Ein letzter Blick

Janno

Mitglied
Wie ein verliebter Teenager schaute ich in den klaren Sternenhimmel. Ich meinte sogar, eine Sternenschnuppe gesehen zu haben. Solche, die ich zuletzt vor zwölf Jahren gesehen habe, als ich mit meiner damals fünfjährigen Tochter Clara einen Spaziergang am Fluss machte. Ich wünschte mir damals, dass meine Tochter bis in alle Ewigkeit gesund und munter bleiben wird. Clara wollte mir ihren Wunsch nicht verraten. Sie sagte, daß er sonst nicht in Erfüllung gehe. Doch dieses Mal hatte ich mir etwas anderes gewünscht, als ich meine Augen für einen kurzen Augenblick zukniff. "Solche Wünsche gehen doch eh nie in Erfüllung" hätte mich Sabrina getadelt, denn sie glaubte nicht an solch abergläubischen Geschichten. Doch werd ich sie nie wiedersehen, da sie bei der Geburt von Clara ihr Leben lassen musste.
Sie fehlt mir. Sie fehlt mir so sehr, daß ich mich an keinen Tag erinnern könnte, an dem ich mich nicht in den Schlaf geweint habe. Dennoch hatte ich manchmal das Gefühl, als ob sie noch neben mir einschlafen würde, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Und ich wusste, wenn ich in den Himmel starrte, schaute sie herunter und wachte über mich. Nur heute fühlte ich sie nicht. Fühlte nicht ihren wachsamen Blick. Was ich fühlte war Trauer und Verzweiflung. Gefühle, die ich dank Clara etwas verdrängen konnte.
Doch nun kroch auch die Einsamkeit in mein Leben, denn Clara ist fort. Sie ist Sabrina gefolgt. Ich habe ihr oft von ihrer Mutter erzählt. Oft habe ich von der Person geschwärmt, die sie nie kennenlernen durfte. Fast täglich fragte sie mich, wie die Frau war, die ihr das Leben schenkte. Jedesmal stieg der Verlust in mir hoch, als ich wieder und wieder begann, von ihr zu erzählen. Ich versuchte, die Tränen zurückzuhalten, was mir meistens auch gelang, aber dennoch war stets tiefe Trauer in meiner Stimme und in mein Gesicht geschrieben. Ich erzählte ihr von der Zeit, als wir uns kennenlernten und wie ich bei einem sommerlichen Picknick um ihre Hand angehalten habe, als wir noch Teenager waren.
Ich konnte mich noch genau an ihr Gesicht erinnern, wie überrascht es aussah. Sie strahlte über ihr ganzes Gesicht und selbst die kleinen Sommersprossen auf ihrer Nase schienen zu tanzen. In ihren rehbraunen Augen funkelte pures Glück, während ihr langes schwarzes Haar in der Julisonne glänzte. Ich erzählte ihr von den Pfannkuchen, die sie jeden morgen für mich machte, bevor ich zur Arbeit ging und sie sich nie beschwerte, obwohl sie dafür schon um 5 Uhr morgens aufstehen musste. Ich habe noch heute diesen süßlichen Geruch von Ahornsirup in der Nase, welchen ich immer dazu aß.
Und ich erzählte Clara von den letzten Worten ihrer Mutter, die mir immernoch, egal wie sehr ich mich dagegen wehrte, erneut die Tränen in die Augen trieben. "Kümmere dich um unser Baby. Sorg gut für sie. Ich liebe dich für immer...für immer und bis in alle Ewigkeit", sagte sie mir mit schwacher Stimme im Kreissaal, bevor sie für immer ihre Augen schloss. Ich hielt ihre Hand und versprach ihr bei meinem Leben, daß ich mich um Clara kümmern würde, so wie es die Pflicht eines Vaters ist.
Ich bin jedoch kein guter Vater, denn ich habe diese Pflicht verletzt und ein Versprechen gebrochen. Die goldene Regel, für das eigene Kind da zu sein, habe ich gebrochen. Ich habe meine einzige Tochter auf eine dieser Technoparties gehen lassen. Und ich wunderte mich, daß sie diesen Abend nicht nach Hause kam. Die Polizei sagte, es sind Spermaspuren und Schürfwunden an ihr gefunden worden. Zudem wurden ihr beide Arme gebrochen. Es konnten drei Männer festgenommen werden, mit denen Clara zum letzten Mal gesehen worden war.
