Ein leeres Zirkuszelt

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Weinstein

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Ein leeres Zirkuszelt

Es war halb eins mittags und Cord musste sich beeilen, wenn er noch rechtzeitig beim Essen sein wollte, bevor der Rest der Büro-Belegschafen ringsum sich auf den Weg machte. Er ging sonst nie alleine Essen, aber es war Urlaubszeit. Das Büro war nur halb besetzt. Und er hasste es mit dem Kollegen Schmidt essen zu gehen. Paul Schmidt war Ende 40. Reihenhausbesitzer. Sein Büro lag schräg gegenüber von Cord. Bei jedem Gang zum Klo, zum Kopierer oder zur Kaffeemaschine kam er an seinem Büro vorbei und verwickelte ihn mit irgendeiner Frage oder Bemerkung in ein fünf Minuten Gespräch. Zeitverschwendung. Das musste heute nicht auch noch das Mittagsprogramm sein. Cord griff in die oberste Schublade seines Rollcontainers unter dem Schreibtisch und trennte einen Gutschein aus dem Lunch-Deal Heft. Mit der Jacke seines Anzugs über der Schulter ging er raus auf die Straße.

Es war warm, aber der Himmel war leicht bedeckt. Der Wind wehte den Geruch von Asphalt und Abgasen über ihn als er aus der Tür auf die Straße kam. Er sah zum erst mal das tiefe Loch schräg gegenüber dem Bürokomplex, weil eine der Holzverkleidungen zur Seite geschoben war: Die Baugrube für das neue Einkaufzentrum, ausgehoben auf 15 Meter Tiefe, wie eine Körperöffnung der Erde klaffte das Loch. Früher hatte dort einmal das Theater der Stadt gestanden. In ein paar Monaten würden Menschen samstags an bunten Schaufenstern vorbeilaufen und ihre Zeit mit dem Aussuchen von Jeans und Schuhen verbringen. Er musste an eines der Theaterstücke denke, die er dort einmal gesehen hatte, Büchners „Leonce und Lena“. Darin erklärt der melancholische Prinz: „Mein Leben gähnt mich an wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus.“

Cord konnte Prinz Leonce gut verstehen: Irgendwann träumte er über ein Leben, das ihn irgendwie mit Bedeutung füllen würde. Es würde keine Tage geben, sondern nur Heldentaten. Was konnte man nicht alles tun. Ein Rächer oder ein Held auf der Bühne, vielleicht Rockmusiker, ein bewunderter Journalist. Große Gesten. Jetzt hatte er den Überblick verloren. Kontoauszüge, Sozialversicherungsbescheinigungen und Hausratversicherung. Jetzt kam ihm sein Leben wie eine Betriebsstörung vor, wie das Testbild im Fernsehen, das früher bei der ARD am Vormittag lief, wenn er krank bei seiner Oma auf dem Sofa lag.

