Ein perfekter Tag

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xavia

Mitglied
Sie erwachte ohne ein Weckerklingeln zu hören. Das war sie gewohnt, ihr Körper besaß eine innere Uhr und wusste, wann es Zeit war, aufzustehen. So wartete sie entspannt auf das Klingeln und dachte darüber nach, wie der Tag werden würde.

Aufstehen, Waschen, Frühstücken, das war Routine. Mit Glück würde sie dabei in der Zeitung ihre Lottozahlen sehen, die sie seit vielen Jahren tippte, immer dieselben sechs Zahlen, kein Systemschein, keine zweite Reihe. Mit Wahrscheinlichkeiten ließ sich das Glück ohnehin nicht überlisten, das wusste sie. Die Ziehung im Fernsehen hatte sie verpasst, weil ihre Tochter Kira ihr von ihrem Liebeskummer berichten wollte. Das war definitiv wichtiger gewesen. Sie hatten ein sehr inniges Mutter-Tochter-Verhältnis, seit Thomas vor drei Jahren gestorben war. Thomas, die Liebe ihres Lebens. Sie dachte an ihn, sah sein liebes Gesicht vor sich, die blitzenden braunen Augen und die Strubbelhaare, die sich von einem Kamm nicht bändigen ließen, als die Schlafzimmertür aufflog und Kira hereinstürzte:
„Mama, wir haben verschlafen!“

Erschrocken guckte sie zum Wecker: Keine Anzeige ­ die Batterie
musste wohl leer sein. ­ Aber ihre innere Uhr ...

Sie sprang aus dem Bett und folgte ihrer Tochter eilig ins Badezimmer. Kira stand schon unter der Dusche. Sie wusste, was passiert war:

„Sommerzeit, wir müssen heute eine Stunde früher los und es ist höchste Zeit. So ein Mist, erste Stunde Geschichte, der Hauser, der kennt keine Gnade! Und jetzt ist auch noch der blöde Abfluss verstopft. Da kannst du das Waschbecken auch vergessen.“

Tatsächlich, auch im Waschbecken floss das Wasser nicht ab. Sie musste sich mit einer Katzenwäsche begnügen, für die Dusche blieb ohnehin nicht genug Zeit. Sie hastete in die Küche, um ihrer Tochter schnell noch ein Schulbrot zu machen und stieß sich im Flur den kleinen Zeh am Schuhschrank. Der Schmerz war enorm und sie stolperte daraufhin und verstauchte sich den Knöchel.

Als sie nach verrichteter Arbeit kauend ins Schlafzimmer zurückhumpelte, war Kira längst mit Schulbrot und Fahrrad auf dem Weg zur Schule. Schnell wollte sie sich anziehen, da riss ein Knopf von ihrer Bluse ab. Neuer Versuch: Das rote Kleid war ein wenig „overdressed“, aber das war nun auch egal, sie musste sich beeilen, nicht allzu spät zur Arbeit zu kommen. Und um einen Klempner musste sie sich auch noch kümmern. Der Vermieter hatte ihr schon einmal zu verstehen gegeben, dass er sich um derlei Verstopfungen nicht kümmern werde, weil sie von ihr verursacht wurden. Darauf hatte sie jetzt überhaupt keine Lust, würde selbst den Klempner anrufen und bezahlen.

Sie humpelte zur Bushaltestelle, sah den Bus, konnte aber aufgrund ihres lädierten Zehs nicht den gewohnten Sprint hinlegen und musste zusehen, wie er ohne sie abfuhr. Sie tröstete sich damit, dass es nun wohl kaum noch schlimmer werden konnte und wartete ungeduldig auf den nächsten. Das war ein außerplanmäßiger Bus, der auch den Landkreis versorgte. Er musste noch über ein Treppchen bestiegen werden, war nicht behindertengerecht. Als sie einsteigen wollte, schoss ihr der Schmerz wieder durch den Fuß und sie wäre beinahe hingefallen, konnte sich aber gerade noch an der Stange seitlich des Einstiegs festhalten.

Ihr Herz pochte heftig, als sie sich in einen der bequemen Sitze mit Kopfstütze fallen ließ: Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Sie konnte es nicht fassen. Im Büro war sicher auch schon der Teufel los, weil sie noch nicht da war. Sie wollte ungeduldig mit dem Fuß wippen, zuckte aber sofort zusammen, als sie es versuchte. Trotz der Schmerzen hielt sie es nicht auf dem Sitz aus und ging schon mal zum Ausgang, um gleich losspurten zu können, wenn der Bus ankam. Sie drückte den Halteknopf und pochte mit dem Zeigefinger einen ungeduldigen Rhythmus auf der Haltestange, bis das Fahrzeug endlich zum Stehen kam und sie hinaushumpeln konnte.

Im Büro angekommen ließ sie ergeben die Vorwürfe über sich ergehen, dass es gerade heute ganz schrecklich rücksichtslos von ihr sei, so spät zu kommen. Es gelang ihr inzwischen ganz gut, bei solchen Tiraden innerlich zu entspannen und in dieser Entspannung fiel ihr auf, dass ihre Jacke nicht mehr da war: Sie musste sie im Bus liegengelassen haben!

„Tut mir leid, tut mir wirklich sehr leid, Sommerzeit, Fuß verstaucht, Abfluss verstopft, Jacke weg ...“ stammelte sie. „Ich muss telefonieren.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich in der Verkehrsgenossenschaft durchgefragt hatte, denn für die Überland-Busse waren andere Mitarbeiter zuständig als für die Linienbusse. Endlich hatte sie aber die richtige Person am Telefon und dieser Mann versicherte ihr, dass er die Fahrerin per Funk anrufen und die Jacke sicherstellen würde. Das würde aber bis zum Abend dauern, weil dieser Bus nicht an der Zentrale vorbeifuhr und nach Feierabend direkt in den Busbahnhof gebracht werden würde. Papiere, Haustürschlüssel und Handy wären also bis zum nächsten Morgen weg.
Das Handy! Kiras Handynummer! Die Nummer des Klempners! Sie ignorierte die wütenden Seitenblicke ihrer Kollegen und Kolleginnen in dem Großraumbüro, in dem jeder alles von jedem mitbekam und rief die Auskunft an. Nach einer gefühlt endlosen Zeit in der Warteschleife hatte sie einen wenig motivierten Mitarbeiter dran, der wissen wollte, wie der Sanitärbetrieb denn heißt, dessen Nummer er heraussuchen sollte.

„Ist doch egal, irgendein Klempner, ich weiß nicht, wie der Betrieb heißt, den ich letztes Mal hatte! Sie werden doch bei der Auskunft sowas wie Gelbe Seiten haben, oder?“

Es zog sich eine Weile hin, sie spielte mit dem Gedanken, einen Vorgesetzten zu verlangen, da besann sich der um Auskunft gebetene und nannte ihr endlich eine Nummer, die sie sogleich anrief und ihr Anliegen vortrug. Natürlich war es ein Problem, dass sie keine Kundin bei diesem Betrieb war und alle Mitarbeiter waren unterwegs und sehr beschäftigt mit weitaus lukrativeren Aufträgen als einem verstopften Rohr, aber sie blieb hartnäckig und die Dame dort am Telefon versprach ihr, wenn möglich, am Abend jemanden vorbeizuschicken.

Ihr Arbeitstag verlief ohne weitere Vorkommnisse, was ihr fast wie ein Wunder vorkam. Sie merkte, wie sehr sie „Normalität“ zu schätzen lernte, wenn die Dinge derart aus dem Ruder liefen.

Wieder daheim schien ihre Pechsträhne abzuklingen, denn Kira war zu Hause und konnte sie in die Wohnung lassen. Glücklich schob sie zwei Fertig-Pizzen in den Backofen und sank auf einen Küchenstuhl.

Noch während sie aßen klingelte es an der Haustür. Kira lief hin und ließ den Klempner herein. Sie selbst hatte nicht mehr die Kraft dazu. Er werkelte unter Kiras Anleitung im Badezimmer herum und sie hörte, wie die beiden sich unterhielten. Die Rohrkonstruktion sei abenteuerlich, erzählte er ihr, da wäre es kein Wunder, dass sie öfters eine Verstopfung hätten und er würde dem Vermieter das nicht durchgehen lassen, wenn er hier wohnen würde. Sie hörte, wie er schraubte und ein Gerät verwendete, das einen Lärm machte, als würde er ihr schönes Badezimmer schreddern. Und die ganze Zeit war ihre Tochter bei ihm und ließ sich alles genau erklären. Die beiden redeten miteinander, als würden sie sich schon lange kennen. Schließlich wurde sie neugierig auf diesen Mann und humpelte zum Badezimmer. Er zog gerade die Rohrreinigungswelle wieder aus dem Rohr, nicht ohne Kira vorher zu ermahnen, sich vor den Spritzern in Sicherheit zu bringen, da sah er sie im Türrahmen stehen, in ihrem roten Kleid, wie sie etwas verlegen mit den Fingern durch ihre dunklen Locken fuhr. Sie musste lächeln, weil er so abrupt in seiner Arbeit innehielt und sie nur noch ansah. Und sein Blick ging ihr durch und durch. Sowas hatte sie nicht mehr erlebt, seit .... Ja, das strahlende Lächeln, das sich jetzt auf seinem Gesicht ausbreitete, erinnerte sie an Thomas. Aber er sah ganz anders aus, es war nur dieses Gefühl. Dieses Gefühl, das sie so lange vermisst hatte und das ihr jetzt beinahe den Atem raubte.

Nichts an diesem perfekten Tag hätte anders sein dürfen!
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo xavia, herzlich Willkommen in der Leselupe!

Schön, dass Du den Weg zu uns gefunden hast. Wir sind gespannt auf Deine weiteren Werke und freuen uns auf einen konstruktiven Austausch mit Dir.

Um Dir den Einstieg zu erleichtern, haben wir im 'Forum Lupanum' (unsere Plauderecke) einen Beitrag eingestellt, der sich in besonderem Maße an neue Mitglieder richtet. http://www.leselupe.de/lw/titel-Leitfaden-fuer-neue-Mitglieder-119339.htm

Ganz besonders wollen wir Dir auch die Seite mit den häufig gestellten Fragen ans Herz legen. http://www.leselupe.de/lw/service.php?action=faq

Ein verkorster Tag, der gut ausging. Vielleicht kannst Du die Geschichte an einigen Stellen noch ein wenig straffen, um die Spannung zu erhöhen.


Viele Grüße von DocSchneider

Redakteur in diesem Forum
 

xavia

Mitglied
straffen?

Hallo DocSchneider, vielen Dank für das Willkommen und für den Hinweis. Mich würde interessieren, an welchen Stellen die Geschichte langweilig wird bzw. gestrafft werden sollte.
 
E

eisblume

Gast
Hallo xavia,

leider überzeugt mich deine Geschichte nicht.
Freilich gibt es Tage, wo alles schief geht, ich denke, das kennt jeder. Aber hier kommt es mir so vor, als hättest du dich sehr bemüht, immer noch eins draufzusetzen und so wirkt das Ganze (auf mich) zu langatmig. Es ist zudem ziemlich vorhersehbar, dass sich am Ende natürlich alles zum Guten wendet (und das nicht allein durch den Titel). Insgesamt überwiegt mir der Aufzählcharakter zu sehr und dadurch bleiben Emotionen und Stimmung auf der Strecke. Ich kann mit der Prota nicht mitfühlen, erfahre nicht gerade viel von ihrer Persönlichkeit, nicht mal ihren Namen.

Für mich hakt es schon gleich am Anfang:
Sie erwachte ohne ein Weckerklingeln zu hören. Das war sie gewohnt, ihr Körper besaß eine innere Uhr und wusste, wann es Zeit war, aufzustehen. So wartete sie entspannt auf das Klingeln und dachte darüber nach, wie der Tag werden würde.
Wenn sie stets ohne Weckerklingeln aufwacht, weil sie es so gewohnt ist, warum dann erwähnen, dass sie es nicht hört? Auch kommt mir das Vergessen der Uhrumstellung nicht plausibel rüber. Die beiden hatten ja den ganzen Sonntag, da dürften sie mMn irgendwann mitbekommen haben, dass die Uhren umgestellt sind. Wenn das nicht der Fall war, dürfte es einen Grund dafür geben.

Bis zu
„Mama, wir haben verschlafen!“
könntest du mMn davor alles streichen. Dass sie Witwe ist, kannst du auch an späterer Stelle einfügen.

Als sie nach verrichteter Arbeit kauend ins Schlafzimmer zurückhumpelte, war Kira längst mit Schulbrot und Fahrrad auf dem Weg zur Schule.
Die verrichete Arbeit bestand doch darin, das Pausenbrot für Kira zu schmieren.
Wenn es so pressant ist, dürfte Kira doch nicht schon längst auf dem Weg zur Schule sein. Wenn sie aber z. B. noch Hausarbeit erledigt hat, dann bräuchte es einen entsprechenden Hinweis darauf.

