile in den unappetitlichen eckigen Klingelkasten ohne Feu-
er geschoben wird: Stab raus, weg mit der Erfüllung, fertig. Jedoch im Detail liegt die Tücke verborgen. In ostfriesi-
schen windbeherrschten Deichlandschaften darf der Wind
nie ohne Aufsicht bleiben. Man kann es ihm nicht überlassen die funkensprühenden Erfüllungen weiterzutragen, dazu ist
er viel zu unberechenbar wild und unbeherrscht. Es ist Energie zehrend, eine synchron laufende Zusammenarbeit mit diesem windigen, verantwortungslosen Element aufzubauen.
Selbst himmlische Gestalten haben hier ihre größte Mühe. Oft kommt es vor, dass Seeschwalben eine Versprühboe aus-nutzen, Feensterne im Sturzflug aufzufangen, die ihnen wie- derum die ewig kampfbereiten Möwen abjagen. Bei solchen Kämpfen tritt der eingebaute Widerstandsmechanismus in Aktion: Überhitzung des Erfüllungsfunken. Der unberechtigte Besitzer lässt sein Diebesgut sofort unter großen Verbren-nungsqualen fallen.
Das Oberste Wunscherfüllungsgesetz besagt jedoch, fällt nur ein einziger Stern unsanft auf die Erde, verlieren alle an-deren, die noch in der Luft herum wirbeln sofort ihre Wirkung. Das bedeutet, die Arbeit fängt wieder von neuem an.
Dadurch kann ein Wunscherfüllungsausführer arg in Zeitbe- drängnis geraten. Ein lang ausgedehntes "O" entwich ihrem Mund. Sie holte tief Luft: "Oco!", hörte Boba sich dunkel aus dem Bauch heraus sagen und sah sich erschrocken um. Hatte sie auch niemand gehört? "O c o t!", ertönte es laut. Sie presste ihre Hände gegen den Mund. Das schlechte Gewissen hatte ihre Wangen dunkelrot verfärbt. Sie konnte nicht an sich halten. "Ocotea bullata!", ertönte es laut, gleich dreimal hintereinander, jedes Mal lauter. Ihr streng geheimes, selbst erfundenes Wutwort, von dem niemand etwas wissen durfte, brachte den gesamten Himmel zum Erzittern. ‚Oben' wird niemals geschimpft oder geflucht. Böse Wörter, brutale Ausdrücke sind zwar bekannt, aber nur einmal im
Jahr aus rein sprachwissenschaftlichen Gründen gestattet.
Die Benutzung solcher Wörter ohne vorherige Absprache mit einem Wortwahlbeamten ist gänzlich unerlaubt. Die Oberste Leitung ist einzig und allein befähigt Ausnahmegenehmi-
gungen zu erteilen, jeglicher Missbrauch wird mit schweren Strafen geahndet. Sie hatte die Beherrschung verloren, der Tag hatte schon nicht gut begonnen. Es war wie verhext, wie von selbst war es aus ihr herausgesprudelt, leider viel zu laut. Alle Wolken wackelten plötzlich so stark, dass ein übergewichtiger Methusalemengel fast hinunter gekippt wäre. Der Oberste Thron geriet gefährlich ins Wackeln, mehr als gefährlich. Sogar äußerst bedrohlich! Es dauerte nicht lange und sie sollte dem Suprasenatorengremium vorgeführt werden. Die Vibrationen kamen eindeutig von ihrer Wolke, sie war zweifelsohne die Verursacherin. Mit hochrotem Kopf stammelte sie halb verständliche Entschuldigungen, als sie von zwei großen, muskulösen Feenrichen abgeführt wurde. Das nützte ihr gar nichts. Hier ging es zu einer hochoffiziellen Anhörung. Jedoch war das Glück auf ihrer Seite, das Hauptgericht hatte Urlaub. Vor ihr hockten nun, etwas verlegen, auf den Schnellrichterstühlen drei Herren aus dem Wolkenumweltund Meteorologieforum. Ein Notersatzgremium, blitzschnell war es zusammen getrommelt. Sprachlich hatten die absolut keinen blassen Schimmer. Die saßen dort in ihrer institutionellen Zufallsfunktion und waren dazu verdammt, ein wichtiges Gesicht zu machen, distinguiert hinter abgeknickten Zeigefingern zu hüsteln und Kopf nickend die Verurteilung zu bekräftigen, nur um mit ihrer Anwesenheit die demokratische Überzahl zu bilden, drei gegen eine. Boba war sich nicht sicher, wem sie ihr Mitleid schenken sollte,
diesen deplazierten Herren oder sich selbst. "Den Zufall
muss ich ausnutzen", dachte sie, als sie ihre Beherrschung wiedergewonnen hatte und damit die Oberhand.