Cord war in der Vorstadt groß geworden. Seine Eltern hatten ihn dorthin gebracht, weil die Häuser preiswert waren und die S-Bahn in die Stadt alle 25 Minuten fuhr. Reihenhausriegel und Neubau-Planquadrate, die wie Geschwüre auf den Stadtplänen der Vorstädte aussahen. Die Eltern hatten Garagen in denen 3er BMW, Golf oder Benz standen. Waben aus Reihenhauskolonien nährten Abteilungsleiterkinder, Handwerkersöhne, Angestellten-Nachwuchs. Alle träumten, aber keiner wusste genau wovon. Irgendwie würde es weitergehen mit dieser Welt. Lebensstandard halten war keine Frage, sondern eine Gewissheit. Ein Leben wie eine Gravitationskonstante, ein Planet auf einer Umlaufbahn. Irgendwann später im Leben stellte Cord fest, dass alle aufregenden Träume im Leben gestohlen waren – sie waren verbraucht. Auszahlungen an die Generationen vor ihm. Als Cord Mitte der 90er die Schule verließ arbeitete man sich noch hoch. Es gab noch keine New Economy und Spinner, die mit wilden Internetfirmen im Monat mehr verdienten als die Eltern zusammen in zehn Jahren. Cord wurde geboren in eine Generation, die keine wirklichen Träume mehr zu haben brauchte. Mittelschicht in Deutschland in den 70er Jahren. Die Republik war angekommen, kein Provisorium mehr. Die 69er hatten das letzte große Tabu gebrochen – den Muff der Nachkriegsgemütlichkeit war schon gelüftet. Seinem Großvater die Frage zu stellen, wo er 1933 war und warum, wäre albern gewesen. Baader und Ensslin hatten als RAF mit der Knarre in der Hand schon die Utopie gestürmt. Als Cord in die Grundschule kam, wurden die Grünen in den Bundestag gewählt. Cords Eltern konnten einmal im Jahr in Urlaub fahren und seine Mutter fuhr Golf Cabrio. Sein politisches Interesse entwickelte sich in einer Zeit, in der es genau einen Kanzler gab – Helmut Kohl. Alternativen schien es nicht zu geben. Cord feierte seine Volljährigkeit in einer Welt, in der Globalisierung noch ein Buchtitel war, der im Buchladen unter Aktuelles stand. Die Larven der Reihenhauswaben, die sich abends am Ende der Straße unter der Laterne trafen, um zusammen etwas zu erleben, waren irgendwo dazwischen. Studieren war für Cord noch ein ernsthaftes Unterfangen bei dem die Bildung im Vordergrund stand. In Runden, in denen Joints kreisten, debattierte man aufgeregt darüber, dass die Universität immer verschulter werde und eine Universität nicht der Industrie hörig sein solle. Damit war man in guter Gesellschaft. Die Uni war voll von Studenten, die 15 oder mehr Semester im Studienbuch hatten. Aus diesen Menschen waren noch keine globalen Manger zu machen. Ein Auslandsstudium war noch keine strategische Überlegung für den Wettbewerb der Lebensläufe, sondern einfach ein Abenteuer. Diese Menschen waren nicht vorbereitet auf die Jahrgänge nach ihnen, die ihre Lebensläufe angehen würden, wie Geschäftspläne. Was sollte Cord und den anderen passieren, so dachten sie.

Cord stand vor der Menu-Tafel im Goody Foody, wo er regelmäßig Mittag aß, weil es in der Innenstadt sonst nur Junk-Food oder schweres Essen gab, und suchte nach einem Mittagessen. Eine junge, rothaarige Frau in einem schwarzen engen Rock vor ihm bestellte gerade den Tages-Gemüse-Teller und ein stilles Mineralwasser. Ihre Unterwäsche zeichnete ein kleines Relief auf das Hinterteil ihres Rocks. Er dachte an Sex und konzentrierte sich für eine Sekunde auf den Parfümduft, der sich mit ihrer Haarspülung gemischt hatte. Er schloss für eine Sekunde die Augen und atmete ein: Dior J’adore, er kannte den Duft. Sein Gehirn schaltete auf Videoclip-Modus, während er mit seinem Blick über ihren Rücken wanderte. Cord sah Sequenzen eines roten Haarschopfes, der sich krampfhaft in ein Kissen drückte, einen Mund, rote Lippen, weiße Brüste, die spitz aufragten. „Was darf es denn für Sie sein?“, fragte die Frau hinter der Theke. Cord brauchte zwei Sekunden um wieder in die Realität zu kommen. „Eine Ofenkartoffel mit Gemüse-Relish und einen Orangensaft, bitte, groß.“ Cord sah dem roten Haarschopf hinterher. Sex, eine von zahllosen Freizeitbeschäftigungen des modernen Menschen. Jederzeit verfügbar. Grenzenlos.

Cord schälte das Innere seiner Kartoffel aus und versuchte einen Rest Gemüse-Creme mit dem mehligen Stück auf seiner Gabel aufzuwischen. Cord schaffte es nie die Gemüse-Creme für die ganze Kartoffel aufzuteilen, das letzte Drittel der Kartoffel blieb immer ohne Gemüse-Relish. Cord sah durch die Fensterfront auf die Straße – die Welt vor dem Fenster. Alles in diesem Leben hatte eine Funktion. Die Mittagspause diente der Nahrungsaufnahme, Urlaub – so sagte es der Bogen der Personalabteilung – war Erholungsurlaub. Sein zusätzliches Gehalt war eine Incentivierung, ein Anreiz mehr zu leisten als der Typ im Büro nebenan. Cords Funktion war es, die Träume von Unternehmen in anschauliche Berichte zu verpacken. Geschäftsberichte von selbsternannten Weltmarktführern, die in irgendwelchen Industriegebieten in funktionalen Glasgebäuden saßen, durch Gestaltung und Fotos den Hauch von Größe zu geben. Er ließ Fotos von Geschäftsführern im Gehen schießen, damit sie dynamisch erschienen, er verfasste Grußworte über die Zukunft von Branchen und ließ aus Tabellen mit Abschreibungen, bunte Landschaften bauen.