Für mich ist es eher ungewöhnlich, dass eine Frau ihre ganzen Papiere, Handy und Schlüssel in der Jackentasche mit sich rumträgt. In der Freizeit vielleicht, aber auf dem Weg zur Arbeit?

Dabei belasse ich es jetzt erst einmal.
Nichts für Ungut
herzlichst
eisblume
 

xavia

Mitglied
Hallo eisblume,

vielen Dank für die detaillierten Hinweise! Ich nehme sehr gerne einige deiner Anregungen auf, möchte aber den Anfang nicht streichen, weil er dazu dienen soll, sich in die Protagonistin hineinzufühlen: Sie lebt in einer Routine und träumt vom Großen Geld, glaubt an das unwahrscheinliche Glück. Durch die Zeitumstellung wird sie aus dieser Routine herausgerissen. Einen Namen wollte ich ihr nicht geben, weil der nichts zur Geschichte beiträgt. Dachte, eine Tochter und Lebensumstände seien erst einmal wichtiger. Ob sie nun Klara oder Friederike heißt ... Vielleicht wäre die ich-Perspektive günstiger? Da erfährt man ja auch den Namen nicht.

Sie wacht vor dem Weckerklingeln auf, wartet aber, bis der Moment gekommen ist, wo es klingelt und ihr bestätigt, dass ihre innere Uhr richtig geht. Ist das nicht nachvollziehbar? Wenn der Wecker noch nicht gleich klingelt, döst sie noch vor sich hin oder macht Pläne.
Einen Fehler habe ich hier entdeckt:
Erschrocken guckte sie zum Wecker: Keine Anzeige ­ die Batterie musste wohl leer sein. ­ Aber ihre innere Uhr ...
Ich brauche ja gar keine kaputte Batterie, wenn die Zeit umgestellt worden ist und es kein Funkwecker ist! Dumm gelaufen, der einzige Nicht-Funkwecker im Haus und am Wochenende war er nicht eingeschaltet. Der klingelt nun eine Stunde zu spät.

Die „verrichtete Arbeit“ werde ich ersetzen. Stimmt, das war missverständlich und „längst“ passt da auch nicht.

Die Sache mit der Jacke werde ich ebenfalls ändern und ihr eine Handtasche mitgeben.
 

xavia

Mitglied
Sie erwachte ohne ein Weckerklingeln zu hören. Das war sie gewohnt, ihr Körper besaß eine innere Uhr und wusste, wann es Zeit war, aufzustehen. So wartete sie, wie an jedem Morgen, entspannt auf das Klingeln, döste noch ein wenig vor sich hin und dann dachte sie darüber nach, wie der Tag werden würde.

Aufstehen, Waschen, Frühstücken, das war Routine. Mit Glück würde sie dabei in der Zeitung ihre Lottozahlen sehen, die sie seit vielen Jahren tippte, immer dieselben sechs Zahlen, kein Systemschein, keine zweite Reihe. Mit Wahrscheinlichkeiten ließ sich das Glück ohnehin nicht überlisten, das wusste sie. Die Ziehung im Fernsehen hatte sie verpasst, weil ihre Tochter Kira ihr von ihrem Liebeskummer berichten wollte. Das war definitiv wichtiger gewesen. Sie hatten ein sehr inniges Mutter-Tochter-Verhältnis, seit Thomas vor drei Jahren gestorben war. Thomas, die Liebe ihres Lebens. Sie dachte an ihn, sah sein liebes Gesicht vor sich, die blitzenden braunen Augen und die Strubbelhaare, die sich von einem Kamm nicht bändigen ließen, als die Schlafzimmertür aufflog und Kira hereinstürzte:
„Mama, wir haben verschlafen!“

Erschrocken guckte sie zum Wecker: Keine Anzeige ­ die Batterie
musste wohl leer sein. ­ Aber ihre innere Uhr ...

Sie sprang aus dem Bett und folgte ihrer Tochter eilig ins Badezimmer. Kira stand schon unter der Dusche. Sie wusste, was passiert war:

„Sommerzeit, wir müssen heute eine Stunde früher los und es ist höchste Zeit. So ein Mist, erste Stunde Geschichte, der Hauser, der kennt keine Gnade! Und jetzt ist auch noch der blöde Abfluss verstopft. Da kannst du das Waschbecken auch vergessen.“

Tatsächlich, auch im Waschbecken floss das Wasser nicht ab. Sie musste sich mit einer Katzenwäsche begnügen, für die Dusche blieb ohnehin nicht genug Zeit. Sie hastete in die Küche, um ihrer Tochter schnell noch ein Schulbrot zu machen und stieß sich im Flur den kleinen Zeh am Schuhschrank. Der Schmerz war enorm und sie stolperte daraufhin und verstauchte sich den Knöchel.

Als sie, immer noch im Nachthemd, kauend aus der Küche ins Schlafzimmer zurückhumpelte, polterte Kira schon mit Schulbrot im Rucksack die Treppe hinunter zu ihrem Fahrrad. Schnell wollte sie sich anziehen, da riss ein Knopf von ihrer Bluse ab. Neuer Versuch: Das rote Kleid war ein wenig „overdressed“, aber das war nun auch egal, sie musste sich beeilen, nicht allzu spät zur Arbeit zu kommen. Und um einen Klempner musste sie sich auch noch kümmern. Der Vermieter hatte ihr schon einmal zu verstehen gegeben, dass er sich um derlei Verstopfungen nicht kümmern werde, weil sie von ihr verursacht wurden. Darauf hatte sie jetzt überhaupt keine Lust, würde selbst den Klempner anrufen und bezahlen.

Seufzend ließ sie die sportliche Jacke, die sie zur Hose getragen hätte und deren Taschen genügend Platz für alles, was sie auf der Arbeit brauchte, boten, an der Garderobe hängen und griff nach dem kleinen schwarzen Lederjäckchen, das gut zu ihrem Kleid passte. Dann musste sie eben eine Handtasche mitnehmen.

Sie humpelte zur Bushaltestelle, sah den Bus, konnte aber aufgrund ihres lädierten Zehs nicht den gewohnten Sprint hinlegen und musste zusehen, wie er ohne sie abfuhr. Sie tröstete sich damit, dass es nun wohl kaum noch schlimmer werden konnte und wartete ungeduldig auf den nächsten. Das war ein außerplanmäßiger Bus, der auch den Landkreis versorgte. Er musste noch über ein Treppchen bestiegen werden, war nicht behindertengerecht. Als sie einsteigen wollte, schoss ihr der Schmerz wieder durch den Fuß und sie wäre beinahe hingefallen, konnte sich aber gerade noch an der Stange seitlich des Einstiegs festhalten.

Ihr Herz pochte heftig, als sie sich in einen der bequemen Sitze mit Kopfstütze fallen ließ: Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Sie konnte es nicht fassen. Im Büro war sicher auch schon der Teufel los, weil sie noch nicht da war. Sie wollte ungeduldig mit dem Fuß wippen, zuckte aber sofort zusammen, als sie es versuchte. Trotz der Schmerzen hielt sie es nicht auf dem Sitz aus und ging schon mal zum Ausgang, um gleich losspurten zu können, wenn der Bus ankam. Sie drückte den Halteknopf und pochte mit dem Zeigefinger einen ungeduldigen Rhythmus auf der Haltestange, bis das Fahrzeug endlich zum Stehen kam und sie hinaushumpeln konnte.

Im Büro angekommen ließ sie ergeben die Vorwürfe über sich ergehen, dass es gerade heute ganz schrecklich rücksichtslos von ihr sei, so spät zu kommen. Es gelang ihr inzwischen ganz gut, bei solchen Tiraden innerlich zu entspannen und in dieser Entspannung fiel ihr auf, dass ihre Tasche nicht mehr da war: Sie musste sie im Bus liegengelassen haben!

„Tut mir leid, tut mir wirklich sehr leid, Sommerzeit, Fuß verstaucht, Abfluss verstopft, Handtasche weg ...“ stammelte sie. „Ich muss telefonieren.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich in der Verkehrsgenossenschaft durchgefragt hatte, denn für die Überland-Busse waren andere Mitarbeiter zuständig als für die Linienbusse. Endlich hatte sie aber die richtige Person am Telefon und dieser Mann versicherte ihr, dass er die Fahrerin per Funk anrufen und die Tasche sicherstellen würde. Das würde aber bis zum Abend dauern, weil dieser Bus nicht an der Zentrale vorbeifuhr und nach Feierabend direkt in den Busbahnhof gebracht werden würde. Papiere, Haustürschlüssel und Handy wären also bis zum nächsten Morgen weg.
Das Handy! Kiras Handynummer! Die Nummer des Klempners! Sie ignorierte die wütenden Seitenblicke ihrer Kollegen und Kolleginnen in dem Großraumbüro, in dem jeder alles von jedem mitbekam und rief die Auskunft an. Nach einer gefühlt endlosen Zeit in der Warteschleife hatte sie einen wenig motivierten Mitarbeiter dran, der wissen wollte, wie der Sanitärbetrieb denn heißt, dessen Nummer er heraussuchen sollte.

„Ist doch egal, irgendein Klempner, ich weiß nicht, wie der Betrieb heißt, den ich letztes Mal hatte! Sie werden doch bei der Auskunft sowas wie Gelbe Seiten haben, oder?“

Es zog sich eine Weile hin, sie spielte mit dem Gedanken, einen Vorgesetzten zu verlangen, da besann sich der um Auskunft gebetene und nannte ihr endlich eine Nummer, die sie sogleich anrief und ihr Anliegen vortrug. Natürlich war es ein Problem, dass sie keine Kundin bei diesem Betrieb war und alle Mitarbeiter waren unterwegs und sehr beschäftigt mit weitaus lukrativeren Aufträgen als einem verstopften Rohr, aber sie blieb hartnäckig und die Dame dort am Telefon versprach ihr, wenn möglich, am Abend jemanden vorbeizuschicken.

Ihr Arbeitstag verlief ohne weitere Vorkommnisse, was ihr fast wie ein Wunder vorkam. Sie merkte, wie sehr sie „Normalität“ zu schätzen lernte, wenn die Dinge derart aus dem Ruder liefen.

Wieder daheim schien ihre Pechsträhne abzuklingen, denn Kira war zu Hause und konnte sie in die Wohnung lassen. Glücklich schob sie zwei Fertig-Pizzen in den Backofen und sank auf einen Küchenstuhl.

Noch während sie aßen klingelte es an der Haustür. Kira lief hin und ließ den Klempner herein. Sie selbst hatte nicht mehr die Kraft dazu. Er werkelte unter Kiras Anleitung im Badezimmer herum und sie hörte, wie die beiden sich unterhielten. Die Rohrkonstruktion sei abenteuerlich, erzählte er ihr, da wäre es kein Wunder, dass sie öfters eine Verstopfung hätten und er würde dem Vermieter das nicht durchgehen lassen, wenn er hier wohnen würde. Sie hörte, wie er schraubte und ein Gerät verwendete, das einen Lärm machte, als würde er ihr schönes Badezimmer schreddern. Und die ganze Zeit war ihre Tochter bei ihm und ließ sich alles genau erklären. Die beiden redeten miteinander, als würden sie sich schon lange kennen. Schließlich wurde sie neugierig auf diesen Mann und humpelte zum Badezimmer. Er zog gerade die Rohrreinigungswelle wieder aus dem Rohr, nicht ohne Kira vorher zu ermahnen, sich vor den Spritzern in Sicherheit zu bringen, da sah er sie im Türrahmen stehen, in ihrem roten Kleid, wie sie etwas verlegen mit den Fingern durch ihre dunklen Locken fuhr. Sie musste lächeln, weil er so abrupt in seiner Arbeit innehielt und sie nur noch ansah. Und sein Blick ging ihr durch und durch. Sowas hatte sie nicht mehr erlebt, seit .... Ja, das strahlende Lächeln, das sich jetzt auf seinem Gesicht ausbreitete, erinnerte sie an Thomas. Aber er sah ganz anders aus, es war nur dieses Gefühl. Dieses Gefühl, das sie so lange vermisst hatte und das ihr jetzt beinahe den Atem raubte.

Nichts an diesem perfekten Tag hätte anders sein dürfen!
 

xavia

Mitglied
Sie erwachte ohne ein Weckerklingeln zu hören. Das war sie gewohnt, ihr Körper besaß eine innere Uhr und wusste, wann es Zeit war, aufzustehen. So wartete sie, wie an jedem Morgen, entspannt auf das Klingeln, döste noch ein wenig vor sich hin und dann dachte sie darüber nach, wie der Tag werden würde.

Aufstehen, Waschen, Frühstücken, das war Routine. Mit Glück würde sie dabei in der Zeitung ihre Lottozahlen sehen, die sie seit vielen Jahren tippte, immer dieselben sechs Zahlen, kein Systemschein, keine zweite Reihe. Mit Wahrscheinlichkeiten ließ sich das Glück ohnehin nicht überlisten, das wusste sie. Die Ziehung im Fernsehen hatte sie verpasst, weil ihre Tochter Kira ihr von ihrem Liebeskummer berichten wollte. Das war definitiv wichtiger gewesen. Sie hatten ein sehr inniges Mutter-Tochter-Verhältnis, seit Thomas vor drei Jahren gestorben war. Thomas, die Liebe ihres Lebens. Sie dachte an ihn, sah sein liebes Gesicht vor sich, die blitzenden braunen Augen und die Strubbelhaare, die sich von einem Kamm nicht bändigen ließen, als die Schlafzimmertür aufflog und Kira hereinstürzte:
„Mama, wir haben verschlafen!“

Erschrocken guckte sie zum Wecker: ­Es war doch sogar noch etwas Zeit bis zum Aufstehen?