Als erster sprach der Mann aus dem Meteorologieforum. Er stellte sich als Supraersatzvorsitzender vor: "Ich bin Cirrus Meteó und heute für diesen Fall zuständig. Bitte erklären Sie sich! In allen Einzelheiten, wenn ich freundlichst bitten darf!"
"Ja, Monsieur Meteor." Boba rollte verlegen das ‚r' am Ende seines Namens.
"Meteó!", herrschte er sie an und betonte das Akzent tra-gende End-o. "Französischer Abstammung, Madame, nord- französische Atlantikküste, genaugenommen."
"Pardon, Monsieur Meteó", entschuldigte sich Boba und legte die Betonung weich und sanft, aber unüberhörbar auf den gewünschten letzten Buchstaben. Ehrfürchtig blickte sie ihn aus dunkelbraunen Augen an. Plötzlich erwachte die weibliche List in ihr. "Oh, Monsieur Meteó", erwiderte sie diplomatisch "ich stamme auch aus dem Norden, direkt von der Nordsee, dem kleinen rauen Bruder des Atlantik. Welch Zufall! Nur die Niederlande trennen uns, rein geographisch. Wir sind also beide Nordlichter." Eine verbindende Gemeinsamkeit war hier von äußerster Dringlichkeit! Unbemerkt hatten sich die verschlafenen Liebeshormone in ihr aufgerafft und sich alle vollständig zur gezielten Flirtarbeit zusammengefunden. "Überraschung!", hämmerten sie heftig. Gleichmäßig bebte es von innen gegen das Trommelfell. Ihre Hormone hatten es sofort erkannt: "Das
ist er, das ist dein Mann!" Ahnungslos musterte sie ihren Richter mit leicht hochgezogenen Augenbrauen, den Kopf zur Seite geneigt, nicht zuviel, nur ein klein wenig. Da war es wieder, dachte sie, das hellblaue Blitzen in seinen Augenwinkeln. Ich habe mich also nicht geirrt. Er hat angebissen. Boba fühlte sich nicht mehr so hilflos ausgeliefert, "denen werde ich es zeigen! Einer auf meiner Seite, das genügt!" Ihre Hormone zwängten sich durch alle Adern, ließen sie innerlich glühen. Boba unterlag einem fatalen Vorsilbenirrtum. Sie tat ihre Unruhe als Aufregung ab, ihre Hormone wiesen ihr den richtigen Weg und hämmerten erneut von innen: "Er-regung! Er-regung!" Dezent rieb sie sich ihre Ohren. Sie zwang sich unschuldig, aber aufmerksam aufzutreten. "Wähl den unteren Weg", dachte sie, "schön defensiv bleiben, Boba Schätzchen. In deiner Schwäche bist du stark!" "Nun, Angeklagte, was haben sie vorzubringen?!", hörte sie ihn aus der Ferne fragen.
"Seine Stimme! Seine wunderbare Stimme!", klopften die Hormone wild und aufgebracht, diesmal von innen gegen die Stirn. "Ja, Angeklagte, wir hören", sagten die anderen beiden ein stimmig wie auf das Einsatzzeichen eines Chorleiters, "Sprechen Sie, jetzt und hier, laut und deutlich!" "Meine Herren Vorsitzenden", begann sie zaghaft. "Es tut mir außerordentlich leid, daß ich Sie durch ein bedauerliches Missverständnis zu diesem Termin genötigt habe." Eine freiwillige Entschuldigung macht sich immer gut, und sie gewann noch ein bisschen Zeit. Eine plausible Ausrede fehlte ihr.
"Wir wollen keine Entschuldigung, wir wollen eine Er-
klärung!", polterte Cirrus Meteó. "Ja, Erklärung.", schaltete sich das Zweistimmenecho von links und rechts ein.