Cord konnte aus einem Kiosk einen Anbieter für urbane Dienstleistungen machen, der angesichts der Bevölkerungsentwicklung und der steigenden Zahl von Singlehaushalten in neue Märkte expandieren würde. Cord konnte Zusammenhänge schneller erkennen und besser in Texte und Bilder umsetzen als jeder andere Account Manager in der Agentur. Daher bekam er die großen Etas. Geschäftsberichte der großen Unternehmen und einmal durfte er sogar am Konzept für den Kommunikationsauftritt eines M-Dax-Unternehmen arbeiten. Nachhaltigkeitsberichte, Texte für Website, Verkaufsprospekte von Börsengängen. Cord bekam Briefings über Geschäftsmodelle und Quartalszahlen und konnte daraus unterhaltsame Kurzgeschichten für Grußworte von Vorständen und Geschäftsführen oder Rückblicke auf das Geschäftsjahr entwickeln. Die Kunden fragten ihn explizit an, was ihm regelmäßig gute Gehaltssteigerungen verschafft hatte. Aber Cord war auch klar, dass seine Funktion Teil einer Welt war, die für die meisten Menschen vollkommen fremd und sinnlos war. Er hatte neulich eine Statistik gelesen, die besagte, dass ein Investor an der New Yorker Börse 1940 seine Aktien durchschnittlich für sieben Jahre hielt. Diese Entwicklung blieb bis Mitte der 70er Jahre konstant, in den 80er sank die Zeit und kurz vor dem großen Börsencrash 1987 lag sie bei unter zwei Jahren. 2010 waren es nur noch sechs Monate, Tendenz fallend. Niemanden interessierte wirklich, was ein Unternehmen machte, es ging nur noch um den idealen Einstieg in die Aktie und den besten Ausstieg. Cord baute keine Nahrungsmittel an oder Rohstoffe, die irgendwo für irgendetwas gebraucht wurden, er produzierte keine Produkte, die konsumier- oder handelbar waren, und zu denen man irgendeine Beziehung aufbauen konnte. Cord war Dienstleister: Cord produzierte Glanz und Glitter für eine Show.

Die Welt hatte sich beschleunigt. Hatte wirklich jemand geglaubt, dass die Menschen in dieser Welt, das alles ohne Veränderungen zurücklassen würde? Die meisten Beziehungen seiner Freunde hielten im Durchschnitt drei Jahre. War man seine Beziehung satt, ging man ins Internet und holte sich dort, was man brauchte: Kontakt zur Ex, die natürlich auch wieder solo war, oder man lud eine Dating-App runter, um einen Abend mit einer wild-fremden Person zu verbringen.

Irgendwann, als er einmal nach Hause kam und den Briefkasten öffnete, war darin eine Einladung zu einer Hochzeit. Nicht irgendjemand von der Arbeit hatte ihn eingeladen, sondern eine alte Freundin. Das letzte Mal, dass er Marion gesehen hatte, beugte sie sich nackt über die Arbeitsplatte der Küche ihrer Eltern, es war irgendwann nach einer wilden Studentenparty gewesen. Jetzt gab sie ihre Vermählung mit Paul bekannt, einem Unternehmensberater. Zehn Uhr in der Bartholomäus-Kirche zu Köln. Eine Heirat. Cord hatte nie eine Freundin für mehr als sechs Monate gehabt und Marion wollte jetzt heiraten. Cord war gerade 35 geworden und hatte eigentlich vergessen, dass es die Lebensform Ehe überhaupt noch gab. In Cords Leben hatte nichts eine dauerhafte Bedeutung und Cord war sich dessen in solchen Momenten sehr bewusst.

Cords Kopf war leer. Ein leeres Zirkuszelt, in dem die Zuschauer auf die Sensation warten. Die Anspannung der Menschen in der Leere, die darauf warten, dass jetzt die nächsten Akrobaten kommen. Cord hatte einmal den russischen Staatszirkus besucht. Da gab es eine Nummer bei der sechs Motorradfahrer in einer Kugel von der Größe eines Wohnzimmers halsbrecherisch aneinander röhrend vorbeifuhren. Kaum hatten sie ihre Runden gedreht, steigt eine junge Frau in die Kugel, deren Leben davon abhing, dass die sechs Jungs im Rausch der Geschwindigkeit keinen schlechten Tag hatten. Es ging um die Reize des Risikos. Es war ein kontrolliertes Spiel mit der Katastrophe, eine Simulation von Lebensgefahr. Der letzte und ultimativste Reiz des Menschen – sein Leben in einem nutzlosen Spiel zu riskieren. Es gab keine Steigerung der Nutzlosigkeit.