Sie sprang aus dem Bett und folgte ihrer Tochter eilig ins Badezimmer. Kira stand schon unter der Dusche. Sie wusste, was passiert war:

„Sommerzeit, wir müssen heute eine Stunde früher los und es ist höchste Zeit. So ein Mist, erste Stunde Geschichte, der Hauser, der kennt keine Gnade! Und jetzt ist auch noch der blöde Abfluss verstopft. Da kannst du das Waschbecken auch vergessen.“

Tatsächlich, auch im Waschbecken floss das Wasser nicht ab. Sie musste sich mit einer Katzenwäsche begnügen, für die Dusche blieb ohnehin nicht genug Zeit. Sie hastete in die Küche, um ihrer Tochter schnell noch ein Schulbrot zu machen und stieß sich im Flur den kleinen Zeh am Schuhschrank. Der Schmerz war enorm und sie stolperte daraufhin und verstauchte sich den Knöchel.

Als sie, immer noch im Nachthemd, kauend aus der Küche ins Schlafzimmer zurückhumpelte, polterte Kira schon mit Schulbrot im Rucksack die Treppe hinunter zu ihrem Fahrrad. Schnell wollte sie sich anziehen, da riss ein Knopf von ihrer Bluse ab. Neuer Versuch: Das rote Kleid war ein wenig „overdressed“, aber das war nun auch egal, sie musste sich beeilen, nicht allzu spät zur Arbeit zu kommen. Und um einen Klempner musste sie sich auch noch kümmern. Der Vermieter hatte ihr schon einmal zu verstehen gegeben, dass er sich um derlei Verstopfungen nicht kümmern werde, weil sie von ihr verursacht wurden. Darauf hatte sie jetzt überhaupt keine Lust, würde selbst den Klempner anrufen und bezahlen.

Seufzend ließ sie die sportliche Jacke, die sie zur Hose getragen hätte und deren Taschen genügend Platz für alles, was sie auf der Arbeit brauchte, boten, an der Garderobe hängen und griff nach dem kleinen schwarzen Lederjäckchen, das gut zu ihrem Kleid passte. Dann musste sie eben eine Handtasche mitnehmen.

Sie humpelte zur Bushaltestelle, sah den Bus, konnte aber aufgrund ihres lädierten Zehs nicht den gewohnten Sprint hinlegen und musste zusehen, wie er ohne sie abfuhr. Sie tröstete sich damit, dass es nun wohl kaum noch schlimmer werden konnte und wartete ungeduldig auf den nächsten. Das war ein außerplanmäßiger Bus, der auch den Landkreis versorgte. Er musste noch über ein Treppchen bestiegen werden, war nicht behindertengerecht. Als sie einsteigen wollte, schoss ihr der Schmerz wieder durch den Fuß und sie wäre beinahe hingefallen, konnte sich aber gerade noch an der Stange seitlich des Einstiegs festhalten.

Ihr Herz pochte heftig, als sie sich in einen der bequemen Sitze mit Kopfstütze fallen ließ: Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Sie konnte es nicht fassen. Im Büro war sicher auch schon der Teufel los, weil sie noch nicht da war. Sie wollte ungeduldig mit dem Fuß wippen, zuckte aber sofort zusammen, als sie es versuchte. Trotz der Schmerzen hielt sie es nicht auf dem Sitz aus und ging schon mal zum Ausgang, um gleich losspurten zu können, wenn der Bus ankam. Sie drückte den Halteknopf und pochte mit dem Zeigefinger einen ungeduldigen Rhythmus auf der Haltestange, bis das Fahrzeug endlich zum Stehen kam und sie hinaushumpeln konnte.

Im Büro angekommen ließ sie ergeben die Vorwürfe über sich ergehen, dass es gerade heute ganz schrecklich rücksichtslos von ihr sei, so spät zu kommen. Es gelang ihr inzwischen ganz gut, bei solchen Tiraden innerlich zu entspannen und in dieser Entspannung fiel ihr auf, dass ihre Tasche nicht mehr da war: Sie musste sie im Bus liegengelassen haben!

„Tut mir leid, tut mir wirklich sehr leid, Sommerzeit, Fuß verstaucht, Abfluss verstopft, Handtasche weg ...“ stammelte sie. „Ich muss telefonieren.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich in der Verkehrsgenossenschaft durchgefragt hatte, denn für die Überland-Busse waren andere Mitarbeiter zuständig als für die Linienbusse. Endlich hatte sie aber die richtige Person am Telefon und dieser Mann versicherte ihr, dass er die Fahrerin per Funk anrufen und die Tasche sicherstellen würde. Das würde aber bis zum Abend dauern, weil dieser Bus nicht an der Zentrale vorbeifuhr und nach Feierabend direkt in den Busbahnhof gebracht werden würde. Papiere, Haustürschlüssel und Handy wären also bis zum nächsten Morgen weg.
Das Handy! Kiras Handynummer! Die Nummer des Klempners! Sie ignorierte die wütenden Seitenblicke ihrer Kollegen und Kolleginnen in dem Großraumbüro, in dem jeder alles von jedem mitbekam und rief die Auskunft an. Nach einer gefühlt endlosen Zeit in der Warteschleife hatte sie einen wenig motivierten Mitarbeiter dran, der wissen wollte, wie der Sanitärbetrieb denn heißt, dessen Nummer er heraussuchen sollte.

„Ist doch egal, irgendein Klempner, ich weiß nicht, wie der Betrieb heißt, den ich letztes Mal hatte! Sie werden doch bei der Auskunft sowas wie Gelbe Seiten haben, oder?“

Es zog sich eine Weile hin, sie spielte mit dem Gedanken, einen Vorgesetzten zu verlangen, da besann sich der um Auskunft gebetene und nannte ihr endlich eine Nummer, die sie sogleich anrief und ihr Anliegen vortrug. Natürlich war es ein Problem, dass sie keine Kundin bei diesem Betrieb war und alle Mitarbeiter waren unterwegs und sehr beschäftigt mit weitaus lukrativeren Aufträgen als einem verstopften Rohr, aber sie blieb hartnäckig und die Dame dort am Telefon versprach ihr, wenn möglich, am Abend jemanden vorbeizuschicken.

Ihr Arbeitstag verlief ohne weitere Vorkommnisse, was ihr fast wie ein Wunder vorkam. Sie merkte, wie sehr sie „Normalität“ zu schätzen lernte, wenn die Dinge derart aus dem Ruder liefen.

Wieder daheim schien ihre Pechsträhne abzuklingen, denn Kira war zu Hause und konnte sie in die Wohnung lassen. Glücklich schob sie zwei Fertig-Pizzen in den Backofen und sank auf einen Küchenstuhl.

Noch während sie aßen klingelte es an der Haustür. Kira lief hin und ließ den Klempner herein. Sie selbst hatte nicht mehr die Kraft dazu. Er werkelte unter Kiras Anleitung im Badezimmer herum und sie hörte, wie die beiden sich unterhielten. Die Rohrkonstruktion sei abenteuerlich, erzählte er ihr, da wäre es kein Wunder, dass sie öfters eine Verstopfung hätten und er würde dem Vermieter das nicht durchgehen lassen, wenn er hier wohnen würde. Sie hörte, wie er schraubte und ein Gerät verwendete, das einen Lärm machte, als würde er ihr schönes Badezimmer schreddern. Und die ganze Zeit war ihre Tochter bei ihm und ließ sich alles genau erklären. Die beiden redeten miteinander, als würden sie sich schon lange kennen. Schließlich wurde sie neugierig auf diesen Mann und humpelte zum Badezimmer. Er zog gerade die Rohrreinigungswelle wieder aus dem Rohr, nicht ohne Kira vorher zu ermahnen, sich vor den Spritzern in Sicherheit zu bringen, da sah er sie im Türrahmen stehen, in ihrem roten Kleid, wie sie etwas verlegen mit den Fingern durch ihre dunklen Locken fuhr. Sie musste lächeln, weil er so abrupt in seiner Arbeit innehielt und sie nur noch ansah. Und sein Blick ging ihr durch und durch. Sowas hatte sie nicht mehr erlebt, seit .... Ja, das strahlende Lächeln, das sich jetzt auf seinem Gesicht ausbreitete, erinnerte sie an Thomas. Aber er sah ganz anders aus, es war nur dieses Gefühl. Dieses Gefühl, das sie so lange vermisst hatte und das ihr jetzt beinahe den Atem raubte.

Nichts an diesem perfekten Tag hätte anders sein dürfen!
 
E

eisblume

Gast
Hallo xavia,

Sie wacht vor dem Weckerklingeln auf, wartet aber, bis der Moment gekommen ist, wo es klingelt und ihr bestätigt, dass ihre innere Uhr richtig geht. Ist das nicht nachvollziehbar?
Natürlich ist das nachvollziehbar. Ich finde nur, dass du das sprachlich in der Form wie du es eben gemacht hast, nicht "gut" ausgedrückt hast.

Sie erwachte ohne ein Weckerklingeln zu hören.
Stattdessen könntest du z. B. schreiben:
Wie jeden Morgen erwachte sie bereits vor dem Weckerklingeln.
oder
Wie jeden Morgen weckte ihre innere Uhr sie (schon eine halbe Stunde) vor dem Weckerklingeln (bevor der Wecker läutete).

Dass ihr Körper diese innere Uhr besitzt, finde ich unschön formuliert.

Was jetzt den fehlenden Namen betrifft, kannst du ihn natürlich weglassen. Für diese Geschichte ist es wirklich unerheblich, ob sie Klara oder Friederike oder sonst wie heißt. Und gerade, weil es so unerheblich ist, könnte sie aber auch genauso gut einen Namen haben :) Abgesehen davon - warum hast du der Tochter einen gegeben?

herzlichst
eisblume
 

xavia

Mitglied
Hallo eisblume,

aah ja, jetzt verstehe ich, was du meinst! Darüber muss ich nachdenken.

Auf jeden Fall müsste es bei mir ja eher heißen: Sie erwachte, ohne ein Weckerklingeln [blue]gehört zu haben[/blue].

Dein Vorschlag klingt besser, ist aber etwas anderes als das, was ich sagen möchte: Deine Version impliziert, dass ein Wecker klingeln wird. Das ist für das Erwachen nach der inneren Uhr aber ja nicht notwendig.
Ich meine eher so etwas wie: Sie erwachte und wartete auf ein Weckerklingeln.

Was das Besitzen betrifft, habe ich jetzt mein Sprachgefühl mal überdacht: Ich kann eine Uhr besitzen. Ja, die innere Uhr, die besitze natürlich auch ich, irgendwie. Stimmt, die Besitzverhältnisse werde ich ändern, das ist seltsam, wie ich es geschrieben habe.

Die Tochter hat einen Namen, weil meine Protagonistin sie betrachtet, weil die Tochter ein Teil ihrer Welt ist. Es ist aber in der Geschichte niemand da, der die Protagonistin betrachtet, deswegen dachte ich, sie braucht keinen Namen. Würde sie einen haben, wer sollte ihn verwenden?
 

xavia

Mitglied
Ein perfekter Tag

Wie an jedem Morgen wurde sie von ihrer inneren Uhr geweckt. Da der
Wecker ihr signalisieren würde, wann es Zeit zum Aufstehen ist, döste
sie noch ein Weilchen entspannt vor sich hin und dachte dann darüber
nach, wie ihr Tag werden würde.

Aufstehen, Waschen, Frühstücken, das war Routine. Mit Glück würde sie dabei in der Zeitung ihre Lottozahlen sehen, die sie seit vielen Jahren tippte, immer dieselben sechs Zahlen, kein Systemschein, keine zweite Reihe. Mit Wahrscheinlichkeiten ließ sich das Glück ohnehin nicht überlisten, das wusste sie. Die Ziehung im Fernsehen hatten sie verpasst, weil ihre Tochter Kira ihr von ihrem Liebeskummer berichtet hatte. Das war definitiv wichtiger gewesen. Sie hatten ein sehr inniges Mutter-Tochter-Verhältnis, seit Thomas vor drei Jahren gestorben war. Thomas, die Liebe ihres Lebens. Sie dachte an ihn, sah sein liebes Gesicht vor sich, die blitzenden braunen Augen und die Strubbelhaare, die sich von einem Kamm nicht bändigen ließen, als die Schlafzimmertür aufflog und Kira hereinstürzte:
„Mama, wir haben verschlafen!“
Erschrocken guckte sie zum Wecker: Es war doch fast noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Aufstehen?