"Ja, sehr verehrte Herren Vorsitzenden," sie holte tief Luft
und schaute von einem zum anderen, "ja, ich verstehe."
"Sie verstehen gar nichts, überhaupt nichts, verstehen
Sie!", herrschte er sie an. Die männliche Ungeduld übernahm sofort die Leitung des Frage- und Antwortspiels. "Wie kommt es, dass Sie frühmorgens unerlaubten Herrenbesuch auf Ihrer Wolke empfangen? Das ist einwandfrei nachgewiesen."
Boba war völlig entgeistert und verwirrt über den Verlauf
Ihrer Anhörung. Welcher Herrenbesuch? Aus welchem Grund war sie vorgeladen? Stand sie etwa gar nicht wegen der bei-den Wörter vor Gericht? Vielleicht war alles nur eine Ver- wechslung. Sie verstand überhaupt nichts mehr.
"Vorsichtig, vorsichtig!", dachte sie, "verplapper dich
jetzt bloß nicht!" "Herrenbesuch, ehrwürdiger Herr Richter? Ich war allein und das ist wahr."
"Können Sie einen Beweis erbringen?" Cirrus schob den Kopf etwas nach vorne, als ob er die Antwort nicht abwarten könnte. "Ehrfürchterlicher Richter," rutschte es ihr heraus, "ich war allein!" Boba war entsetzt über diese Unlogik.
"Ehrfürchterlich?", klang es von rechts und links im Chor.
Diesen schrecklichen Lapsus zogen die zwei Papageien- beisitzer gekonnt in die Länge. "Ach seien Sie doch still, Sie, Sie!" Cirrus fuchelte mit beiden Armen nach links und rechts und hatte Gott sei Dank nicht zugehört. Für einen Moment fühlte Boba fast nichts mehr und sehnte eine Ohnmacht herbei. "Bleib locker! Ganz locker", ermahnte sie sich. Über ihre Wortschöpfung musste sie innerlich lachen, gab sich aber alle Mühe diese Peinlichkeit zu überspielen. Die einzige Rettung: Gegenangriff! "Darf ich um Ihren Beweis bitten, Monsieur Meteó, bitte?" Ein leicht scharfer Ton untermalte das Wort "bitte". "Wie bitte?", lautete seine verständnislose Gegenfrage. "Welchen Beweis hat das Hohe Gericht?" entgegnete sie. "Ach ja, Beweis. Dieser Schrei war nicht zu überhören. Ein lautstarker Beweis, der für sich spricht." "Monsieur Meteó, als ich die Nachricht vom Kurier erhielt, hab ich ihn auf meine Wolke gebeten, weil er meine Post erst suchen musste. Sie war in der Tasche ganz nach unten gerutscht. Der Kurier hat gesehen, dass ich mutterseelenallein war. Ich werde ihn herbeirufen lassen."
"Papperlapapp, wenn hier jemand eine Person herbei zitiert, bin ich es und sonst niemand!" Das Doppelecho fügte hinzu: "Nur wir zitieren!" "Sehr verehrte Herren, ich versichere Ihnen nochmals, ich habe nichts Unstatthaftes getan."