Cord konnte nicht sagen, wann er den Halt verloren hatte und die Nutzlosigkeit in sein Leben eingebrochen war. Irgendwann war das Leben einfach ein Ding aus Kontoauszügen, Mietzahlungen, Jobangeboten, Pornos im Internet und Überstunden. Die Tage waren einfach dahingegangen. Es gab keinen Ausgangspunkt, den er fixieren konnte. Es gab keinen Sinn, es gab nur Stunden, Tage, Wochen, Monate und irgendwann ein neues Jahr. Cord wusste, dass es keinen Sinn im Leben gab. Es gab nur Glück oder Unglück.

Es war 18:00 Uhr als Cord das Büro verließ. Sein Kühlschrank war leer und so schlurfte er die Stadt runter zu seinem Lieblingsitaliener, um eine Pizza zu essen und ein wenig ins Nichts des noch leeren Restaurants zu starren. „Ciao Cord, wie geht es dir“, schallte es ihm entgegen als er in das Restaurant kam. Cord war Stammgast im Nido. Er musste weder ein großes Pils bestellen noch eine Pizza mit Zwiebeln. Es reichte ein „das Übliche“. Er nahm an einem der Tische Platz von denen man den Fernseher sehen konnte. Meist lief italienisches Fernsehen ohne Ton. Cord holte sein Handy aus der Tasche und startete die „tinder“ App, bunte Bilder von Frauen kamen auf das Display. Cord wischte nach rechts, wenn er die Bilder gut fand: Blond, gut, sportlich, gut, elegant, gut. Und er wischte nach links, wenn er die Bilder nicht gut fand: Hund oder Katze in Nahaufnahme, nicht gut; Piercings oder Tattoos sichtbar, nicht gut. Es war wie bei Amazon – eine unendliche Auswahl an Vielfalt, man musste wissen, was man wollte, das Angebot war da. Es schien als seien zwischen 30 und 40 Jahren alle ständig auf Partnersuche. Eine endlose Kette der Optionen. Cord wischte nach rechts und links bis die Nachricht „Keine neuen Leute in deiner Umgebung“ erschien.

Endlich kam die Pizza. Als er sein zweites Bier bestellte machte es „Bling“. Cord guckte auf das Display „Congratulations! You have a new match“ stand da. Er öffnete die App und sah ein Foto einer blonden Frau. Er hatte Julia, 35, gut gefunden und Julia hatte Cord gut gefunden, die App stellte eine Verbindung her. Cord sah sich noch einmal die Bilder von Julia an und fand ein Bild auf dem sie in Sportsachen auf einer Wiese stand.

Er startete einen Chat: „Hallo, nettes Foto da auf der Wiese, machst du viel Sport – welchen?“. Es dauerte nicht lange bis eine Antwort kam. Der frühe Freitagabend war Gift für Singles zwischen 30 und 40 Jahren. Entweder waren alle Freunde, die es aktuell in Pärchen-Version gab verabredet, oder die beste Freundin, die auch Single war hatte ein Date. „Hallo! Ja, das war beim Volleyball mit meiner Mannschaft letzten Sommer. Machst du Sport?“ Cord hätte lügen können und die Sportskanone simulieren können, aber er war nicht in der Stimmung. Zudem hatte es Julia geschafft, einen Satz in korrekter Rechtschreibung zu formulieren und sogar Interpunktion benutzt, das war schon mal ein gutes Zeichen: „Sport, da war was… ich schaffe es im Moment nur von meiner Wohnung ins Büro und zurück – aber immerhin zu Fuß ;-)“. Das Thema „beschäftigt sein mit Arbeit“ war der Klassiker, es kam in fast jeder Unterhaltung vor. Es war das Lebenselixier der Generation, es verwandelte die eigene dahintreibende Existenz in einen sinnvollen funktionierenden Teil der Gesellschaft. Mit Arbeit ließ sich alles rechtfertigen: Trägheit beim Sport, Scheitern von Beziehungen, Bindungslosigkeit mit Freunden - alles war der Arbeit geschuldet. Auf Cords Nachricht folgte Funkstille. Er trank sein Bier aus und bestellte noch eins. Nichts passierte, Cord starrte auf sein Display und wischte einige andere Frauenfotos nach rechts und links bis wieder die Nachricht „Keine neuen Leute in deiner Umgebung“ erschien. Stapel abgearbeitet, dachte er. Liebe in der Generation App war ein Streifzug durch eine Musterkollektion aus der Geschmacksmuster aussortiert wurden.