Sie sprang aus dem Bett und folgte ihrer Tochter eilig ins Badezimmer. Kira stand schon unter der Dusche. Die wusste, was passiert war:

„Sommerzeit, wir müssen heute eine Stunde früher los und es ist höchste Zeit. So ein Mist, erste Stunde Geschichte, der Hauser, der kennt keine Gnade! Und jetzt ist auch noch der blöde Abfluss verstopft. Da kannst du das Waschbecken auch vergessen.“

Tatsächlich, auch im Waschbecken floss das Wasser nicht ab. Sie musste sich mit einer Katzenwäsche begnügen, für die Dusche blieb ohnehin nicht genug Zeit. Sie hastete in die Küche, um ihrer Tochter schnell noch ein Schulbrot zu machen und stieß sich im Flur den kleinen Zeh am Schuhschrank. Der Schmerz war enorm und sie stolperte daraufhin und verstauchte sich den Knöchel.

Als sie, immer noch im Nachthemd, kauend aus der Küche ins Schlafzimmer zurückhumpelte, polterte Kira schon mit Schulbrot im Rucksack die Treppe hinunter zu ihrem Fahrrad. Schnell wollte sie sich anziehen, da riss ein Knopf von ihrer Bluse ab. Neuer Versuch: Das rote Kleid war ein wenig „overdressed“, aber das war nun auch egal, sie musste sich beeilen, nicht allzu spät zur Arbeit zu kommen. Und um einen Klempner musste sie sich auch noch kümmern. Der Vermieter hatte ihr schon einmal zu verstehen gegeben, dass er sich um derlei Verstopfungen nicht kümmern werde, weil sie von ihr verursacht wurden. Darauf hatte sie jetzt überhaupt keine Lust, würde selbst den Klempner anrufen und bezahlen.

Seufzend ließ sie die sportliche Jacke, die sie zur Hose getragen hätte und deren Taschen genügend Platz für alles, was sie auf der Arbeit brauchte, boten, an der Garderobe hängen und griff nach dem kleinen schwarzen Lederjäckchen, das gut zu ihrem Kleid passte. Dann musste sie eben eine Handtasche mitnehmen.

Sie humpelte zur Bushaltestelle, sah den Bus, konnte aber aufgrund ihres lädierten Zehs nicht den gewohnten Sprint hinlegen und musste zusehen, wie er ohne sie abfuhr. Sie tröstete sich damit, dass es nun wohl kaum noch schlimmer werden konnte und wartete ungeduldig auf den nächsten. Das war ein außerplanmäßiger Bus, der auch den Landkreis versorgte. Er musste noch über ein Treppchen bestiegen werden, war nicht behindertengerecht. Als sie einsteigen wollte, schoss ihr der Schmerz wieder durch den Fuß und sie wäre beinahe hingefallen, konnte sich aber gerade noch an der Stange seitlich des Einstiegs festhalten.

Ihr Herz pochte heftig, als sie sich in einen der bequemen Sitze mit Kopfstütze fallen ließ: Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Sie konnte es nicht fassen. Im Büro war sicher auch schon der Teufel los, weil sie noch nicht da war. Sie wollte ungeduldig mit dem Fuß wippen, zuckte aber sofort zusammen, als sie es versuchte. Trotz der Schmerzen hielt sie es nicht auf dem Sitz aus und ging schon mal zum Ausgang, um gleich losspurten zu können, wenn der Bus ankam. Sie drückte den Halteknopf und pochte mit dem Zeigefinger einen ungeduldigen Rhythmus auf der Haltestange, bis das Fahrzeug endlich zum Stehen kam und sie hinaushumpeln konnte.

Im Büro angekommen ließ sie ergeben die Vorwürfe über sich ergehen, dass es gerade heute ganz schrecklich rücksichtslos von ihr sei, so spät zu kommen. Es gelang ihr inzwischen ganz gut, bei solchen Tiraden innerlich zu entspannen und in dieser Entspannung fiel ihr auf, dass ihre Tasche nicht mehr da war: Sie musste sie im Bus liegengelassen haben!

„Tut mir leid, tut mir wirklich sehr leid, Sommerzeit, Fuß verstaucht, Abfluss verstopft, Handtasche weg ...“ stammelte sie. „Ich muss telefonieren.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich in der Verkehrsgenossenschaft durchgefragt hatte, denn für die Überland-Busse waren andere Mitarbeiter zuständig als für die Linienbusse. Endlich hatte sie aber die richtige Person am Telefon und dieser Mann versicherte ihr, dass er die Fahrerin per Funk anrufen und die Tasche sicherstellen würde. Das würde aber bis zum Abend dauern, weil dieser Bus nicht an der Zentrale vorbeifuhr und nach Feierabend direkt in den Busbahnhof gebracht werden würde. Papiere, Haustürschlüssel und Handy wären also bis zum nächsten Morgen weg.
Das Handy! Kiras Handynummer! Die Nummer des Klempners! Sie ignorierte die wütenden Seitenblicke ihrer Kollegen und Kolleginnen in dem Großraumbüro, in dem jeder alles von jedem mitbekam und rief die Auskunft an. Nach einer gefühlt endlosen Zeit in der Warteschleife hatte sie einen wenig motivierten Mitarbeiter dran, der wissen wollte, wie der Sanitärbetrieb denn heißt, dessen Nummer er heraussuchen sollte.

„Ist doch egal, irgendein Klempner, ich weiß nicht, wie der Betrieb heißt, den ich letztes Mal hatte! Sie werden doch bei der Auskunft sowas wie Gelbe Seiten haben, oder?“

Es zog sich eine Weile hin, sie spielte mit dem Gedanken, einen Vorgesetzten zu verlangen, da besann sich der um Auskunft gebetene und nannte ihr endlich eine Nummer, die sie sogleich anrief und ihr Anliegen vortrug. Natürlich war es ein Problem, dass sie keine Kundin bei diesem Betrieb war und alle Mitarbeiter waren unterwegs und sehr beschäftigt mit weitaus lukrativeren Aufträgen als einem verstopften Rohr, aber sie blieb hartnäckig und die Dame dort am Telefon versprach ihr, wenn möglich, am Abend jemanden vorbeizuschicken.

Ihr Arbeitstag verlief ohne weitere Vorkommnisse, was ihr fast wie ein Wunder vorkam. Sie merkte, wie sehr sie „Normalität“ zu schätzen lernte, wenn die Dinge derart aus dem Ruder liefen.

Wieder daheim schien ihre Pechsträhne abzuklingen, denn Kira war zu Hause und konnte sie in die Wohnung lassen. Glücklich schob sie zwei Fertig-Pizzen in den Backofen und sank auf einen Küchenstuhl.

Noch während sie aßen klingelte es an der Haustür. Kira lief hin und ließ den Klempner herein. Sie selbst hatte nicht mehr die Kraft dazu. Er werkelte unter Kiras Anleitung im Badezimmer herum und sie hörte, wie die beiden sich unterhielten. Die Rohrkonstruktion sei abenteuerlich, erzählte er ihr, da wäre es kein Wunder, dass sie öfters eine Verstopfung hätten und er würde dem Vermieter das nicht durchgehen lassen, wenn er hier wohnen würde. Sie hörte, wie er schraubte und ein Gerät verwendete, das einen Lärm machte, als würde er ihr schönes Badezimmer schreddern. Und die ganze Zeit war ihre Tochter bei ihm und ließ sich alles genau erklären. Die beiden redeten miteinander, als würden sie sich schon lange kennen. Schließlich wurde sie neugierig auf diesen Mann und humpelte zum Badezimmer. Er zog gerade die Rohrreinigungswelle wieder aus dem Rohr, nicht ohne Kira vorher zu ermahnen, sich vor den Spritzern in Sicherheit zu bringen, da sah er sie im Türrahmen stehen, in ihrem roten Kleid, wie sie etwas verlegen mit den Fingern durch ihre dunklen Locken fuhr. Sie musste lächeln, weil er so abrupt in seiner Arbeit innehielt und sie nur noch ansah. Und sein Blick ging ihr durch und durch. Sowas hatte sie nicht mehr erlebt, seit .... Ja, das strahlende Lächeln, das sich jetzt auf seinem Gesicht ausbreitete, erinnerte sie an Thomas. Aber er sah ganz anders aus, es war nur dieses Gefühl. Dieses Gefühl, das sie so lange vermisst hatte und das ihr jetzt beinahe den Atem raubte.

Nichts an diesem perfekten Tag hätte anders sein dürfen!
 
E

eisblume

Gast
Hallo xavia,

da der Wecker so gesehen ja keine Rolle spielt, warum ihn dann überhaupt erwähnen?
Es würde doch reichen, einfach zu schreiben, dass sie jeden Morgen zur gleichen Zeit eben nach ihrer inneren Uhr aufwacht. Das ist selbsterklärend und braucht keine weiteren Ausführungen. Ich verstehe schon, dass du den Wecker gern drin hättest von wegen Zeitumstellung und verschlafen. Meiner Meinung nach verzettelst du dich aber damit. Im Grunde geht es doch nur darum, dass der Tag negativ beginnt und sich in der Folge genauso negativ fortsetzt und am Ende – tadaa, wie aus dem Nichts Happy End.
Warum sie jetzt genau verschlafen haben, würde mich dabei jetzt gar nicht interessieren. Sie haben nun mal verschlafen, damit beginnt der Tag und gut isses.

Und nochmal wegen des Namens. Ich gehe da von mir aus, andere mögen das anders sehen:
Innerhalb deiner Geschichte spricht niemand die Frau direkt mit Namen an, okay. Aber in dem Moment, wo ich eine Geschichte lese, bin ich ein Teil davon. Wenn sie mich richtig packt, kann ich mich in die Prota hineinversetzen, dann leide/freue/weine/lache ich mit ihr mit. Mein Kopfkino läuft auf Hochtouren. Und da ich in diesem besten Fall sozusagen alles mit ihr teile, wüsste ich dann auch gern, mit wem ich es zu tun habe :)

Ich sag es dir ganz ehrlich, dass mich deine Geschichte jetzt nicht wirklich packt und mitnimmt - daran würde jetzt aber auch ein Name nichts ändern. Es liegt vielmehr daran, dass ich nicht nah genug an deiner Prota dran bin, um eben mit ihr mitfühlen zu können. Ich erfahre nicht wirklich etwas von ihr, außer halt die Eckdaten, dass sie mal glücklich verheiratet war, jetzt Witwe ist und eine Tochter hat, zu der ein inniges Verhältnis besteht. Du behauptest und erzählst das alles, aber du zeigst mir nicht, wie sich z. B. dieses innige Verhältnis anfühlt.
Wie schon geschrieben, fehlen mir die Emotionen. Du brauchst dafür auch keine Ich-Perspektive, um näher an deine Prota heranzukommen, das geht aus einer personalen Perspektive genauso gut. Und die bietet sich hier doch an, ich sehe keinen Grund, so distanziert zu schreiben.


schönen Sonntag
eisblume
 

xavia

Mitglied
Wie an jedem Morgen wurde Hanna von ihrer inneren Uhr geweckt. Sie döste noch ein Weilchen entspannt vor sich hin, dachte darüber nach, wie ihr Tag werden würde und wartete auf das Weckerklingeln.

Mit Glück würde sie beim Frühstück in der Zeitung ihre Lottozahlen sehen, die sie seit vielen Jahren tippte, immer dieselben sechs Zahlen, kein Systemschein, keine zweite Reihe. Mit Wahrscheinlichkeiten ließ sich das Glück ohnehin nicht überlisten, das wusste sie. Die Ziehung im Fernsehen hatten sie verpasst, weil Kira von ihrem Liebeskummer berichtet hatte. Das war definitiv wichtiger gewesen. Ihre Tochter war wie eine Freundin für sie, seit Thomas vor drei Jahren gestorben war. Thomas, die Liebe ihres Lebens. Sie dachte an ihn, sah sein liebes Gesicht vor sich, die blitzenden braunen Augen und die Strubbelhaare, die sich von einem Kamm nicht bändigen ließen, als die Schlafzimmertür aufflog, Kira hereinstürzte und sie aus ihren Gedanken riss:

„Mama, wir haben verschlafen!“

Erschrocken guckte sie zum Wecker: Es war doch fast noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Aufstehen? Kira zog ihr die Decke weg, ließ dann aber sofort von ihr ab, um im Badezimmer die Erste unter der Dusche zu sein. Von dort aus informierte sie ihre Mutter, die ihr widerstrebend gefolgt war:

„Sommerzeit, wir müssen heute eine Stunde früher los und es ist höchste Zeit. So ein Mist, erste Stunde Geschichte, der Hauser, der kennt keine Gnade! Und jetzt ist auch noch der blöde Abfluss verstopft. Da kannst du das Waschbecken auch vergessen.“

Tatsächlich, auch im Waschbecken floss das Wasser nicht ab. Sie musste sich mit einer Katzenwäsche begnügen, für die Dusche blieb ohnehin nicht genug Zeit. Sie hastete in die Küche, um ihrer Tochter schnell noch ein Schulbrot zu machen und stieß sich im Flur den kleinen Zeh am Schuhschrank. Der Schmerz war enorm und sie stolperte daraufhin und verstauchte sich den Knöchel.