Ich sah diese Männer auf dem Polizeirevier und wusste, daß sie meine siebzehnjährige Tochter vergewaltigt und umgebracht hatten. Ich sah es genau vor mir, wie sie sie von der Party in den nahegelegenen Wald führten und auf sie einschlugen, bis sie zu Boden ging. Wie sie ihr die Kleider vom Leib rissen, als wäre sie ein Gegenstand, den es zu benutzen galt. Als sie sich zu wehren versuchte, brachen sie ihr die Arme, um sie ungehindert schänden und erniedrigen zu können. Ich sah alles genau vor mir. Ich sah auch die Angst der Männer, als sie ihre abscheuliche Tat vollendeten. Die Angst, ihr Opfer könnte alles der Polizei erzählen. Sie stachen mit einem Messer siebenundzwanzig Mal auf Clara ein, bis ihr Atem langsam aussetzte und das Herz zu schlagen aufhörte. Ebenso konnte ich meine hilflose Tochter sehen, wie sie um Gnade bettelte und ihren Peinigern hilflos ausgeliefert war. Ihr tränenverschmiertes Gesicht, welches vor Schmerz grausam verzerrt war, brannte sich in meine Gedanken.
Als ich sie das letzte Mal in der Leichenhalle sah, um sie zu identifizieren, starb alles in mir. Ich habe nicht auf sie geachtet, habe sie in den Tod geschickt. Sie musste sterben und es war meine Schuld. Ich habe Sabrina enttäuscht und unsere Tochter verloren. Ich habe sie in die Arme brutaler Triebtäter getrieben. Nun habe ich nichts mehr. Nur die Erinnerung bleibt mir erhalten, doch schmerzt sie von Tag zu Tag mehr. Sie schmerzt so sehr, dass ich es nicht ertragen kann und schreien möchte.
Ich blickte in den Himmel und wartete auf die Stimmen meiner geliebten Familie, doch sie blieben aus. Das Gesicht gen Himmel gestreckt verlor ich den festen Boden unter meinen Füßen. Ich spürte den frischen Herbstwind auf meiner Haut, während die großen Fenster der einzelnen Stockwerke an mir vorüberzischten. Ich spürte keine Furcht, sondern fühlte mich frei. Tatsächlich hatte ich in diesem Moment den Song "Free as a bird" von den Beatles im Kopf, als irgendwelche Angst zu verspüren. Ich sah Menschen panisch in alle Richtungen laufen, die zu mir auf blickten.
Ich schloss die Augen und erwartete das Unvermeidliche. Den Lärm, den ich unter mir erst nicht wahrnahm, wurde von Sekunde zu Sekunde lauter. Die Luft wurde mir während des Fallens vollständig entrissen, so das ich nicht mehr atmen konnte. Ein leichtes Lächeln erschien auf meinem Gesicht, während ich dem Anfang vom Ende immer näher kam. Ich breitete meine Arme aus, als könne ich wie ein Falke durch die Lüfte gleiten.
Kurz darauf wurde es dunkel um mich herum, als sei die Welt verschluckt worden. Ich hörte keinen Ton mehr, kein einziges Hupen der Autos auf der Straße, kein Geplapper der Leute, die an diesem Abend durch die Straßen wandelten. Es war totenstill. Der Versuch, meine Augen weit zu öffnen schlug fehl, denn meine Lider waren schwer wie Blei. Doch plötzlich drang durch die Dunkelheit etwas Licht, was sich langsam ausbreitete. Nun erkannte ich vage Umrisse von Menschen, die auf mich zukamen. Eine Person kam bis auf schätzungsweise 40 Zentimeter an mich heran und streckte mir das Gesicht entgegen, welches ich immernoch nicht erkennen konnte. "Dad, endlich bist du bei uns. Ich habe es mir so sehr gewünscht, dich wieder in den Arm zu nehmen", schallte eine Stimme durch die ansonsten beängstigende Stille. Ich erkannte diese Stimme. Es war Clara, die vor 1,5 Monaten auf qualvolle Art und Weise ihr Leben verlor.
Dann kam die andere Person auf mich zu, legte ihre Hand auf meine rechte Schulter und flüsterte mir ins Ohr: "Du hast nichts falsch gemacht. Du warst ein guter Vater." Es war die Stimme meiner geliebten Frau, dessen Klang ich schon fast vergessen hatte. Endlich war mein Leid verflogen, denn ich habe meine Familie wieder an meiner Seite.
In den Nachrichten vom 21.12.2006 hieß es, daß ein 46jähriger Mann vom Hilton-Hotel in den Tod sprang und auf der Stelle starb. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Gestorben bin ich bereits am 06.11.2006, an dem Tag, als meine Tochter nicht mehr nach Hause zurückkehrte. Dieser Sprung war für mich eine Fahrkarte in die Freiheit. Nun beginnt ein neuer Abschnitt für mich und niemand wird mir das mehr nehmen können, was das Wichtigste für mich ist: meine Familie.
 