„Bling“, da war Julia wieder. Sie chatteten über ihre Arbeit und Samstagabende. Julia arbeitet bei einem Unternehmen für medizinische Produkte in der Verwaltung. Wie sich heraus stellte war sie in Düsseldorf. Der Chat mit Julia war recht unterhaltsam, sie hatte Humor und schien intelligent. Cord verabredete, sie auf eine Party zu begleiten. Sie trafen sich um 22:00 Uhr vor der Kunsthalle, um in den Salon des Amateurs zu gehen.

Cord liebte den Laden. Meist wurde Electro-Musik gespielt mit leicht übersteuerten Bässen. Julia war schlank und tatsächlich gutaussehend. Sie hatte strohblonde Haare, leichte Locken und war unglaublich groß, Cord schätze sie auf knapp 1,80 Meter, was ihm wahrscheinlich auch diesen „Treffer“ beschert hatte, sein Profil bei tinder hatte nicht viele Angaben: „1,95 m, normaler Typ.“ Und weil ihn arrogante Prinzessin nervten hatte er noch zwei Zitate eingefügt: „Arroganz ist die Perücke geistiger Kahlheit. Die Welt braucht weniger Prinzessinnen und mehr Räubertöchter“. Das hielt ihm die meisten Mädels vom Hals, die vor allem auf der Suche nach einer Kreditkarte für Shoppingtouren waren.

Julia trug rote New Balance Turnschuhe und eine enge graue Jeanshose, der Rest war unter einem halblangen schwarzen Parker versteckt. „War ja nicht schwer dich zu finden. Stimmt, was du geschrieben hast, halte nach einer großen blonden Frau Ausschau – dein Blond leuchtet wie eine Fackel“, begrüßte er sie. Julia lächelte. „Ja, sagte ich ja“, antwortete sie und musterte ihn von oben bis unten. „Gehen wir rein?“, fragte sie. „Klar.“ Drinnen wummerte der Bass, es war erst halbvoll. Noch zu früh für den Laden. Gegen Mitternacht würde es erst so voll sein, dass man kaum durch die Menge zur Bar kam. Jetzt war die Lage entspannt. Julia gab ihre Jacke ab und Cord sah einen schlanken trainierten Körper mit wenig Brüsten, verpackt in einer engen bunten Bluse. Wo ist der Haken, dachte er, verdrängte aber den Gedanken gleich wieder.

Sie gingen an die Bar und bestellten zwei Gin Tonic. Julia erzählte von ihrem Tag, sie war im Fitness Studio gewesen, ihre Freundinnen seien alle mit ihren Freunden unterwegs und sie habe keine Lust immer die Lady Lonely zu geben. Daher wollte sie eigentlich zu Hause bleiben. Cord erzählte von der Arbeit. Julia schien wenig beeindruckt zu sein, was Cord positiv registrierte. Sie unterhielten sich über Musik und ihre ersten CDs, Konzerte und musikalischen Jugendsünden. Cord konnte sie zum Lachen bringen mit seinem Geständnis, dass er als eine der ersten Schallplatten Madonnas True Blue im Regal hatte und damit einen schweren Stand bei den „Jungs“ hatte. Nach dem zweiten Gin Tonic wurde es voller und die Musik besser. Cord und Julia wippten am Rand der Tanzfläche und spielten Leutekino – Tanzstile, Outfits und Pärchen wurden begutachtet.