Als sie, immer noch im Nachthemd, kauend aus der Küche ins Schlafzimmer zurückhumpelte, polterte Kira schon mit Schulbrot im Rucksack die Treppe hinunter zu ihrem Fahrrad. Schnell wollte sie sich anziehen, da riss ein Knopf von ihrer Bluse ab. Neuer Versuch: Das rote Kleid war ein wenig „overdressed“, aber das war nun auch egal, sie musste sich beeilen, nicht allzu spät zur Arbeit zu kommen. Und um einen Klempner musste sie sich auch noch kümmern. Der Vermieter hatte ihr schon einmal zu verstehen gegeben, dass er sich um derlei Verstopfungen nicht kümmern werde, weil sie von ihr verursacht wurden. Darauf hatte sie jetzt überhaupt keine Lust, würde selbst den Klempner anrufen und bezahlen.

Seufzend ließ sie die sportliche Jacke, die sie zur Hose getragen hätte und deren Taschen genügend Platz für alles, was sie auf der Arbeit brauchte, boten, an der Garderobe hängen und griff nach dem kleinen schwarzen Lederjäckchen, das gut zu ihrem Kleid passte. Dann musste sie eben eine Handtasche mitnehmen.

Sie humpelte zur Bushaltestelle, sah den Bus, konnte aber aufgrund ihres lädierten Zehs nicht den gewohnten Sprint hinlegen und musste zusehen, wie er ohne sie abfuhr. Sie tröstete sich damit, dass es nun wohl kaum noch schlimmer werden konnte und wartete ungeduldig auf den nächsten. Das war ein außerplanmäßiger Bus, der auch den Landkreis versorgte. Er musste noch über ein Treppchen bestiegen werden, war nicht behindertengerecht. Als sie einsteigen wollte, schoss ihr der Schmerz wieder durch den Fuß und sie wäre beinahe hingefallen, konnte sich aber gerade noch an der Stange seitlich des Einstiegs festhalten.

Ihr Herz pochte heftig, als sie sich in einen der bequemen Sitze mit Kopfstütze fallen ließ: Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Sie konnte es nicht fassen. Im Büro war sicher auch schon der Teufel los, weil sie noch nicht da war. Sie wollte ungeduldig mit dem Fuß wippen, zuckte aber sofort zusammen, als sie es versuchte. Trotz der Schmerzen hielt sie es nicht auf dem Sitz aus und ging schon mal zum Ausgang, um gleich losspurten zu können, wenn der Bus ankam. Sie drückte den Halteknopf und pochte mit dem Zeigefinger einen ungeduldigen Rhythmus auf der Haltestange, bis das Fahrzeug endlich zum Stehen kam und sie hinaushumpeln konnte.

Im Büro angekommen ließ sie ergeben die Vorwürfe über sich ergehen, dass es gerade heute ganz schrecklich rücksichtslos von ihr sei, so spät zu kommen. Es gelang ihr inzwischen ganz gut, bei solchen Tiraden innerlich zu entspannen und in dieser Entspannung fiel ihr auf, dass ihre Tasche nicht mehr da war: Sie musste sie im Bus liegengelassen haben!

„Tut mir leid, tut mir wirklich sehr leid, Sommerzeit, Fuß verstaucht, Abfluss verstopft, Handtasche weg ...“ stammelte sie. „Ich muss telefonieren.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich in der Verkehrsgenossenschaft durchgefragt hatte, denn für die Überland-Busse waren andere Mitarbeiter zuständig als für die Linienbusse. Endlich hatte sie aber die richtige Person am Telefon und dieser Mann versicherte ihr, dass er die Fahrerin per Funk anrufen und die Tasche sicherstellen würde. Das würde aber bis zum Abend dauern, weil dieser Bus nicht an der Zentrale vorbeifuhr und nach Feierabend direkt in den Busbahnhof gebracht werden würde. Papiere, Haustürschlüssel und Handy wären also bis zum nächsten Morgen weg.
Das Handy! Kiras Handynummer! Die Nummer des Klempners! Sie ignorierte die wütenden Seitenblicke ihrer Kollegen und Kolleginnen in dem Großraumbüro, in dem jeder alles von jedem mitbekam und rief die Auskunft an. Nach einer gefühlt endlosen Zeit in der Warteschleife hatte sie einen wenig motivierten Mitarbeiter dran, der wissen wollte, wie der Sanitärbetrieb denn heißt, dessen Nummer er heraussuchen sollte.

„Ist doch egal, irgendein Klempner, ich weiß nicht, wie der Betrieb heißt, den ich letztes Mal hatte! Sie werden doch bei der Auskunft sowas wie Gelbe Seiten haben, oder?“

Es zog sich eine Weile hin, sie spielte mit dem Gedanken, einen Vorgesetzten zu verlangen, da besann sich der um Auskunft gebetene und nannte ihr endlich eine Nummer, die sie sogleich anrief und ihr Anliegen vortrug. Natürlich war es ein Problem, dass sie keine Kundin bei diesem Betrieb war und alle Mitarbeiter waren unterwegs und sehr beschäftigt mit weitaus lukrativeren Aufträgen als einem verstopften Rohr, aber sie blieb hartnäckig und die Dame dort am Telefon versprach ihr, wenn möglich, am Abend jemanden vorbeizuschicken.

Ihr Arbeitstag verlief ohne weitere Vorkommnisse, was ihr fast wie ein Wunder vorkam. Sie merkte, wie sehr sie „Normalität“ zu schätzen lernte, wenn die Dinge derart aus dem Ruder liefen.

Wieder daheim schien ihre Pechsträhne abzuklingen, denn Kira war zu Hause und konnte sie in die Wohnung lassen. Glücklich schob sie zwei Fertig-Pizzen in den Backofen und sank auf einen Küchenstuhl.

Noch während sie aßen klingelte es an der Haustür. Kira lief hin und ließ den Klempner herein. Sie selbst hatte nicht mehr die Kraft dazu. Er werkelte unter Kiras Anleitung im Badezimmer herum und sie hörte, wie die beiden sich unterhielten. Die Rohrkonstruktion sei abenteuerlich, erzählte er ihr, da wäre es kein Wunder, dass sie öfters eine Verstopfung hätten und er würde dem Vermieter das nicht durchgehen lassen, wenn er hier wohnen würde. Sie hörte, wie er schraubte und ein Gerät verwendete, das einen Lärm machte, als würde er ihr schönes Badezimmer schreddern. Und die ganze Zeit war ihre Tochter bei ihm und ließ sich alles genau erklären. Die beiden redeten miteinander, als würden sie sich schon lange kennen. Schließlich wurde sie neugierig auf diesen Mann und humpelte zum Badezimmer. Er zog gerade die Rohrreinigungswelle wieder aus dem Rohr, nicht ohne Kira vorher zu ermahnen, sich vor den Spritzern in Sicherheit zu bringen, da sah er sie im Türrahmen stehen, in ihrem roten Kleid, wie sie etwas verlegen mit den Fingern durch ihre dunklen Locken fuhr. Sie musste lächeln, weil er so abrupt in seiner Arbeit innehielt und sie nur noch ansah. Und sein Blick ging ihr durch und durch. Sowas hatte sie nicht mehr erlebt, seit .... Ja, das strahlende Lächeln, das sich jetzt auf seinem Gesicht ausbreitete, erinnerte sie an Thomas. Aber er sah ganz anders aus, es war nur dieses Gefühl. Dieses Gefühl, das sie so lange vermisst hatte und das ihr jetzt beinahe den Atem raubte.

Nichts an diesem perfekten Tag hätte anders sein dürfen!
 

xavia

Mitglied
Hallo eisblume,

ich freue mich, dass du so viel Geduld mit mir hast, bin sehr dankbar dafür. Außerdem beeindruckt mich deine Hartnäckigkeit, was den Namen angeht. Ich habe den ganzen Tag darüber nachgedacht, wie der Name der Protagonistin ist und gemerkt, dass es alles andere als egal ist. Mit fast allen Namen, die mir eingefallen sind, hätte ich eine andere Geschichte erzählt. Nun habe ich eine Entscheidung getroffen. Puh. Mal sehen, ob ich damit leben kann.

Ohne den Wecker geht es für mich nicht. Ich habe aber noch mal gekürzt und umformuliert.

Du siehst keinen Grund, so distanziert zu schreiben, ich kann dir einen nennen:

Ich bin nicht gerade versiert im bewussten Umgang mit Emotionen. Ich will es sehr gerne lernen, habe es in dieser Geschichte am Ende versucht, habe die Situation gefühlt und dann aufgeschrieben. Aber am Anfang der Geschichte – Nähe zu der Protagonistin schaffen – wie macht man das? Ich werde mal mit der Leselupe auf diesem Thema Geschichten lesen, um das herauszufinden. Ich selbst habe diese Nähe zu ihr, sonst kann ich nicht über sie schreiben. Aber wie bringe ich das rüber?
 
E

eisblume

Gast
Hallo xavia,

zuerst einmal: Du musst keinem meiner Gedanken folgen, es ist und bleibt dein Text. Ich kann nur das dazu schreiben, was mir dabei durch den Sinn geht und wie es auf mich wirkt. Auf jemand anderen wirkt es wiederum ganz anders.

Den richtigen Namen zu finden, ist nicht immer leicht, da gebe ich dir Recht. Hinter einer Julia steckt eine andere Person als z. B. hinter einer Sybille.
Ich finde, Hanna passt sehr gut, auch liest sich dein überarbeiteter Anfang schon viel besser, flüssiger und nicht mehr so sperrig.

Mehr Nähe schaffen könntest du z. B. hier:

… weil Kira von ihrem Liebeskummer berichtet hatte. Das war definitiv wichtiger gewesen.
Natürlich war das wichtiger gewesen, das braucht keine extra Erwähnung. Vielmehr könntest du etwas davon schreiben, wie sich Kiras Liebeskummer gezeigt hat, und z. B. dass Hanna sie in ihren Armen gewiegt hat, ihr Taschentücher gereicht hat. Muss ja nicht ganz so kitschig sein, aber hier könntest du eben entsprechende Bilder liefern.

Was mir gar nicht gefällt, ist dieser Satz:

Von dort aus informierte sie ihre Mutter, die ihr widerstrebend gefolgt war:
Du erzählst aus der Sicht von Hanna und die würde sich selbst nicht als „ihre Mutter“ bezeichnen. Den Satz einfach weglassen und z. B. so weiterschreiben:
„Sommerzeit“, rief sie ihr über die Schulter zu. „Wir müssen heute eine Stunde …“

Einiges könnest du noch gut streichen, z. B.:

… ließ dann aber sofort von ihr ab, um [strike]im Badezimmer[/strike] die Erste unter der Dusche zu sein.
In aller Regel ist die Dusche im Badezimmer, insofern reicht es, nur die Dusche zu erwähnen :)

Darauf hatte sie jetzt überhaupt keine Lust, würde selbst den Klempner anrufen und bezahlen.
Das erschließt sich praktisch von selbst und ist nur eine unnötige Wiederholung.

Seufzend ließ sie die sportliche Jacke, die sie zur Hose getragen hätte und deren Taschen genügend Platz für alles, was sie auf der Arbeit brauchte, boten, an der Garderobe hängen und griff nach dem kleinen schwarzen Lederjäckchen, das gut zu ihrem Kleid passte. Dann musste sie eben eine Handtasche mitnehmen.
Das ist auch unnötig ausführlich und unerheblich, was sie getragen hätte und wie viel Platz in den Taschen gewesen wäre. Sie schnappt sich Jacke und Tasche und ab mit ihr.

Mir ist das insgesamt zu sehr ausgewalzt mit dem Landkreisbus samt nicht behindertengerechtem Treppchen und der Verkehrsgenossenschaft und der Telefonauskunft.
Vielleicht könntest du da auch noch ein bisserl abspecken.

herzlichst
eisblume
 

xavia

Mitglied
Wie an jedem Morgen wurde Hanna von ihrer inneren Uhr geweckt. Sie döste noch ein Weilchen entspannt vor sich hin, dachte darüber nach, wie ihr Tag werden würde und wartete auf das Weckerklingeln.

Mit Glück würde sie beim Frühstück in der Zeitung ihre Lottozahlen sehen, die sie seit vielen Jahren tippte, immer dieselben sechs Zahlen, kein Systemschein, keine zweite Reihe. Mit Wahrscheinlichkeiten ließ sich das Glück ohnehin nicht überlisten, das wusste sie. Die Ziehung im Fernsehen hatten sie verpasst, weil Kira von ihrem Liebeskummer berichtet hatte: Christian war in der Schule mal wieder gemein zu ihr gewesen und das, wo sie ihn doch so gern hatte. Hanna hatte sich uralt gefühlt, als sie ihrer Tochter davon berichtet hatte, wie sie selbst in ihrer Schulzeit solche Erfahrungen mit Jungs gemacht hatte. Dass diese zunächst oft keine andere Möglichkeit kannten, ihr Interesse auszudrücken. In dem Moment war sie ganz Mutter gewesen, ihre Tochter hatte sich dankbar an sie gekuschelt und geschnieft. Sonst waren sie eher wie Freundinnen, seit Thomas vor drei Jahren gestorben war. – Thomas, die Liebe ihres Lebens. Sie dachte an ihn, sah sein liebes Gesicht vor sich, die blitzenden braunen Augen und die Strubbelhaare, die sich von einem Kamm nicht bändigen ließen, als die Schlafzimmertür aufflog, Kira hereinstürzte und sie aus ihren Gedanken riss:

„Mama, wir haben verschlafen!“

Erschrocken guckte sie zum Wecker: Es war doch fast noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Aufstehen? Kira zog ihr die Decke weg, ließ dann aber sofort von ihr ab, um die Erste unter der Dusche zu sein.