"Wer in allen Himmeln hat dann diesen Ausdruck über alle Wolken geschmettert, etwa eine Frau?", wollte Cirrus jetzt ohne Umschweife wissen. "Dieses okathello butschatscha oder okateka bulldato?" Sie musste handeln, koste was es wolle. Ein Lächeln über die Verwandlung ihres Geheimwortes konnte sie sich trotzdem nicht verkneifen. Cirrus hatte sich solche Mühe gegeben! "Ocotea bullata", sagte sie ganz ruhig und etwas zu leise. "Können Sie es bitte wiederholen?", wurde sie aufgefordert. "Ja, wiederholen", plapperte es wieder von beiden Seiten. "Ocotea bullata?", fragte sie bewusst freundlich. "Was in Himmelsnamen hat das zu bedeuten?" Sie durfte jetzt keine Zeit verlieren. Sie musste weiterreden. Wiederholungen sind einprägsam. "Ocotea bullata", sagte sie betont neutral, "gehört zum Vorbereitungsprogramm für meinen Erdauftrag. Sprache muss gesprochen werden, also sagte ich die Wörter." "Ja, das war nicht zu überhören. Sie wollen mir hier doch nicht weismachen, dass Sie gebrüllt haben. Es hörte sich eher an, als ob ein afrikanischer Medizinmann eine Beschwörungsformel ruft!" "Sie sind ein exzellenter Zuhörer, Herr Vorsitzender." Die Männerseele will, muss gelobt werden, besonders in solch einer einflussreichen Position! "Wie bitte?", er sah sie ungläubig an. "Diese Augen! Sieh in diese blauen Augen!", die Hormone traten wieder in Aktion. Nein, nein, hier wird keine Liaison angezettelt! Endlich hatte sie bemerkt, was in ihr vorging. Dieser Hormonaufruhr wird nur als zweckdienliches Hilfs-
Hilfsmittel eingesetzt, nahm sie sich vor. Zweckmäßiger Flirteinsatz um überzeugend das Ziel zu erreichen. "Monsieur Meteó", begann sie erneut, "ja, ich habe so laut gesprochen. Das leugne ich in keiner Weise. Wie gesagt, ich muss für meinen bevorstehenden Auftrag üben. ‚Da unten' ist das mütterliche Sprachgut hochgradig gefährdet, ich soll rettend eingreifen. Der unaufhaltsame technische Fortschritt verlangt nach neuen Wörtern. Man wirft mit Abkürzungen nur so um sich, das grenzt an Sprachpiraterie. Diese Entwicklung erfordert gleichzeitig den Einsatz der englischen Sprache, einer Sprache, die allerorts verstanden wird. Die Länder der Welt sind näher zusammengerückt." "Sie meinen Kontinentalverschiebungen?"
"Nein, Monsieur Meteó, Menschen unterhalten sich über Spezialapparate, man nennt es digitale Kommunikation. Entfernungen sind dadurch kürzer, jeder kann mit jedem, wann und wo er möchte sprechen." "Sie meinen, man sieht sich nicht mehr in die Augen, sondern spricht durch ein Gerät?", fragte er ungläubig."Nein, ja, nicht nur." Boba schüttelte den Kopf. "Eine einheitliche Sprache ist doch etwas Wunderbares", ereiferte sich Cirrus. Das Ablenkungsmanöver war geglückt. "Hast du den Glanz in seinen Augen gesehen?", trommelten die Hormone wieder los. Jetzt durfte Boba nicht aufgeben. Die Taktik musste sie beibehalten. "Meinen Herren, wissen Sie, warum Lukullus sich seit einiger Zeit weigert Erdaufträge auszuführen?" "Lukullus weigert sich?", Herr rechts und links meldeten sich zuerst zu Wort. Wolkentratsch kam immer gut an. "Sprechen Sie!", forderte Cirrus, er konnte seine Neugier kaum zügeln. "Ja, meine Herren, Lukullus lehnt Erdreisen strikt ab, seitdem delikate Speisen mit Zahlen auf einer Menükarte stehen. Das ist für ihn brutale Paragraphenauflistung." Entsetzlich! Furchtbar!", kam es dreistimmig. Alle waren einer Meinung. "Das bedeutet, Kartoffelpüree hat eine Nummer und heißt nicht mehr Kartoffelpüree?" Das pure Entsetzen stand ihm in den Augen geschrieben. "Nummeriertes Essen, es ist nicht zu fassen!" "Aha", dachte Boba, "sein Lieblinbgsessen, das muss auskosten!" Cirrus wirkte äußerst besorgt. "Wie erfahre ich die Bestellnummer für Kartoffel-
püree?" er beugte sich weit vor. "Der Ärmste!" Die Hormone kribbelten, diesmal direkt unter der Kopfhaut. Plötzlich stand er ihr so nah. "Das finde ich gern für Sie heraus, Cirr...", beinahe hätte sie ihn beim Vornamen genannt. "Ehrenwertes Gericht," verbesserte sie schnell. "mögen Sie es lieber glatt püriert oder mit Kartoffelstückchen?", fragte sie mitfühlend.