Dann spielte der DJ „Galvanize“ von Chemical Brothers, eines von Cords Top-Lieblingslieder-der-Ewigkeit-Liste und er bewegte sich im Takt der Musik langsam auf die Mitte der Tanzfläche. Cord konnte sich gut bewegen und er war extrovertiert und selbstbewusst genug, um sich nicht die Frage zu stellen, ob er wohl albern aussähe. Irgendwann sah er aus den Augenwinkeln, dass Julia schräg neben ihm tanzte. Läuft, dachte er. Sie blieben drei Songs auf der Tanzfläche und gingen dann an die Bar. Cord bestellte sich noch einen Gin Tonic, Julia nahm eine Cola. „Warum ist so jemand wie du eigentlich nicht in festen Händen“, fragte Cord, „ich meine, du siehst gut aus, hast Humor, bist intelligent und hast einen Job – du musst doch einen Schwarm von Männern hinter dir herziehen. Oder?“ Julia lachte etwas gequält: „Ja, das ist das Problem. Wir sind in Düsseldorf, hier ist viel Schönheit und Oberflächenpolitur. Klar falle ich auf, blonde Fackel halt, aber die meisten Jungs wollen eine Trophäe für ihren Jagdschrank. Da passe ich toll rein. Die blonde Giraffe aus Flingern, die man sich super ins Cabrio setzen kann. Ich stehe aber nicht auf Penthouse-Wohnungen und teure Autos. Ich will lustig leben nicht glamourös“, erzählte sie.

Julia kam aus einer linken Familie, der Vater war Professor für Literatur an der Heinrich-Heine-Uni gewesen und die Mutter hatte als Journalistin gearbeitet. Aber die Ehe war eher unglücklich gewesen: „Es gab kein Jahr in dem meine Eltern mal nicht ein paar Wochen woanders gewohnt haben, weil es angeblich jetzt endgültig aus sei. Es war Liebe und Chaos, aber es war nie langweilig. Mein Vater war besessen von seiner Arbeit und meine Mutter auch, unser Haus sah aus wie eine Buchhandlung. Den beiden war Geld egal, es war halt immer irgendwie da. Mein Vater konnte endlose Geschichten erzählen. Meine Mutter war immer auf irgendwelchen Konferenzen, UNO, OPEC, Friedenskonferenzen – ihr Reisepass sah aus wie ein Bilderbuch. Ich kann dir die Namen meiner Kindermädchen nicht aufzählen, nach der fünften habe ich aufgehört, mir die Namen zu merken. Wenn du so aufwächst, dann interessieren dich die meisten Porschefahrer oder Unternehmer eher weniger. Ich weiß nicht, was ich suche, aber ich kann dir auf jeden Fall sagen, was ich nicht suche“. Cord nickte: „Kann ich verstehen“.

Sie tanzten, tranken und hatten einen großartigen Abend. Um zwei Uhr war Julia müde, sie holten ihre Jacken und verließen den Laden. Draußen vor der Tür blieb Julia auf dem Vorplatz der Kunsthalle stehen. Leute standen in Häufchen herum und rauchten. „Wie kommst du nach Hause?“, fragte sie. „Da kommt noch eine S-Bahn um 2.30 Uhr, ich nehme ein Taxi zum Hauptbahnhof“, antwortete Cord. Er hätte Lust gehabt mit Julia die Nacht zu verbringen, aber er wusste, dass das nicht die Art von Anfang war die Julia interessierte. „Sehen wir uns mal auf einen Kaffee?“, fragte er. „Klar, wenn du willst, war ein sehr unterhaltsamer Abend“, sagte Julia. Sie holte ihr Handy aus der Tasche: „Gib mir mal deine Nummer.“ Cord nannte seine Nummer und es machte „Kling“ – „das war ich, du hast jetzt eine SMS von mir bekommen, dann hast du ja meine Nummer“, erklärte Julia. Sie gingen die Stufen zur Straße hinunter und ein Taxi lud gerade vier Mädchen aus, die zum Salon des Amateurs wollten. „Oh, das nehme ich“, sagte Julia. Sie lief zu dem Taxi und fragte, ob es frei sei. Cord stand hinter ihr. „Super, komm, wir fahren eben am Hauptbahnhof vorbei. Ist nicht ganz meine Richtung, aber bevor du deine Bahn verpasst.“ Cord umrundete das Auto und stieg hinter dem Fahrer ein. Sie schwiegen. Das Taxi hielt am Bahnhofsvorplatz. „Danke, was macht das“, sagte Cord. Julia schob seine Hand mit dem Portemonnaie zur Seite. „Ich mach das schon“, sagte sie und drückte ihm einen Abschiedskuss auf die Wange. Cord stieg aus und bückte sich noch einmal in den Wagen runter: „Danke. Toller Abend. Melde mich“. Dann schlug er die Tür zu und das Taxi fuhr sofort los.