„Sommerzeit!“, rief sie ihr von dort aus zu, „Wir müssen heute eine Stunde früher los und es ist höchste Zeit. So ein Mist, erste Stunde Geschichte, der Hauser, der kennt keine Gnade! Und jetzt ist auch noch der blöde Abfluss verstopft. Da kannst du das Waschbecken auch vergessen.“

Tatsächlich, auch im Waschbecken floss das Wasser nicht ab. Sie musste sich mit einer Katzenwäsche begnügen, für die Dusche blieb ohnehin nicht genug Zeit. Sie hastete in die Küche, um ihrer Tochter schnell noch ein Schulbrot zu machen und stieß sich im Flur den kleinen Zeh am Schuhschrank. Der Schmerz war enorm und sie stolperte daraufhin und verstauchte sich den Knöchel.

Als sie, immer noch im Nachthemd, kauend aus der Küche ins Schlafzimmer zurückhumpelte, polterte Kira schon mit Schulbrot im Rucksack die Treppe hinunter zu ihrem Fahrrad. Schnell wollte sie sich anziehen, da riss ein Knopf von ihrer Bluse ab. Neuer Versuch: Das rote Kleid war ein wenig „overdressed“, aber das war nun auch egal, sie musste sich beeilen, nicht allzu spät zur Arbeit zu kommen. Und um einen Klempner musste sie sich auch noch kümmern. Der Vermieter hatte ihr schon einmal zu verstehen gegeben, dass er sich um derlei Verstopfungen nicht kümmern werde, weil sie von ihr verursacht wurden.

Seufzend ließ sie die sportliche Jacke, die sie zur Hose getragen hätte und deren Taschen genügend Platz für alles, was sie auf der Arbeit brauchte, boten, an der Garderobe hängen, schlüpfte in das kleine schwarze Lederjäckchen, das gut zu ihrem Kleid passte und verstaute alle Utensilien in ihrer Handtasche.

Sie humpelte zur Bushaltestelle, konnte aber aufgrund ihres lädierten Zehs nicht den gewohnten Sprint hinlegen und musste hilflos zusehen, wie der Bus ohne sie abfuhr. Sie versuchte, sich damit zu trösten, dass es nun wohl kaum noch schlimmer werden konnte, als ein außerplanmäßiger Bus kam, der auch den Landkreis versorgte. Erfreut über die verkürzte Wartezeit wollte sie schwungvoll das Einstiegstreppchen erklimmen, da schoss blitzartig wieder der Schmerz durch ihren Fuß.

Ihr Herz pochte heftig, als sie sich in einen der bequemen Sitze mit Kopfstütze fallen ließ: Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Sie konnte es nicht fassen. Im Büro war sicher auch schon der Teufel los, weil sie noch nicht da war. Sie wollte ungeduldig mit dem Fuß wippen, zuckte aber sofort zusammen, als sie es versuchte. Trotz der Schmerzen hielt sie es nicht auf dem Sitz aus und ging schon mal zum Ausgang, um gleich losspurten zu können, wenn der Bus ankam. Sie drückte den Halteknopf und pochte mit dem Zeigefinger einen ungeduldigen Rhythmus auf der Haltestange, bis das Fahrzeug endlich zum Stehen kam und sie hinaushumpeln konnte.

Im Büro angekommen ließ sie ergeben die Vorwürfe über sich ergehen, dass es gerade heute ganz schrecklich rücksichtslos von ihr sei, so spät zu kommen. Es gelang ihr inzwischen ganz gut, bei solchen Tiraden innerlich zu entspannen und in dieser Entspannung fiel ihr auf, dass ihre Tasche nicht mehr da war: Sie musste sie im Bus liegengelassen haben!

„Tut mir leid, tut mir wirklich sehr leid, Sommerzeit, Fuß verstaucht, Abfluss verstopft, Handtasche weg ...“ stammelte sie. „Ich muss telefonieren.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich in der Verkehrsgenossenschaft zu der Person durchgefragt hatte, die für die Überland-Busse zuständig war, aber dieser freundliche Mann erbot sich sogleich, die Fahrerin des Busses per Funk anzurufen, damit sie die Tasche sicherstellte. Dennoch: Bis morgen früh würde sie sich gedulden müssen, dann könnte sie die Tasche bei ihm abholen. Papiere, Haustürschlüssel und Handy wären also erst mal nicht verfügbar.

Das Handy! Kiras Handynummer! Die Nummer des Klempners! Sie ignorierte die wütenden Seitenblicke ihrer Kollegen und Kolleginnen in dem Großraumbüro, in dem jeder alles von jedem mitbekam und rief die Auskunft an. Nach einer gefühlt endlosen Zeit in der Warteschleife hatte sie einen wenig motivierten Mitarbeiter dran, der wissen wollte, wie der Sanitärbetrieb denn heißt, dessen Nummer er heraussuchen sollte. – „Ist doch egal, irgendein Klempner, ich weiß nicht, wie der Betrieb heißt, den ich letztes Mal hatte! Sie werden doch bei der Auskunft sowas wie Gelbe Seiten haben, oder?“

Es zog sich eine Weile hin, sie spielte bereits mit dem Gedanken, eine Vorgesetzte zu verlangen, da besann sich der um Auskunft gebetene und nannte ihr endlich eine Nummer, die sie umgehend anrief um ihr Anliegen vorzutragen. – Natürlich war es ein Problem, dass sie keine Kundin bei diesem Betrieb war und alle Mitarbeiter waren unterwegs und sehr beschäftigt mit weitaus lukrativeren Aufträgen als einem verstopften Rohr, aber sie blieb hartnäckig und die Dame dort am Telefon versprach ihr, wenn möglich, am Abend jemanden vorbeizuschicken.

Ihr Arbeitstag verlief ohne weitere Vorkommnisse, was ihr fast wie ein Wunder vorkam. Sie merkte, wie sehr sie „Normalität“ zu schätzen lernte, wenn die Dinge derart aus dem Ruder liefen. Wieder daheim schien ihre Pechsträhne abzuklingen, denn Kira war zu Hause und konnte sie in die Wohnung lassen. Glücklich schob sie zwei Fertig-Pizzen in den Backofen und sank auf einen Küchenstuhl.

Noch während sie aßen klingelte es an der Haustür. Kira lief hin und ließ den Klempner herein. Sie selbst hatte nicht mehr die Kraft dazu. Er werkelte unter Kiras Anleitung im Badezimmer herum und sie hörte, wie die beiden sich unterhielten. Die Rohrkonstruktion sei abenteuerlich, erzählte er ihr, da wäre es kein Wunder, dass sie öfters eine Verstopfung hätten und er würde dem Vermieter das nicht durchgehen lassen, wenn er hier wohnen würde. Sie hörte, wie er schraubte und ein Gerät verwendete, das einen Lärm machte, als würde er ihr schönes Badezimmer schreddern. Und die ganze Zeit war ihre Tochter bei ihm und ließ sich alles genau erklären. Die beiden redeten miteinander, als würden sie sich schon lange kennen. Schließlich wurde sie neugierig auf diesen Mann und humpelte zum Badezimmer. Er zog gerade die Rohrreinigungswelle wieder aus dem Rohr, nicht ohne Kira vorher zu ermahnen, sich vor den Spritzern in Sicherheit zu bringen, da sah er sie im Türrahmen stehen, in ihrem roten Kleid, wie sie etwas verlegen mit den Fingern durch ihre dunklen Locken fuhr. Sie musste lächeln, weil er so abrupt in seiner Arbeit innehielt und sie nur noch ansah. Und sein Blick ging ihr durch und durch. Sowas hatte sie nicht mehr erlebt, seit .... Ja, das strahlende Lächeln, das sich jetzt auf seinem Gesicht ausbreitete, erinnerte sie an Thomas. Aber er sah ganz anders aus, es war nur dieses Gefühl. Dieses Gefühl, das sie so lange vermisst hatte und das ihr jetzt beinahe den Atem raubte.

Nichts an diesem perfekten Tag hätte anders sein dürfen!
 

xavia

Mitglied
Hallo Eisblume,

nun ist mein Versuch, etwas mehr Nähe zu schaffen, online.

Habe den Text auch hier und da gekürzt. Es fällt mir schwer, obwohl ich deine Einwände nachvollziehen kann.

Das Badezimmer musste weg, ganz klar! Ich dachte, solche Doppelmoppel passieren nur den anderen, nicht mir. Und auch der Plan, den Klempner anzurufen ist ohne Bedauern entschwunden, danke für die Hinweise!

Von dem Absatz mit der Jacke mag ich mich aber nicht trennen. Ich ärgere mich so oft über die Frauenjacken ohne Stauraum. Handy, Portemonaie, Kamm, Schlüssel – dafür braucht frau doch eigentlich keine Tasche!

Herzliche Grüße Xavia.
 

xavia

Mitglied
Wie an jedem Morgen wurde Hanna von ihrer inneren Uhr geweckt. Sie döste noch ein Weilchen entspannt vor sich hin, dachte darüber nach, wie ihr Tag werden würde und wartete auf das Weckerklingeln.

Mit Glück würde sie beim Frühstück in der Zeitung ihre Lottozahlen sehen, die sie seit vielen Jahren tippte, immer dieselben sechs Zahlen, kein Systemschein, keine zweite Reihe. Mit Wahrscheinlichkeiten ließ sich das Glück ohnehin nicht überlisten, das wusste sie. Die Ziehung im Fernsehen hatten sie verpasst, weil Kira von ihrem Liebeskummer berichtet hatte: Christian war in der Schule mal wieder gemein zu ihr gewesen und das, wo sie ihn doch so gern hatte. Hanna hatte sich uralt gefühlt, als sie ihrer Tochter davon berichtet hatte, wie sie selbst in ihrer Schulzeit solche Erfahrungen mit Jungs gemacht hatte. Dass diese zunächst oft keine andere Möglichkeit kannten, ihr Interesse auszudrücken. In dem Moment war sie ganz Mutter gewesen, ihre Tochter hatte sich dankbar an sie gekuschelt und geschnieft. Sonst waren sie eher wie Freundinnen, seit Thomas vor drei Jahren gestorben war. – Thomas, die Liebe ihres Lebens. Sie dachte an ihn, sah sein liebes Gesicht vor sich, die blitzenden braunen Augen und die Strubbelhaare, die sich von einem Kamm nicht bändigen ließen, als die Schlafzimmertür aufflog, Kira hereinstürzte und sie aus ihren Gedanken riss:

„Mama, wir haben verschlafen!“

Erschrocken guckte sie zum Wecker: Es war doch fast noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Aufstehen? Kira zog ihr die Decke weg, ließ dann aber sofort von ihr ab, um die Erste unter der Dusche zu sein.

„Sommerzeit!“, rief sie ihr von dort aus zu, „Wir müssen heute eine Stunde früher los und es ist höchste Zeit. So ein Mist, erste Stunde Geschichte, der Hauser, der kennt keine Gnade! Und jetzt ist auch noch der blöde Abfluss verstopft. Da kannst du das Waschbecken auch vergessen.“

Tatsächlich, auch im Waschbecken floss das Wasser nicht ab. Sie musste sich mit einer Katzenwäsche begnügen, für die Dusche blieb ohnehin nicht genug Zeit. Sie hastete in die Küche, um ihrer Tochter schnell noch ein Schulbrot zu machen und stieß sich im Flur den kleinen Zeh am Schuhschrank. Der Schmerz war enorm und sie stolperte daraufhin und verstauchte sich den Knöchel.

Als sie, immer noch im Nachthemd, kauend aus der Küche ins Schlafzimmer zurückhumpelte, polterte Kira schon mit Schulbrot im Rucksack die Treppe hinunter zu ihrem Fahrrad. Schnell wollte sie sich anziehen, da riss ein Knopf von ihrer Bluse ab. Neuer Versuch: Das rote Kleid war ein wenig „overdressed“, aber das war nun auch egal, sie musste sich beeilen, nicht allzu spät zur Arbeit zu kommen. Und um einen Klempner musste sie sich auch noch kümmern. Der Vermieter hatte ihr schon einmal zu verstehen gegeben, dass er sich für derlei Verstopfungen nicht zuständig fühle, weil sie von ihr verursacht wurden.