"Mit Stückchen natürlich, und vielen dunkelbraun ausgebra-
tenen Zwiebelringen." Cirrus verdrehte genüsslich die Augen. "Wolkenbruch und Donnerknall!" er schlug mit der Faust auf den altersschwachen Richtertisch. Für einen Moment hatte er sich völlig vergessen. "Was ist bloß los auf dieser Erde? Wie soll man bei einer Nummer genießen können? Wo bleibt die Vorfreude? Was fällt denen ‚da unten' eigentlich ein? Wortbanausen, Sprachbarbaren, gemeine Lustbanditen, gedankenlose Genussdiebe." "Schrankenlose Verlusttriebe," das linke Ohr spielte ihr wieder einen Streich. Die Herren Doppelecho blieben diesmal still, flankierten Cirrus sprachlos und mit hochrotem Kopf. "Ja, Sie haben vollkommen recht, Herr Meteó. Und es kommt noch schlimmer. Die Wort-
verschwörer grenzen sich absichtlich ab. Die isolierten Wortopfer wehren sich nicht, sie nehmen es einfach hin.", setzte Boba fort. "Ich verlange sofort, dass eine Sonderkommission für die Erstellung von Verlängungs-
wörterbüchern gebildet wird!" "Das ist ein äußerst kluger Befehl.", bekräftigte Boba. "Erster Protokollist, Sie veranlassen, dass nur g e l ä n g t gesprochen wird. Jede Abkürzung wird umgehend bestraft! Beeilen Sie sich!" "Und", donnerte er hinter dem aufgeschreckten Beisitzer her, "Zahlen werden nur dort eingesetzt, wo sie Sinn machen!" Cirrus war nicht zu bremsen. "Ehrenwerter Herr Meteó, darf ich etwas einflechten?" "Ja, was gibt es noch?" fragte er unwirsch. "In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Anglizismenverseuchung hinweisen, eine weitere Unart. Um modern zu sein, müßte ich meinen Namen ‚da unten' verenglischen, zum Bei-spiel in: Baby Nol. Nie sind die ‚da unten' mit dem zufrieden, was sie haben, immer muss was Neues her. Erst wenn es zu spät ist, muss ein Zufalls-
glücksretter harte Arbeit leisten das Muttersprachenurtum zu erhalten." Boba war voll in ihrem Element. Die Verhandlung driftete in eine Richtung ab, die sie unbedingt beibehalten musste. "Nun sind es nur noch zwei! Mach weiter, Boba! Du bist erstklassig. Er mag dich!", ihre Hormone überschlugen sich fast. "Sprache ist Leben, Musik, Gefühl. Sprache ist Macht, heimliche Macht, gefährliche Macht.", setzte Boba ihr Plädoyer für die Sprache fort. "Worte spiegeln jede Gefühlsregung wider. Wörter, Sätze leben erst in der Gesamtheit mit dem Menschen, der sie ausspricht. Denken Sie an die Dialektfärbungen, man erkennt sofort, aus welcher Region jemand stammt. Sprache ist unerschöpflich, sie ist der hörbare Gedankenzwilling des Menschen." endete sie atemlos. "Genug, genug, Sie verwirren mich, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!", Cirrus mahnte sich selbst zur Vernunft. Er hätte ihr noch viel länger zuhören können, aber das erlaubte seine Stellung nicht. Irgendwie musste er seinen überflüssigen Nebenmann hinaus komplimentieren.