Der Sonntag begann mit einem „Bling“ und einem „Kling“. Cord lag noch im Bett, es war 10:00 Uhr. Auf dem Display seines Handys standen zwei Nachrichten „Congratulations! You have a new match“: tinder. Und “Hey, schon wach?“: Julia. Er rief die tinder App auf: Match mit Viola, 37, blond. Sie hatte ein Foto von sich in einem kurzen Rock vor einem Spiegel geschossen. Cord klickte auf das graue Zahnrad in der linken oberen Ecke und rief die Einstellungen der App auf. Er zögerte einen Moment, dann drückte er „Konto löschen“. Danach rief er die SMS von Julia auf und antwortete: „Ja, jetzt ;-)))“. „Na, das ist doch toll, hast du Lust zu frühstücken?“
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Weinstein, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq


Die Geschichte hat im zweiten Teil - das Treffen - richtig Fahrt aufgenommen und lud zum Weiterlesen ein. Vielleicht kannst Du im ersten Teil die vielen Innensequenzen von Cord kürzen. Ein paar kleine Rechtschreib- und Kommafehler bitte verbessern.

Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

Weinstein

Mitglied
Danke

Hallo,

erst einmal Dank für die Freischaltung. Die Anmerkung ist hilfreich. Danke. Ja, da könnte es etwas mehr Fahrt aufnehmen. Muss ich mich noch mal ranmachen; mal sehen, was noch so kommt. Weinstein
 
Hallo Weinstein,
durch den zweiten deiner Texte hier in der LL bin ich auf diesen ersten aufmerksam geworden. Um es gleich zu sagen: in einem, dem entscheidenden Punkt bin ich ganz anderer Meinung als Doc.
Auf welche Weise du deine Erzählung konstruiert hast – ob intuitiv oder bewusst – darüber werde ich nicht spekulieren. Ich schreibe hier nur über das, was ich empfinde und zu erkennen glaube. Für mich ist sie durchgängig stimmig in ihrem Tempo und nimmt nirgendwo „Fahrt“ auf, als habe sie zuvor nicht genügend davon gehabt. Die „Innensequenzen“, die Doc gekürzt haben möchte, erscheinen mir wesentlich - ganz abgesehen davon, dass sie, schon allein für sich genommen, des Lesens wert sind. Sie zeichnen das Seelenbild nicht nur einer Person, sondern einer Generation und vielleicht sogar einer ganzen Epoche.
Von dieser allgemeinen Betrachtung gleitet die Erzählung dann allmählich und folgerichtig in eine spezielle Handlung hinüber. Diese wird erst durch die allgemeine Beschreibung der Moderne zuvor in ihrer Besonderheit erklärbar.
Und dann kommt es zur Katharsis, zur Reinigung, zur Loslösung von der Moderne, zur Eliminierung von tinder, zur Opposition gegen all das, was die „Innensequenzen“ (wie gesagt: bei diesen Reflexionen geht es auch um die äußeren Erscheinungen unserer Zeit) beschrieben haben. Eine runde Sache.

Ich betone hier nochmals: das ist meine Sicht der Dinge. So kommt die Erzählung bei mir an. Mich interessiert nicht nur, was geschieht, sondern vor allem, warum es geschieht, z.B. warum es tinder überhaupt geben muss. Und die Beantwortung dieser Frage ist hier außerordentlich gut gelungen – auch mittels der ironischen Pointe, dass tinder sich in diesem einen Fall selbst abschafft - wenn auch vielleicht nur vorübergehend.

