Ein ordentlicher Mann

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Raniero

Textablader
Ein ordentlicher Mann

Es gibt wahrhaftig Zeitgenossen, die behaupten, sie könnten auf Anhieb erkennen, ob es sich bei einem Mann um einen ganzen Kerl handelt oder nicht, und diese Einteilung machen sie an einer einzigen Tatsache fest und teilen die Herren der Schöpfung dementsprechend in zwei Kategorien ein; diejenigen mit und die anderen.
Diejenigen mit will sagen, die Männer, die ständig ein Taschenmesser mit sich herumschleppen und dieses sozusagen auf Knopfdruck abrufen, bei passender oder weniger günstigen Gelegenheiten, und auf der Gegenseite die anderen, die weder über das besagte Messer noch über die spezielle Vorliebe hierfür verfügen.
Nun mag mancher behaupten, mit einer derartigen Simplifizierung und Abklassifizierung des männlichen Geschlechtes greife man zu tief ins Klischee des Klassenunterschiedes zwischen Mann und Frau und befördere nur steinzeitlich verwurzelte Vorurteile ans Tageslicht, doch diejenigen, die fest davon überzeugt sind, dass ein Taschenmesser den ganzen Mann ausmache, stört dieses absolut nicht.

Rudolf Manher galt als ausgesprochener Taschenmessertyp, und er war stolz darauf und ließ dieses auch gleich jeden wissen, indem er bei allen Gelegenheiten, die sich ihm boten, seinen Standartsatz anbrachte - ein ordentlicher Mann hat immer ein Taschenmesser bei sich - und zur Verblüffung der Anwesenden dieses Messer sogleich aus der Tasche zog. Hierbei schaute er triumphierend in die Runde und freute sich diebisch, wenn kein anderer seiner Geschlechtsgenossen auf die gleiche Idee gekommen war.
Rudolf war sich darüber im Klaren, dass er damit Eindruck schinden konnte, besonders bei den Damen, und für die Männer, die kein Taschenmesser bei sich trugen oder schlimmer noch, ein solches nicht einmal besaßen, hatte er nur milden Spott übrig. Er sagte es natürlich nicht offen heraus, aber diese Männer waren Weicheier; solche gab es nun einmal, da hatte man sich mit abzufinden, und sie wurden mit der Zeit leider immer mehr, diese Männer, die den Beatles musikalisch näher standen, statt einer richtigen Band wie den Rolling Stones zu huldigen.
Darüber hinaus schmeichelte es ihm, zu der Sorte langsam aussterbender echter Kerle zu gehören, und manchmal träumte er schon davon, einmal der letzte seiner Taschenmesserzunft zu sein und beweisen zu können, die Welt durch eine Heldentat mittels dieses nützlichen Utensils vor dem Abgrund zu bewahren.

Rudolf Manher befand sich auf dem Flug zur Baleareninsel Mallorca, mit seiner Ehefrau Gudrun. Seit vielen Jahren schon verbrachten sie ihre Urlaube auf dieser Insel, stets zur gleichen Zeit im September, dem Monat, in welchem Mallorca ‚boomte‘. Die vielen Kegelclubs und ähnlichen Vereine, die lautlärmend mit ihnen reisten, störten sie nicht, im Gegenteil; Frohsinn war angesagt, und was könnte ein besserer Start in den Urlaub sein, als inmitten einer Schar fröhlicher Menschen zu verreisen.
Das Einzige, was sie wirklich irritiert hatte, waren die aufreibenden und langatmigen Kontrollen vor dem Abflug der Maschine. Jede Nagelfeile wurde gefilzt und musste ebenso wie jede noch so kleine Reiseschere am Boden bleiben. Das Schlimmste war für Rudolf jedoch, dass er sich von seinem unentbehrlichen Taschenmesser trennen musste; er hatte schlichtweg vergessen, dieses vor Antritt der Reise im Koffer zu verstauen. Er kam sich wie nackt vor, ausgesprochen nackt und unsicher; gleich nach der Landung würde er sich auf Mallorca ein neues zulegen.

Rudolf Manher bestellte sich eine Flasche Bier, bei der netten Stewardess.
Ringsum ihn herum prostete man sich zu, da wollte er nicht im Abseits bleiben.
Als die nette Dame ihm das Bier brachte, stellte sie mit Bedauern fest, dass sie keinen Flaschenöffner dabei hatte.
„Das macht doch nichts, liebe Frau“, rief Rudolf und setzte sein männlichstes Lächeln auf, „lassen Sie die Flasche ruhig hier.“
Spontan sprang er von seinem Sitz auf und schmetterte der verdutzten Stewardess seinen Standartsatz von dem ordentlichen Mann, der stets ein Taschenmesser zur Hand habe, entgegen, so laut, dass es alle Passagiere in seiner Umgebung hören konnten.
Instinktiv fasste er hierbei an seine rechte Hosentasche, als auch schon die Handschellen klickten; erst jetzt fiel ihm ein, dass er sein geliebtes Instrument ja vor dem Flug abgeben hatte, bei der Bodenkontrolle, doch es war zu spät.
Angekettet an seinen Sitz verbrachte er den Rest des Fluges unter den schadenfreudigen Blicken munter zechender Passagiere - es befanden sich wohl viele Weicheier darunter - und den grimmigen Augen seiner Ehefrau.

Es hat sich doch einiges verändert, seit einiger Zeit, in der zivilen Luftfahrt.
 



 
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