Ein nächster letzter Herbst...

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Tabasco

Gast
Ein nächster letzter Herbst...

Die Musik ist laut. Zu laut. In meinem Haar spiegelt sich das reflektierende Licht der Stroboskope wider, erzählt man mir später. Hier drin bemerke ich den Anfang des Herbstes kaum. All die Stille, die der Oktober für mich bereit halten wird, scheint jetzt so bedeutungslos. Ich weiß, dass ich leiden werde. Und ich freue mich darauf. Irgendwann werde ich raus gehen, durchgeschwitzt. Dann werde ich atmen und mir ist klar, was ich dabei fühlen werde. Vorhin als ich ankam, hatte ich schon einen Hauch dieses Gefühls zu spüren bekommen und schwelgte in düsteren, dennoch warmen Erinnerungen. Diese werden mir in ein paar Stunden noch bewusster sein. Der Alkohol wird seinen Nutzen für meine Gefühle verändern und mich in Depressivität fallen lassen. Die Blätter rascheln dann wieder unter meinen Springerstiefeln und der Wind bläst unaufhaltsam Todestöne durch die Schlupfwinkel meiner schwarzen Kleidung. Alles bunte wird im Nebel des Morgen grau erscheinen und alles helle einen unübersehbaren Schatten auf die asphaltierten Gehwege werfen. Ich werde nach Hause laufen müssen. Die Strecke ist lang genug, um über vieles Nachzudenken und mich am Ende des Weges zu tiefer Emotionalität zu bewegen, die dazu führen wird, dass ich mich wie letztes Jahr auf die Stufen meiner Eingangstreppe setzen, eine Zigarette rauchen und weinen werde. Niemand wird mich dann festhalten und irgendwann, ein paar halbe Stunden später, werde ich mich wieder soweit gefangen haben, um das Haus zu betreten, mich ausziehen und letztendlich schlafen gehen zu können. Ich werde an dich denken, vor dem Einschlafen. Vermutlich werde ich dann noch mal weinen, bevor ich das Bewusstsein verliere.

Am nächsten Morgen werde ich erwachen. Alles wird so kalt sein, wie in der Nacht zuvor. Ich schmeiße mich dann sicher in meinen Bademantel und durchstreife das Haus geisterähnlich nach etwas Essbarem. Ich werde fündig werden. Ein Blick aus dem Fenster verrät mir dann die Uhrzeit. Ich habe viel zu lang geschlafen. Die erste Zigarette des Morgens wird folgen. Ich öffne das Fenster und atme, ganz tief. Schon wieder dieser Geruch. Schon wieder all diese Erinnerungen. Ich werde hassen und lieben. Im Fernsehen kommt nur Müll. Die Abende beginnen früher, das Tageslicht verschwindet schnell. Kerzen durchleuchten das Haus und aus kleinen Duftflaschen tröpfeln mysteriöse Gerüche in die dafür vorgesehenen Schalen und lassen nur wenig später das ganze Umfeld in einer melancholischen Atmosphäre erscheinen. Ich werde dann sehr traurig sein, fast hoffnungslos. Dann beschließe ich, die Arbeit zu kündigen, hinterfrage den Sinn meiner Existenz, immer und immer wieder, um abermals festzustellen, keinen Ausweg zu finden. Ein Teufelskreis wird meinen Kopf durchschweben und lässt mich leiden. Frühzeitig geh ich dann wieder zu Bett, um Ruhe vor den eigenen Gedanken und Gefühlen zu haben. Ich freue mich auf den Schlaf der so schnell nicht eintreten wird, da ich trotz meiner Lebessunlust und Trägheit keinerlei Müdigkeit verspüre. Vielleicht klingelt dann das Telefon. Vermutlich ziehe ich den Stecker, um allein zu sein. Nachts, ich schlafe noch immer nicht, beginnen dann erste vereinzelte Schneeflocken vom Himmel zu rasseln. Im Wohnzimmer des Nachbarn erkenn ich einen Schwippbogen und Weihnachtsbeleuchtung. Ungläubig schüttle ich den Kopf. Irgendwann schlafe ich wieder. Alpträume plagen mich. Du wirst darin vorkommen. Du wirst mich retten, unbewusst. Du erkennst mich nicht.
Nach dem Aufwachen werde ich mir ein Messer nehmen und mit 2 Schnitten an meinen Pulsadern, diesem Leben ein Ende setzen.

Doch zur Zeit, zur Zeit stehen wir hier und tanzen. Wie wild tanzen wir. Wir lächeln uns an. Das Licht der Stroboskope spiegelt sich auch in deinen Haaren wider. Und ich glaube, diesmal könnte es etwas ernstes werden.

Tabasco 2002
 

Rainer

Mitglied
hallo tabasco,

hübsche herbstdepri, mal ausnahmsweise ohne das übliche "die welt und ihre bewohner sind ja so schlecht, und keiner versteht mich" genängere. gefällt mir deswegen ganz gut. ein sprachlicher fehler ist mir aufgefallen:
Im Wohnzimmer des Nachbarn erkenn ich einen Schwippbogen und Weihnachtsbeleuchtung.
ist ein klasse satz, der sehr viel über die motivation zur depression aussagt. aber es scheint mir das einzige mal zu sein, wo du im text in die alltagssprache verfällst. deswegen fände ich es besser, dort würde "erkenne" stehen.

gruß

rainer
 
T

Tabasco

Gast
...

Hallo Rainer,
sagen wir doch einfach mal, es handle sich an dieser Stelle um einen Rechtschreibfehler *g* denn Recht hast du. Wird geändert.
Danke für die gute Kritik.

Auf bald,

tab
 

jaywalker

Mitglied
hi tabasco,

abgesehen davon, dass du es gut verstanden hast durch diese glatte, kalte erzählweise deines "protagonisten" seine emotionslosigkeit zum zeitpunkt seiner wieder nebensichstehendphase rüberzubringen, haben mir zwei punkte in deinem text sehr gut gefallen. zum einen die schneeflocken, die vom himmel rasseln (so schön formuliert :)) ... und zum anderen der doppeldeutige schluss, der dem leser die möglichkeit offen lässt, selbst zu entscheiden, ob es in deiner geschichte wirklich einen weiteren herbst geben wird ...

lg
virginie

ps:ich wünsche einen weiteren herbst, mit lauter musik und reflektierendem licht!
 



 
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