Zu diesem positiven Eindruck haben sprachliche und gedankliche Leckerbissen beigetragen, etwa:
Jetzt kam ihm sein Leben wie eine Betriebsstörung vor, wie das Testbild im Fernsehen, das früher bei der ARD am Vormittag lief, wenn er krank bei seiner Oma auf dem Sofa lag.
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Waben aus Reihenhauskolonien nährten Abteilungsleiterkinder, Handwerkersöhne, Angestellten-Nachwuchs. Alle träumten, aber keiner wusste genau wovon. Irgendwie würde es weitergehen mit dieser Welt. Lebensstandard halten war keine Frage, sondern eine Gewissheit. Ein Leben wie eine Gravitationskonstante, ein Planet auf einer Umlaufbahn.
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Ein Auslandsstudium war noch keine strategische Überlegung für den Wettbewerb der Lebensläufe, sondern einfach ein Abenteuer. Diese Menschen waren nicht vorbereitet auf die Jahrgänge nach ihnen, die ihre Lebensläufe angehen würden, wie Geschäftspläne.
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Cord konnte aus einem Kiosk einen Anbieter für urbane Dienstleistungen machen, der angesichts der Bevölkerungsentwicklung und der steigenden Zahl von Singlehaushalten in neue Märkte expandieren würde.
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Es ging um die Reize des Risikos. Es war ein kontrolliertes Spiel mit der Katastrophe, eine Simulation von Lebensgefahr. Der letzte und ultimativste Reiz des Menschen – sein Leben in einem nutzlosen Spiel zu riskieren. Es gab keine Steigerung der Nutzlosigkeit.
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Das Thema „beschäftigt sein mit Arbeit“ war der Klassiker, es kam in fast jeder Unterhaltung vor. Es war das Lebenselixier der Generation, es verwandelte die eigene dahintreibende Existenz in einen sinnvollen funktionierenden Teil der Gesellschaft. Mit Arbeit ließ sich alles rechtfertigen: Trägheit beim Sport, Scheitern von Beziehungen, Bindungslosigkeit mit Freunden - alles war der Arbeit geschuldet.
Warum ich trotzdem nicht die Höchstnote vergebe? (Möglicherweise interessiert die dich aber auch gar nicht.) Weil ich Doc in einem anderen Punkt zustimmen muss. Es gibt in deinem Text nicht nur eine Reihe von Tipp- und Kommafehlern – einer ist besonders lästig:
Hatte wirklich jemand geglaubt, dass die Menschen in dieser Welt[red],[/red] das alles ohne Veränderungen zurücklassen würde?
(denn er behindert das sofortige Verständnis dieser zentralen Aussage)
oder phonetische Wiederholungen wie z.B.:
Aber Cord [red]war[/red] auch klar, dass seine Funktion Teil einer Welt [red]war[/red], die für die meisten Menschen vollkommen fremd und sinnlos [red]war[/red].
sondern auch sprachliche Unebenheiten, etwa :
Cord baute keine Nahrungsmittel an oder Rohstoffe [blue]ab[/blue], die irgendwo für irgendetwas gebraucht wurden
oder inhaltliche:
Und weil ihn arrogante Prinzessin nervten hatte er noch zwei Zitate eingefügt: „Arroganz ist die Perücke geistiger Kahlheit. Die Welt braucht weniger Prinzessinnen und mehr Räubertöchter“. Das hielt ihm die meisten Mädels vom Hals, die vor allem auf der Suche nach einer Kreditkarte für Shoppingtouren waren.
War das seine Sorge, hätte er sich wohl eher vor den Räubertöchtern in Acht nehmen müssen.

Und dann werden deine 69er in der Regel 68er genannt.

Aber das sind unwichtige Stolpersteinchen, die ein Korrektor in wenigen Minuten beseitigt hätte. Das alles rührt nicht an der Substanz dieser wirklich guten Erzählung.
Viele Grüße
Jörg
 

petrasmiles

Mitglied
Hallo Weinstein,

im ersten Moment dachte ich, ganz schön lang. Hast Du da jetzt Lust drauf ...
Hat sich gelohnt. Ich möchte mich Gelbe Hühner anschließen. Du beschreibst da sehr anschaulich das Lebensgefühl einer Generation und den mittleren Teil finde ich sehr wichtig.
Du schreibst sehr genau, was diesen "Innensequenzen" gut tut, aber bei der Einleitung z.B. der nervige Kollege, oder dass Cord den Coupon aus dem Rollcontainer unter dem Tisch rausholt (oder so ähnlich) ist sie eher störend. Ich finde, Cord darf einfach Mittagessen gehen, ohne dass ich vermissen würde, wie er bezahlt, ob er einen Coupon beutzt, oder wo er den her genommen hat.

Was mir nach dem ersten Lesen noch nicht rund erscheint, ist das Verhältnis vom 'sozialkritischen Text' zur Liebesgeschichte. Darüber muss ich aber selbst noch einmal nachdenken, denn eigentlich bedingt das Eine das Andere bzw. ist die Art der Annäherung dem Psychogramm einer Generation geschuldet.
Ich werde den Text nochmals lesen, vielleicht kann ich dann schon Genaueres sagen.

Liebe Grüße
Petra
 



 
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