"Das mit dem Anglizismus, wie Sie es nennen, ist es wirk-
lich so gefährlich?" "Ja, Herr Richter.", sagte Boba. "Menschen sagen Wörter, die sie gar nicht verstehen", fügte sie hinzu. "Sie meinen, die ‚da unten' betreiben Missbrauch?", fragte er ungläubig. "Ja, Herr Richter." "Gleich ist er soweit, gleich hast du ihn!", ihre Hormone führten einen wahren Hexentanz auf, feurig, heiß. "Zweiter Protokollist!", befahl Cirrus mit scharfem Unterton, der keine Widerrede zuließ. "Werfen Sie den Anglizismus raus! Unverzüglich!" "Sie wünschen?", fragte der Übriggebliebene, er verstand die Welt nicht mehr. Boba ergriff das Wort, um ihrem Cirrus die Peinlichkeit einer Erklärung zu ersparen. "Unser ehrenwerter Herr Richter Meteó hat befohlen, den Anglizismus zu verbieten." "Danke, Angeklagte, vielen Dank. Sie sehen, sogar bei uns gibt es Verständigungsschwierigkeiten. Die Bildung läßt sehr zu wünschen übrig. Was war daran so diffizil?", verstohlen wischte er sich Schweißperlen vom Haaransatz. "Nun zurück zu uns. Wo waren wir stehen geblieben?", fragte er geistesabwesend und schaute sich um. Was hatte er getan? Wie konnte er nur. Nun war er mit dieser Person ganz allein. Boba spürte siegessicher, wie er sich selbst in die Enge getrieben hatte. Endspurt nahm sie sich vor. "Sei lieb zu ihm!", flüsterten die Hormone, "er braucht dich." Sie schüttelte leicht den Kopf, als ob sie eine störende Fliege verjagen wollte. "Angeklagte, zurück zu uns." Er hatte den Faden verloren. "Sprachverfälschung ehrenwerter Herr Vorsitzender", sagte Boba leise verschämt.
"Nennen Sie mich bitte nur bei meinem Namen", lenkte er ein und war ihr von Herzen dankbar. "Ja, Herr Meteó. Danke Herr Meteó. Mit fremdländischem Spracheinfluss versuchen die ‚da unten' Einheitlichkeit zu erreichen, vergessen aber, dass diese Unmode unsichtbare Verständigungsgrenzen zwischen Jung und Alt zieht. Vorprogrammiertes Unverständnis, Miss-
deutungen, Desinteresse, Zerwürfnis sind die Folgen. Rasend schnell ändert sich alles. Die Alten können kaum Schritt halten. Gefühle gehen verloren, finden in den neuen Wörtern keinen Platz mehr. Sprachpsychologisch fühlen sie sich durch die Knappheit der neuen Wörter kastriert."
Cirrus unterbrach sie aufgeregt: "Hat das etwas mit ihrem
Auftrag, mit diesem," er geriet ins Stottern, "mit diesem
otakata balluto zu tun?" "Ocotea bullata", entgegnete sie höflich und ruhig. "Ja, ja", sagte er. Er wollte sich keine Blöße geben. "Treten Sie bitte näher und reichen Sie mir Ihren Auftrag, ich möchte ihn genau studieren!" Boba kramte in ihrem Wolkenbeutel. Zitternd trat sie vor und reichte ihm den zerknitterten Brief. Er sah sie freundlich an und streckte ihr seine Hand entgegen. Unbeabsichtigt berührten sie sich. Cirrus schaute sofort weg und machte sich eifrig mit seinen Papieren zu schaffen. "Pardon, Madame, bitte nehmen Sie Platz", sagte er. Ungelenk hantierte er mit seiner Feenschreibfeder. "Er liest meine gesamte Wolkenfeenakte", dachte Boba und erschrak. "Wann hatten sie den letzten Spracheinsatz?", fragte er. Sie musste lange überlegen, sehr lange. Warum will er das
wissen? Es raschelte unaufhörlich, er blätterte und blät-
terte, als er ob etwas Bestimmtes suchte. "Ja, bitte, Madame Lyn, ich höre", wiederholte er. "Er sagt nicht mehr Angeklagte, hörst du, Schätzchen?", ihre Hormone waren ganz außer sich. "Monsieur Meteó, das ist schon eine Weile her, wenn ich mich recht entsinne. Das genaue Jahr weiß ich nicht mehr." "Ungefähr", bot er an. "Ich kann mich nur ganz dunkel erinnern, Monsieur Meteó." Sie hoffte, er würde sich mit der Antwort zufrieden geben. "Wir müssen ein Ende finden in dieser leidigen Angelegenheit. Es gibt weitaus amüsantere Dinge, nicht wahr?" Er lächelte sie verschmitzt an. Boba schoss das Blut in die Wangen, ihre Hormone waren in Höchstform. "Amüsant nicht wahr?", war das einzige, was sie heraus