Duisburger

Mitglied
Hallo Janno,

warum ist das eine Erzählung? Ich denke. es passt eher nach Tagebuch.
Sollte es dann noch ein (dein) persönliches Erlebnis (Empfinden) sein, gehört es auch in das Tagebuch, allerdings in dein eigenes, persönliches.
Sollte letzteres der Fall sein, so ist dieser Text nicht zu kommentieren, höchstens, um Anteilnahme mitzuteilen und dafür ist das hier die falsche Plattform.

lg
Duisburger
 
A

Arthrys

Gast
Hallo Janno,

Ich denke, du hast so ziemlich alle Kriterien betreffend einer Erzählung einfließen lassen, Einleitung, Rückblende, Erzählweise, Handlung, Dialog, Höhepunkt, z.B. überraschender (verblüffender) Abschluss.
Selbst erlebt? Wohl kaum, sonst könntest du nicht darüber schreiben, weil du dann tot wärst. Vielleicht aus 2.,3.,4. Sicht erlebt und erdacht, das so Erfahrene in einer Erzählung dargestellt. Der Text außergewöhnlich in seiner Art. Für Satzstellung und Wortwahl solltest du vielleicht noch mal rübergehen.
LG
Arthrys
 

Duisburger

Mitglied
In den Nachrichten vom 21.12.2006 hieß es, daß ein 46jähriger Mann vom Hilton-Hotel in den Tod sprang und auf der Stelle starb. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Gestorben bin ich bereits am 06.11.2006, an dem Tag, als meine Tochter nicht mehr nach Hause zurückkehrte. Dieser Sprung war für mich eine Fahrkarte in die Freiheit. Nun beginnt ein neuer Abschnitt für mich und niemand wird mir das mehr nehmen können, was das Wichtigste für mich ist: meine Familie.
Wie meinen, Arthrys?
 
A

Arthrys

Gast
Hallo Janno,

Ich entschuldige mich dafür, dass hier versucht wird, auf deinem Rücken, einen Disput vom Zaun zu brechen. Ich werde mich nicht daran beteiligen. Dieses Forum ist dafür nicht vorgesehen. Ich bleibe dabei, ich halte deinen Text noch immer für eine Erzählung. Die allgemeingültigen Regeln dafür, die man überall nachlesen kann (selbst in diesem Forum), hast du in meinen Augen erfüllt. Ich möchte dich deshalb ermutigen, weiter an deinem Text zu arbeiten.
LG
Arthrys
PS: Vielleicht kann Ralph Ronneberger (Forenredakteur für Erzählungen) dazu ja noch etwas sagen.
 

Duisburger

Mitglied
Es geht nicht darum, ob die Formalien einer Erzählung erfüllt sind (die Kriterien für eine Kurzgeschichte treffen ebenso zu), sondern um die Ausrichtung des Textes.
Er ist in Form eines Tagebucheintrages geschrieben, das war meine Einlassung. Daher bin ich der Meinung, er gehört dort hin.
Ob der Autor hier wirklich eine persönliche Erfahrung schildert, wird er uns hoffentlich noch mitteilen.
Dann, und nur dann, verbietet sich eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt.

lg
Duisburger

@A.
Guter Versuch, doch so durchsichtig. Beachte, du hat meine Kritik kritisiert, nicht umgekehrt. Und lass den Quatsch von wegen "Disput vom Zaun Brechen". Wer den ersten Stein wirft...
 

Janno

Mitglied
Also denn werd ich mich hier auch mal zu äußern.
Ich finde schon, dass es durchaus eine Erzählung ist. Wenn alle "Ich-bezogenen" Texte Tagebücher wären, wären sicherlich SEHR VIELE Bücher nicht erschienen, die einen ähnlichen Stil haben und durchaus als Erzählungen/Kurzgeschichten durchgehen.

Und ob ich das Geschriebene erlebt habe?
Natürlich hab ich das Ganze NICHT erlebt. Ich bin "erst" 27 Jahre alt, habe weder Frau noch Kinder (auch keine verblichenen) und, wie man merkt, bin ich am Leben :)

Ich habe diesen Text aus einer leicht depressiven Laune heraus geschrieben und sehe ihn durchaus als Erzählung/Kurzgeschichte.
 



 
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