Seufzend schlüpfte sie in ihre schwarze Lederjacke und verstaute alle Utensilien für den Arbeitstag in einer passenden Handtasche. Sie humpelte zur Bushaltestelle, konnte aber aufgrund ihres lädierten Zehs nicht den gewohnten Sprint hinlegen und musste hilflos zusehen, wie der Bus ohne sie abfuhr. Sie versuchte, sich damit zu trösten, dass es nun wohl kaum noch schlimmer werden konnte, als ein außerplanmäßiger Bus kam, der auch den Landkreis versorgte. Erfreut über die verkürzte Wartezeit wollte sie schwungvoll das Einstiegstreppchen erklimmen, da schoss blitzartig wieder der Schmerz durch ihren Fuß.

Ihr Herz pochte heftig, als sie sich in einen der bequemen Sitze mit Kopfstütze fallen ließ: Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Sie konnte es nicht fassen. Im Büro war sicher auch schon der Teufel los, weil sie noch nicht da war. Sie wollte ungeduldig mit dem Fuß wippen, zuckte aber sofort zusammen, als sie es versuchte. Trotz der Schmerzen hielt sie es nicht auf dem Sitz aus und ging schon mal zum Ausgang, um gleich losspurten zu können, wenn der Bus ankam. Sie drückte den Halteknopf und pochte mit dem Zeigefinger einen ungeduldigen Rhythmus auf der Haltestange, bis das Fahrzeug endlich zum Stehen kam und sie hinaushumpeln konnte.

Im Büro angekommen ließ sie ergeben die Vorwürfe über sich ergehen, dass es gerade heute ganz schrecklich rücksichtslos von ihr sei, so spät zu kommen. Es gelang ihr inzwischen ganz gut, bei solchen Tiraden innerlich zu entspannen und in dieser Entspannung fiel ihr auf, dass ihre Tasche nicht mehr da war: Sie musste sie im Bus liegengelassen haben!

„Tut mir leid, tut mir wirklich sehr leid, Sommerzeit, Fuß verstaucht, Abfluss verstopft, Handtasche weg ...“ stammelte sie. „Ich muss telefonieren.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich in der Verkehrsgenossenschaft zu der Person durchgefragt hatte, die für die Überland-Busse zuständig war, aber dieser freundliche Mann erbot sich sogleich, die Fahrerin des Busses per Funk anzurufen, damit sie die Tasche sicherstellte. Dennoch: Bis morgen früh würde sie sich gedulden müssen, dann könnte sie die Tasche bei ihm abholen. Papiere, Haustürschlüssel und Handy wären also erst mal nicht verfügbar.

Das Handy! Kiras Handynummer! Die Nummer des Klempners! Sie ignorierte die wütenden Seitenblicke ihrer Kollegen und Kolleginnen in dem Großraumbüro, in dem jeder alles von jedem mitbekam und rief die Auskunft an. Nach einer gefühlt endlosen Zeit in der Warteschleife hatte sie einen wenig motivierten Mitarbeiter dran, der wissen wollte, wie der Sanitärbetrieb denn heißt, dessen Nummer er heraussuchen sollte. – „Ist doch egal, irgendein Klempner, ich weiß nicht, wie der Betrieb heißt, den ich letztes Mal hatte! Sie werden doch bei der Auskunft sowas wie Gelbe Seiten haben, oder?“

Es zog sich eine Weile hin, sie spielte bereits mit dem Gedanken, eine Vorgesetzte zu verlangen, da besann sich der um Auskunft gebetene und nannte ihr endlich eine Nummer, die sie umgehend anrief um ihr Anliegen vorzutragen. – Natürlich war es ein Problem, dass sie keine Kundin bei diesem Betrieb war und alle Mitarbeiter waren unterwegs und sehr beschäftigt mit weitaus lukrativeren Aufträgen als einem verstopften Rohr, aber sie blieb hartnäckig und die Dame dort am Telefon versprach ihr, wenn möglich, am Abend jemanden vorbeizuschicken.

Ihr Arbeitstag verlief ohne weitere Vorkommnisse, was ihr fast wie ein Wunder vorkam. Sie merkte, wie sehr sie „Normalität“ zu schätzen lernte, wenn die Dinge derart aus dem Ruder liefen. Wieder daheim schien ihre Pechsträhne abzuklingen, denn Kira war zu Hause und konnte sie in die Wohnung lassen. Glücklich schob sie zwei Fertig-Pizzen in den Backofen und sank auf einen Küchenstuhl.

Noch während sie aßen klingelte es an der Haustür. Kira lief hin und ließ den Klempner herein. Sie selbst hatte nicht mehr die Kraft dazu. Er werkelte unter Kiras Anleitung im Badezimmer herum und sie hörte, wie die beiden sich unterhielten. Die Rohrkonstruktion sei abenteuerlich, erzählte er ihr, da wäre es kein Wunder, dass sie öfters eine Verstopfung hätten und er würde dem Vermieter das nicht durchgehen lassen, wenn er hier wohnen würde. Sie hörte, wie er schraubte und ein Gerät verwendete, das einen Lärm machte, als würde er ihr schönes Badezimmer schreddern. Und die ganze Zeit war ihre Tochter bei ihm und ließ sich alles genau erklären. Die beiden redeten miteinander, als würden sie sich schon lange kennen. Schließlich wurde sie neugierig auf diesen Mann und humpelte zum Badezimmer. Er zog gerade die Rohrreinigungswelle wieder aus dem Rohr, nicht ohne Kira vorher zu ermahnen, sich vor den Spritzern in Sicherheit zu bringen, da sah er sie im Türrahmen stehen, in ihrem roten Kleid, wie sie etwas verlegen mit den Fingern durch ihre dunklen Locken fuhr. Sie musste lächeln, weil er so abrupt in seiner Arbeit innehielt und sie nur noch ansah. Und sein Blick ging ihr durch und durch. Sowas hatte sie nicht mehr erlebt, seit .... Ja, das strahlende Lächeln, das sich jetzt auf seinem Gesicht ausbreitete, erinnerte sie an Thomas. Aber er sah ganz anders aus, es war nur dieses Gefühl. Dieses Gefühl, das sie so lange vermisst hatte und das ihr jetzt beinahe den Atem raubte.

Nichts an diesem perfekten Tag hätte anders sein dürfen!
 
E

eisblume

Gast
Hallo xavia,

du hast dich ja doch von dem Teil mit der Jacke getrennt - und es hat der Geschichte nicht geschadet :)
Du bist wirklich fleißig gewesen. Langsam habe ich aber das Gefühl, ich würde dir meine Gedanken aufdrängen, vielleicht mag sich ja jemand anderer noch dazu äußern.

herzlichst
eisblume
 

xavia

Mitglied
Wie an jedem Morgen wurde Hanna von ihrer inneren Uhr geweckt. Sie döste noch ein Weilchen entspannt vor sich hin, dachte darüber nach, wie ihr Tag werden würde und wartete auf das Weckerklingeln.

Mit Glück würde sie beim Frühstück in der Zeitung ihre Lottozahlen sehen, die sie seit vielen Jahren tippte, immer dieselben sechs Zahlen, kein Systemschein, keine zweite Reihe. Mit Wahrscheinlichkeiten ließ sich das Glück ohnehin nicht überlisten, das wusste sie. Die Ziehung im Fernsehen hatten sie verpasst, weil Kira von ihrem Liebeskummer berichtet hatte: Christian, ihr heimlicher Schwarm, war in der Schule mal wieder gemein zu ihr gewesen. Hanna hatte sich uralt gefühlt, als sie der Zwölfjährigen davon berichtet hatte, wie sie selbst in ihrer Schulzeit solche Erfahrungen mit Jungs gemacht hatte. Dass diese zunächst oft keine andere Möglichkeit kannten, ihr Interesse auszudrücken. In dem Moment war sie ganz Mutter gewesen, ihre Tochter hatte sich dankbar an sie gekuschelt und geschnieft und dankbar geseufzt. Sonst waren sie eher wie Freundinnen, seit Thomas vor drei Jahren gestorben war. – Thomas, die Liebe ihres Lebens. Sie dachte an ihn, sah sein liebes Gesicht vor sich, die blitzenden braunen Augen und die Strubbelhaare, die sich von einem Kamm nicht bändigen ließen, als die Schlafzimmertür aufflog, Kira hereinstürzte und sie aus ihren Gedanken riss:

„Mama, wir haben verschlafen!“

Erschrocken guckte sie zum Wecker: Es war doch fast noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Aufstehen? Kira zog ihr die Decke weg, ließ dann aber sofort von ihr ab, um die Erste unter der Dusche zu sein.

„Sommerzeit!“, rief sie ihr von dort aus zu, „Wir müssen heute eine Stunde früher los und es ist höchste Zeit. So ein Mist, erste Stunde Geschichte, der Hauser, der kennt keine Gnade! Und jetzt ist auch noch der blöde Abfluss verstopft. Da kannst du das Waschbecken auch vergessen.“

Tatsächlich, auch im Waschbecken floss das Wasser nicht ab. Sie musste sich mit einer Katzenwäsche begnügen, für die Dusche blieb ohnehin nicht genug Zeit. Sie hastete in die Küche, um ihrer Tochter schnell noch ein Schulbrot zu machen und stieß sich im Flur den kleinen Zeh am Schuhschrank. Der Schmerz war enorm und sie stolperte daraufhin und verstauchte sich den Knöchel.

Als sie, immer noch im Nachthemd, kauend aus der Küche ins Schlafzimmer zurückhumpelte, flitzte Kira mit Schulbrot im Rucksack an ihr vorbei, zur Haustür hinaus und rannte laut polternd die Treppe hinunter. Schnell wollte sie sich anziehen, da riss ein Knopf von ihrer Bluse ab. Neuer Versuch: Das rote Kleid war ein wenig „overdressed“, aber das war nun auch egal, sie musste sich beeilen, nicht allzu spät zur Arbeit zu kommen. Und um einen Klempner musste sie sich auch noch kümmern. Der Vermieter hatte ihr schon einmal zu verstehen gegeben, dass er sich für derlei Verstopfungen nicht zuständig fühle, weil sie von ihr verursacht wurden.

Seufzend schlüpfte sie in ihre schwarze Lederjacke und verstaute alle Utensilien für den Arbeitstag in einer passenden Handtasche. Sie humpelte zur Bushaltestelle, konnte aber aufgrund ihres lädierten Zehs nicht den gewohnten Sprint hinlegen und musste hilflos zusehen, wie der Bus ohne sie abfuhr. Sie versuchte, sich damit zu trösten, dass es nun wohl kaum noch schlimmer werden konnte, als ein außerplanmäßiger Bus kam, der auch den Landkreis versorgte. Erfreut über die verkürzte Wartezeit wollte sie schwungvoll das Einstiegstreppchen erklimmen, da schoss blitzartig wieder der Schmerz durch ihren Fuß.

Ihr Herz pochte heftig, als sie sich in einen der bequemen Sitze mit Kopfstütze fallen ließ: Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Sie konnte es nicht fassen. Im Büro war sicher auch schon der Teufel los, weil sie noch nicht da war. Sie wollte ungeduldig mit dem Fuß wippen, zuckte aber sofort zusammen, als sie es versuchte. Trotz der Schmerzen hielt sie es nicht auf dem Sitz aus, torkelte im fahrenden Bus zum Ausgang, um gleich losspurten zu können, wenn er hielt.

Abgehetzt im Büro angekommen ließ sie ergeben die Vorwürfe über sich ergehen, dass es gerade heute ganz schrecklich rücksichtslos von ihr sei, so spät zu kommen. Es gelang ihr inzwischen ganz gut, bei solchen Tiraden innerlich zu entspannen und in dieser Entspannung fiel ihr auf, dass ihre Tasche nicht mehr da war: Sie musste sie im Bus liegengelassen haben!

„Tut mir leid, tut mir wirklich sehr leid, Sommerzeit, Fuß verstaucht, Abfluss verstopft, Handtasche weg ...“ stammelte sie. „Ich muss telefonieren.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich in der Verkehrsgenossenschaft zu der Person durchgefragt hatte, die für die Überland-Busse zuständig war, aber dieser freundliche Mann erbot sich sogleich, die Fahrerin des Busses per Funk anzurufen, damit sie die Tasche sicherstellte. Dennoch: Bis morgen früh würde sie sich gedulden müssen, dann könnte sie die Tasche bei ihm abholen. Papiere, Haustürschlüssel und Handy wären also erst mal nicht verfügbar.

Das Handy! Kiras Handynummer! Die Nummer des Klempners! Sie ignorierte die wütenden Seitenblicke ihrer Kollegen und Kolleginnen in dem Großraumbüro, in dem jeder alles von jedem mitbekam und rief die Auskunft an. Nach einer gefühlt endlosen Zeit in der Warteschleife hatte sie einen wenig motivierten Mitarbeiter dran, der wissen wollte, wie der Sanitärbetrieb denn heißt, dessen Nummer er heraussuchen sollte. – „Ist doch egal, irgendein Klempner, ich weiß nicht, wie der Betrieb heißt, den ich letztes Mal hatte! Sie werden doch bei der Auskunft sowas wie Gelbe Seiten haben, oder?“

Es zog sich eine Weile hin, sie spielte bereits mit dem Gedanken, eine Vorgesetzte zu verlangen, da besann sich der um Auskunft gebetene und nannte ihr endlich eine Nummer, die sie umgehend anrief um ihr Anliegen vorzutragen. – Natürlich war es ein Problem, dass sie keine Kundin bei diesem Betrieb war. Alle Mitarbeiter waren unterwegs und sehr beschäftigt mit weitaus lukrativeren Aufträgen als einem verstopften Rohr, aber sie blieb hartnäckig und die Dame dort am Telefon versprach ihr, wenn möglich, am Abend jemanden vorbeizuschicken.