brachte. "Ocoteaahh bullataahh", hörte sie von fern. Aus seinem Mund hörte es sich wahrhaft himmlisch an. Wie beruhigend seine Stimme war. "Madame Lyn?", sagte er etwas lauter. Erschrocken sprang sie hoch. "Herr Cirrus, pardon, Monsieur Meteó." Sie stolperte vor das Richterpult." Sie war völlig durcheinander. "Langsam, langsam, Sie haben sich doch nicht etwa verletzt?" Besorgt beugte er sich weit zu ihr vor. Er schien nicht gehört zu haben, welchen Schnitzer sie sich erlaubt hatte. Sie durfte die Konfrontation nicht scheuen. Mutig sagte sie mit klarer Stimme: "Monsieur Meteó, dieser Ausdruck symbolisiert den vielfältigen Einsatz der Sprache. Die ganze Bandbreite der Gefühle liegt hier verborgen. Betonung und Satzmelodie verleihen Wörtern erst Leben. Dialekte zum Beispiel sind das Zaubergewürz einer Sprache. In meiner norddeutschen Heimat zum Beispiel würde man es: "oggodea bulladda" aussprechen." Cirrus erlaubte sich ein herzhaftes Lachen. "Wenn Sie das so über die Wolken gerufen hätten, stünden wir jetzt nicht hier. Sagen Sie es bitte noch einmal." Amüsiert schaute er auf ihre hübsch geschwungenen Lippen. Schnell besann er sich seiner Position und kramte wieder ernst in seinen Unterlagen. "Was haben wir denn hier?" Boba Lyn erschrak. Von ihrem Platz aus konnte sie nicht erkennen, was er in seinen Händen hielt.
"Hier auf dem Umschlag für Ihren Einsatzbefehl sehe ich einen ganz anderen Adressaten: Herrn Jambus Alexandriner. Was haben sie mit dem Herrn zu tun?", fragte er streng von oben herab. "Ihr morgendlicher Besuch, vielleicht?"
Er ertappte sich, wie die Eifersucht ihn unmerklich befiel.
"Das muss ein Versehen sein, ich kenne den Herrn nicht.", antwortete Boba ohne Zögern. "Angeklagte", hörte er sich sagen, "erklären Sie sich dem Hohen Gericht!" Diese Wortwahl stellte die nötige Distanz wieder her. "Ocot", dachte sie, "meine Hormone, wo sind sie?" "Ich schwöre bei allen Wolkensternen, ich habe diesen Namen noch nie gehört!" Cirrus musterte sie streng. Sagte sie die Wahrheit? Ein warmes Gefühl in seiner Magengegend rehabilitierte sie. "Madame Lyn", sagte er nun wieder etwas zuvorkommender. Wie gleichmäßige Wellen durchflutete seine Stimme ihren ganzen Körper. "Ich lese hier, Boba Lyn ist ihr Feenpseudonym ist. Ich nehme an, Sie sind im Besitz der Ordentlichen Namensänderungserlaubnis! Verraten Sie mir bitte ihren richtigen Namen?" Boba Lyn wollte lieber im Nebel versinken. Sie fühlte ihre Widerstandskraft schwinden. "Bitte, ich höre?", drängte er sie. "Nur das nicht", dachte sie. Ihre Beine drohten zu versagen. "Babylon", sagte sie tonlos. "Ocotea bullata?", fragte er. "Wie bitte?", stotterte sie und rang nach Luft. "Ja", hörte sie ihn sagen, "ich glaube, ocotea bullata bedeutet: wie bitte, nicht wahr?" "Babylon, mein Geburtsname lautet Babylon", sagte sie tapfer, mit fester Stimme. "Warum haben Sie das nicht gleich gesagt. Das ist ja wunderbar." Ihm fiel ein Wolkenstein vom Herzen, sie hatte doch kein Techtelmechtel mit diesem Jambus. Der Brief war wirklich falsch adressiert. Blaue Himmelsfunken blitzten Boba entgegen. "Monsieur Meteó", erkärte sie weiter, immer noch verwirrt über die Entwicklung ihrer richterlichen Anhörung. "Hier oben", erklärte sie, "nenne ich mich seit vielen Ewig-keiten Boba Lyn, und ‚da unten' manchmal Baby Nol zwecks englischer Anpassung. Mit Babylon will niemand sprechen, mit Babylon will keiner etwas zu tun haben. Den Grund können Sie sich sicherlich denken." Cirrus sah sie mitleidig an. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen. "Beruhigen Sie sich, meine Liebe." "Ehrenwertes Gericht, ich habe nichts Unerlaubtes getan, ich habe nur die Buchstaben meines Namens anders sortiert." Er spürte wie verzweifelt sie war. "Ja, ja, das kennen wir, darin sind Sie unschlagbar. Verzeihen Sie, Boba." Er kam hinter seinem Richterpult hervor. "Ich habe es nicht so gemeint."
