Ein neuer Morgen

Freeda

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Ein neuer Morgen

Es klingelt. Ich drehe mich um. Klingeln. Penetrant. Langsam sickert es in mein Bewusstsein. Mein Wecker. Beharrlich besteht er darauf, dass ich mich um ihn kümmere.
Wieder ein Tag. So ein langer Tag vor mir, und durch die halbgeöffneten Vorhänge (ich ließ sie stets halb offen, weil ich hoffte, das Tageslicht würde mich wecken) fällt ein fahler Schimmer. Kein Sonnenstrahl, nur Grau, den Schlitz zwischen den Gardinen ausfüllend. Langsam krieche ich unter meiner Decke hervor. Nun ist es kalt. Warum ist es so kalt? Hatten wir nicht schon Frühling? Gab es nicht schon die ersten warmen Tage, so angefüllt mit Licht und Wärme und Vogelgezwitscher, dass man es nicht glauben wollte nach dem langen Winter? Heute ist irgendetwas anders. Der Tag ist besonders, das weiß ich. Aber ich kann mich nicht erinnern. Ich bin müde, mein Kopf ganz leer – zu leer, um nachzudenken. Mechanisch erhebe ich mich von meinem Bett – wie jeden Morgen, schlage die Decke zurück, wie jeden Morgen, suche meine Socken vorm Bett, denn der Fußboden ist so kalt. Mit den Socken an den Füßen fühle ich mich endlich bereit, den Weg ins Badezimmer anzutreten. Tapp, Tapp, zur Tür, leise, denn ich mag morgens keine lauten Geräusche. Tapp, Tapp, über den Flur, die kurze Treppe hinauf. Jetzt stehe ich zwischen Bad und Küche, und ich kann mich, wie so oft, nicht entscheiden, ob ich zuerst die Kaffeemaschine anstellen soll (weil es so schön ist, wenn es nach Kaffee duftet, sobald ich aus dem Bad komme – denn eigentlich trinke ich gar keinen Kaffee) oder ob ich schnell zur Toilette soll, weil ich wirklich dringend muss. Ich entscheide mich für die Toilette. Hier ist es wärmer. Ich mache kein Licht im Bad, das wäre zu grell für meine Augen, die heute morgen noch nichts anderes als einen Schlitz graues Licht gesehen haben. Auf dem Klo sitzend schiebe ich die Jalousie vorm Fenster auseinander. Ich blinzele. Es regnet draußen. Aber irgendetwas ist anders. Was ist das? Ich gähne. Ein leises Kribbeln breitet sich in mir aus. Wovon hatte ich geträumt? Ein seltsamer Traum, den ich nicht mehr wirklich fassen kann. Aber er war angenehm, soviel weiß ich noch.
Socken aus. Nachthemd aus. Handtuch, Seife. Duschvorhang zu. Wasser an. Wie jeden Morgen. Was ist anders heute? Wasser zu kalt. Wasser zu heiß. Wasser wieder zu kalt. Das ärgert mich, wie meistens. Warum nur bleibt die Temperatur nie genau so, wie man sie gern hätte? Abtrocknen, langsam werde ich wach. Jetzt wage ich einen Blick in den Spiegel. Die Haare! Ich bin gestern beim Frisör gewesen. Ja, das sieht jetzt besser aus. Draußen ist es grau, und trotzdem mag ich mich. Das ist eine Seltenheit, denn meistens entspricht meine Stimmung dem Wetter: Grau bedeutet launisch und müde und ohne Energie. Meistens sind das die Tage, die langsam und bedeutungslos an einem vorüberstreichen.
Aber heute nicht. Heute finde ich mich richtig sympathisch. Ein bisschen Wimperntusche, mein Lippenstift. Das reicht. Schön.
Und im Flur duftet es nach Kaffee.
Du bist gekommen. Sitzt in der Küche und lächelst mich an. Für mich allein scheint die Sonne heute. Jetzt bin ich richtig wach.
Ich lächle zurück.
Und kann mich wieder erinnern.
 
G

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Gast
Von mir auch ein "WOW"!

Dein Stil wird durch kurze Sätze bestimmt. Ich mag das! Außerdem finde ich es immer wieder prickelnd, Geschichten im Präsens zu lesen. Dadurch werden Geschichten greifbar, der Leser fühlt sich mittendrin! Also, echt super!

Gruß,
GUIDO
 



 
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