Ihr Arbeitstag verlief ohne weitere Vorkommnisse, was ihr fast wie ein Wunder vorkam. Sie merkte, wie sehr sie „Normalität“ zu schätzen lernte, wenn die Dinge derart aus dem Ruder liefen. Wieder daheim schien ihre Pechsträhne abzuklingen, denn Kira war zu Hause und konnte sie in die Wohnung lassen. Glücklich schob sie zwei Fertig-Pizzen in den Backofen und sank auf einen Küchenstuhl.

Noch während sie aßen klingelte es an der Haustür. Kira lief hin und ließ den Klempner herein. Sie selbst hatte nicht mehr die Kraft dazu und war dankbar, dass sie sich heute abend vielleicht noch mit einer heißen Dusche würde trösten können. Sie hörte, wie Kira ihn ganz wie eine Erwachsene hereinließ und ihm im Badezimmer die missliche Lage erläuterte. Er werkelte dort geschäftig herum und sie hörte, wie die beiden sich unterhielten. Die Rohrkonstruktion sei abenteuerlich, erzählte er ihr, da wäre es kein Wunder, dass sie öfters eine Verstopfung hätten und er würde dem Vermieter das nicht durchgehen lassen, wenn er hier wohnen würde. Sie hörte, wie er schraubte und ein Gerät verwendete, das einen Lärm machte, als würde er ihr schönes Badezimmer schreddern. Und die ganze Zeit war ihre Tochter bei ihm und ließ sich alles genau erklären. Die beiden redeten miteinander, als würden sie sich schon lange kennen. Schließlich wurde sie neugierig auf diesen Mann und humpelte zum Badezimmer. Er zog gerade die Rohrreinigungswelle wieder aus dem Rohr, nicht ohne Kira vorher zu ermahnen, sich vor den Spritzern in Sicherheit zu bringen, da sah er sie im Türrahmen stehen, in ihrem roten Kleid, wie sie etwas verlegen mit den Fingern durch ihre dunklen Locken fuhr. Sie musste lächeln, weil er so abrupt in seiner Arbeit innehielt und sie nur noch ansah. Und sein Blick ging ihr durch und durch. Sowas hatte sie nicht mehr erlebt, seit .... Ja, das strahlende Lächeln, das sich jetzt auf seinem Gesicht ausbreitete, erinnerte sie an Thomas. Aber er sah ganz anders aus, es war nur dieses Gefühl. Dieses Gefühl, das sie so lange vermisst hatte und das ihr jetzt beinahe den Atem raubte.

Nichts an diesem perfekten Tag hätte anders sein dürfen!
 

xavia

Mitglied
Wie an jedem Morgen wurde Hanna von ihrer inneren Uhr geweckt. Sie döste noch ein Weilchen entspannt vor sich hin, dachte darüber nach, wie ihr Tag werden würde und wartete auf das Weckerklingeln.

Mit Glück würde sie beim Frühstück in der Zeitung ihre Lottozahlen sehen, die sie seit vielen Jahren tippte, immer dieselben sechs Zahlen, kein Systemschein, keine zweite Reihe. Mit Wahrscheinlichkeiten ließ sich das Glück ohnehin nicht überlisten, das wusste sie. Die Ziehung im Fernsehen hatten sie verpasst, weil Kira von ihrem Liebeskummer berichtet hatte: Christian, ihr heimlicher Schwarm, war in der Schule mal wieder gemein zu ihr gewesen. Hanna hatte sich uralt gefühlt, als sie der Zwölfjährigen davon berichtet hatte, wie sie selbst in ihrer Schulzeit solche Erfahrungen mit Jungs gemacht hatte. Dass diese zunächst oft keine andere Möglichkeit kannten, ihr Interesse auszudrücken. In dem Moment war sie ganz Mutter gewesen, ihre Tochter hatte sich dankbar an sie gekuschelt und geschnieft und dankbar geseufzt. Sonst waren sie eher wie Freundinnen, seit Thomas vor drei Jahren gestorben war. – Thomas, die Liebe ihres Lebens. Sie dachte an ihn, sah sein liebes Gesicht vor sich, die blitzenden braunen Augen und die Strubbelhaare, die sich von einem Kamm nicht bändigen ließen, als die Schlafzimmertür aufflog, Kira hereinstürzte und sie aus ihren Gedanken riss:

„Mama, wir haben verschlafen!“

Erschrocken guckte sie zum Wecker: Es war doch fast noch eine halbe Stunde Zeit bis zum Aufstehen? Kira zog ihr die Decke weg, ließ dann aber sofort von ihr ab, um die Erste unter der Dusche zu sein.

„Sommerzeit!“, rief sie ihr von dort aus zu, „Wir müssen heute eine Stunde früher los und es ist höchste Zeit. So ein Mist, erste Stunde Geschichte, der Hauser, der kennt keine Gnade! Und jetzt ist auch noch der blöde Abfluss verstopft. Da kannst du das Waschbecken auch vergessen.“

Tatsächlich, auch im Waschbecken floss das Wasser nicht ab. Sie musste sich mit einer Katzenwäsche begnügen, für die Dusche blieb ohnehin nicht genug Zeit. Sie hastete in die Küche, um ihrer Tochter schnell noch ein Schulbrot zu machen und stieß sich im Flur den kleinen Zeh am Schuhschrank. Der Schmerz war enorm und sie stolperte daraufhin und verstauchte sich den Knöchel.

Als sie, immer noch im Nachthemd, kauend aus der Küche ins Schlafzimmer zurückhumpelte, flitzte Kira mit Schulbrot im Rucksack an ihr vorbei, zur Haustür hinaus und rannte laut polternd die Treppe hinunter. Schnell wollte sie sich anziehen, da riss ein Knopf von ihrer Bluse ab. Neuer Versuch: Das rote Kleid war ein wenig „overdressed“, aber das war nun auch egal, sie musste sich beeilen, nicht allzu spät zur Arbeit zu kommen. Und um einen Klempner musste sie sich auch noch kümmern. Der Vermieter hatte ihr schon einmal zu verstehen gegeben, dass er sich für derlei Verstopfungen nicht zuständig fühle, weil sie von ihr verursacht wurden.

Seufzend schlüpfte sie in ihre schwarze Lederjacke und verstaute alle Utensilien für den Arbeitstag in einer passenden Handtasche. Sie humpelte zur Bushaltestelle, konnte aber aufgrund ihres lädierten Zehs nicht den gewohnten Sprint hinlegen und musste hilflos zusehen, wie der Bus ohne sie abfuhr. Sie versuchte, sich damit zu trösten, dass es nun wohl kaum noch schlimmer werden konnte, als ein außerplanmäßiger Bus kam, der auch den Landkreis versorgte. Erfreut über die verkürzte Wartezeit wollte sie schwungvoll das Einstiegstreppchen erklimmen, da schoss blitzartig wieder der Schmerz durch ihren Fuß.

Ihr Herz pochte heftig, als sie sich in einen der bequemen Sitze mit Kopfstütze fallen ließ: Hatte sich denn alles gegen sie verschworen? Sie konnte es nicht fassen. Im Büro war sicher auch schon der Teufel los, weil sie noch nicht da war. Sie wollte ungeduldig mit dem Fuß wippen, zuckte aber sofort zusammen, als sie es versuchte. Trotz der Schmerzen hielt sie es nicht auf dem Sitz aus, torkelte im fahrenden Bus zum Ausgang, um gleich losspurten zu können, wenn er hielt.

Abgehetzt im Büro angekommen ließ sie ergeben die Vorwürfe über sich ergehen, dass es gerade heute ganz schrecklich rücksichtslos von ihr sei, so spät zu kommen. Es gelang ihr inzwischen ganz gut, bei solchen Tiraden innerlich zu entspannen und in dieser Entspannung fiel ihr auf, dass ihre Tasche nicht mehr da war: Sie musste sie im Bus liegengelassen haben!

„Tut mir leid, tut mir wirklich sehr leid, Sommerzeit, Fuß verstaucht, Abfluss verstopft, Handtasche weg ...“ stammelte sie. „Ich muss telefonieren.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich in der Verkehrsgenossenschaft zu der Person durchgefragt hatte, die für die Überland-Busse zuständig war, aber dieser freundliche Mann erbot sich sogleich, die Fahrerin des Busses per Funk anzurufen, damit sie die Tasche sicherstellte. Dennoch: Bis morgen früh würde sie sich gedulden müssen, dann könnte sie die Tasche bei ihm abholen. Papiere, Haustürschlüssel und Handy wären also erst mal nicht verfügbar.

Das Handy! Kiras Handynummer! Die Nummer des Klempners! Sie ignorierte die wütenden Seitenblicke ihrer Kollegen und Kolleginnen in dem Großraumbüro, in dem jeder alles von jedem mitbekam und rief die Auskunft an. Nach einer gefühlt endlosen Zeit in der Warteschleife hatte sie einen wenig motivierten Mitarbeiter dran, der wissen wollte, wie der Sanitärbetrieb denn heißt, dessen Nummer er heraussuchen sollte. – „Ist doch egal, irgendein Klempner, ich weiß nicht, wie der Betrieb heißt, den ich letztes Mal hatte! Sie werden doch bei der Auskunft sowas wie Gelbe Seiten haben, oder?“

Es zog sich eine Weile hin, sie spielte bereits mit dem Gedanken, eine Vorgesetzte zu verlangen, da besann sich der um Auskunft gebetene und nannte ihr endlich eine Nummer, die sie umgehend anrief um ihr Anliegen vorzutragen. – Natürlich war es ein Problem, dass sie keine Kundin bei diesem Betrieb war. Alle Mitarbeiter waren unterwegs und sehr beschäftigt mit weitaus lukrativeren Aufträgen als einem verstopften Rohr, aber sie blieb hartnäckig und die Dame dort am Telefon versprach ihr, wenn möglich, am Abend jemanden vorbeizuschicken.

Ihr Arbeitstag verlief ohne weitere Vorkommnisse, was ihr fast wie ein Wunder vorkam. Sie merkte, wie sehr sie „Normalität“ zu schätzen lernte, wenn die Dinge derart aus dem Ruder liefen. Wieder daheim schien ihre Pechsträhne abzuklingen, denn Kira war zu Hause und konnte sie in die Wohnung lassen. Glücklich schob sie zwei Fertig-Pizzen in den Backofen und sank auf einen Küchenstuhl.

Noch während sie aßen klingelte es an der Haustür. Kira lief hin und ließ den Klempner herein. Sie selbst hatte nicht mehr die Kraft dazu und war dankbar, dass sie sich heute abend vielleicht noch mit einer heißen Dusche würde trösten können. Sie hörte, wie Kira ihn ganz wie eine Erwachsene hereinließ und ihm im Badezimmer die missliche Lage erläuterte. Er werkelte dort geschäftig herum und sie hörte, wie die beiden sich unterhielten. Die Rohrkonstruktion sei abenteuerlich, erzählte er ihr, da wäre es kein Wunder, dass sie öfters eine Verstopfung hätten und er würde dem Vermieter das nicht durchgehen lassen, wenn er hier wohnen würde. Sie hörte, wie er schraubte und ein Gerät verwendete, das einen Lärm machte, als würde er ihr schönes Badezimmer schreddern. Und die ganze Zeit war ihre Tochter bei ihm und ließ sich alles genau erklären. Die beiden redeten miteinander, als würden sie sich schon lange kennen. Schließlich wurde sie neugierig auf diesen Mann und humpelte zum Badezimmer. Er zog gerade die Rohrreinigungswelle wieder aus dem Rohr, nicht ohne Kira vorher zu ermahnen, sich vor den Spritzern in Sicherheit zu bringen, da sah er zu ihr auf und hielt abrupt in seiner Arbeit inne. Sie blieb im Türrahmen stehen, lächelte, genoss für einen Moment die Wirkung ihres hübschen roten Kleides und fuhr sich dann etwas verlegen mit den Fingern durch die dunklen Locken, weil er sie nur noch ansah. Sein Blick ging ihr durch und durch. Sowas hatte sie nicht mehr erlebt, seit .... Ja, das strahlende Lächeln, das sich jetzt auf seinem Gesicht ausbreitete, erinnerte sie an Thomas. Aber er sah ganz anders aus, es war nur dieses Gefühl. Dieses Gefühl, das sie so lange vermisst hatte und das ihr jetzt beinahe den Atem raubte.

Nichts an diesem perfekten Tag hätte anders sein dürfen!
 



 
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