Sie starrte traurig auf den hellgrauen Wolkenboden. Ihre Hormone mühten sich erfolglos ab, gegen ihre Traurigkeit konnten sie nichts ausrichten. Er raffte seinen nachtblauen Richtermantel und musste acht geben, dass ihn das über- große Paragraphengewand nicht zu Fall brachte. Er führte
sie zu ihrem Stuhl. "Ich werde jetzt das Urteil sprechen! Es wird alles gut, machen Sie sich keine Sorgen, meine Liebe."
Das war das Alarmwort, alle Hormone standen in Reih und
Glied, bereit sofort loszuschlagen. "Liebe, ja es ist Liebe.
An erster Stelle steht meine Liebe zur Sprache." Allein das Wort auszusprechen, in seiner Gegenwart, versetzte sie in eine unbeschreibliche Stimmung. "Ich weiß. Das Hohe Gericht erklärt die Angeklagte hiermit für unschuldig!" Entspannung und Erleichterung durchströmten den Raum. "Das Schlimmste konnte ich sogar abwenden, indem ich die Zusammenhänge aufgedeckt habe. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn", er unterbrach sich mit Rücksicht auf die immer noch verstörte Boba Lyn. Er wollte vermeiden, ihren richtigen Namen zu nennen. "Allen Himmeln sei Dank", dachte er, "es bleibt zwar alles beim Alten ‚da unten', aber das ist das geringste Übel!" "Bitte nennen Sie mich Cirrus! Jetzt haben wir alle störenden Differenzen ausgeräumt. Kein Gesetz steht mehr zwischen uns." "Ja, wie Sie wünschen, Cirrus." Ihre Stimme bebte. Wild sprangen ihre Hormone im Sambatakt. "Ocot, könnten Sie ihre eindrucksvolle Robe bitte ablegen? Ich meine, ich würde mich glücklich schätzen, wenn Sie Boba zu mir sagen." "Oh, pardon Boba, ja natürlich, wie gedankenlos von mir." In Windeseile hatte er das umständliche Kleidungsstück abgelegt. Leichtfüßig kam er um das Pult auf sie zu. Der weite Richtermantel hatte die appetitliche Männlichkeit gänzlich verhüllt. Sie erschrak bei dem Anblick und errötete. Vor ihr stand ein Bild von einem Mann. "Oc..." Es verschlug ihr fast den Atem. Mit einem hinreißendem Lächeln öffnete er ihr das schwere Tor zur weiß blauen Freiheit. "Bevor wir den Himmelssaal der Obersten Gerechtigkeit verlassen, müssen Sie mir bitte noch einen Gefallen erweisen, liebste Boba." "Ja bitte, Cirrus?", sie genoss es, wie er sie bei ihrem selbst erwählten Vornamen nannte. "Ich kann Ihnen nicht widerstehen, wenn Sie d i e Wörter sagen. Sie wissen schon, aber bitte gewürzt mit dem unwiderstehlichen Charme ihres Heimatakzentes."
"Oggodea bulladda?" Wie in Trance erfüllte sie seinen Wunsch. "Ich habe etwas vergessen." Sollte sie die Wahrheit sagen, jetzt nach ihrem Freispruch? Erwartungsvoll sah er
sie an. "Eigentlich", begann sie vorsichtig, "dienen d i e beiden Wörter dem Belüften der Seele." Ihr blieb keine andere Wahl. Ihr Blut hatte den Siedepunkt erreicht.
"Belüften wir die Seele!", lachte er übermütig.
"Jetzt, Boba Schätzchen!", hämmerte ein aufgebrachtes Heer von Hormonen. Boba Lyn ergab sich kampflos und begann zu singen. D i e zwei Wörter zur Melodie eines fast vergessenen Liedes: Ganz Paris träumt von der Liebe.


*** ocotea bullata (lat.) = Stinkholz
 



 
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