Ein stiller Ort

Raniero

Textablader
Ein stiller Ort

Der Fremde aus der großen Stadt betrat die kleine Übernachtungspension, die man ihm empfohlen hatte, in diesem kleinen beschaulichen Ort in der schönen Landschaft.
Er wurde höflich von der Pensionswirtin, einer älteren Dame, in Empfang genommen. Eigentlich handelte es sich bei dieser Beherbergungsstätte nicht um eine Pension im klassischen Sinne, sondern mehr um ein kleines Einfamilienhaus, welches zu einer solchen umfunktioniert worden war. So hatte die ältere Dame nach dem Auszug der erwachsenen Kinder und dem Ableben ihres Ehemannes einige Räume im Gebäude zu Fremdenzimmer umrüsten lassen, und die gute Stube, das ehemalige Wohnzimmer der Familie diente nun als Frühstücksraum für die Gäste.
Sie selbst fristete ihr Leben überwiegend in der Küche des Hauses.
In der gesamten Ortschaft hatten viele der Einheimischen nach diesem Beispiel verfahren, wenn man durch die Straßen ging, stellte man fest, dass ungefähr jedes zweite Haus ein Schild mit der Aufschrift ‚Fremdenzimmer‘ trug.
Die ältere Dame führte den Fremden auf sein Zimmer und wies im Vorbeigehen auf das am Ende des Flures befindliche stille Örtchen hin, das sich alle Gäste des Hauses zu teilen hatten.
Das winzige Zimmer selbst war blitzsauber, aber karg eingerichtet; ein Einzelbett, ein Schrank, ein Tisch und ein Stuhl, der einzige ‚Luxus‘ bestand in einem Waschbecken an der Wand, so dass der Gast zumindest zum Zwecke des Händewaschens nicht genötigt war, das allgemein zugängliche von allen genutzte stille Örtchen aufsuchen zu müssen. Ein Zimmer für ein zwei Nächte; einen längerer Aufenthalt grenzte schon an eine unnötige Quälerei.
Am Abend kehrte der Fremde nach einem ausgiebigen Spaziergang zurück in die Pension und suchte ermattet vom gesamten Tagesablauf, der am frühen Morgen mit der Anreise in diesen kleinen Ort begonnen hatte, sein Zimmer auf. Zuvor noch kurz aufs Örtchen, dachte er sich, dann schnell in die Federn, am nächsten Morgen begann ein neuer Tag.
Als der Fremde in dem kargen aber blitzsauberen Ort Platz nahm, glaubte er zuerst, nicht richtig hingeschaut zu haben. Genau in Augenhöhe hing seitlich an der Wand ein kleiner nach außen gewölbter Porzellanteller mit folgender Aufschrift:
„Um das Klo nicht zu bespritzen, dürfen Männer bei uns auch sitzen.“

Was wollte ihm dieser Spruch, der ja sozusagen eine Sondergenehmigung für männliche Zeitgenossen enthielt, damit sagen?
Enthielt nicht diese Mitteilung gar eine versteckte Botschaft an den männlichen Nutzer? Die Botschaft, Platz zu nehmen, als besondere Einladung?
Irgendwie fand der Fremde diese ganze Angelegenheit dennoch befremdlich, und er begab sich nach erfolgreicher Verrichtung der Dinge, die ihn zu diesem Ort geführt hatten, nachdenklich auf sein Zimmer und legte sich zu Bett, in welchem er lange Zeit keinen Schlaf fand.
Immer wieder ließ er diesen erstaunlichen Satz vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Männer durften sich hier also mit ausdrücklicher Zustimmung der Hausherrin hinsetzen, an diesem kleinen engen Ort, an dieser Stätte menschlicher Erleichterungen.
Eine in Stein resp. Porzellan gemeißelte Inschrift forderte praktisch alle männlichen Gäste dieses schönen Hauses zu einem solchen Verhalten auf.
Der Fremde war bereits viel herumgekommen, auf der Welt, bei seinen zahllosen Reisen; er hatte mit seinen Füßen sogar schon fremde Kontinente beschritten, doch eine derartige schriftliche Kundgebung war ihm noch nie unter die Augen getreten.

Der Tag der Abreise war gekommen.
Der Fremde zahlte seine Rechnung und verabschiedete sich von der Zimmerwirtin
„Bis auf bald, Ihr Haus wird mir stets in Erinnerung bleiben!“ lächelte er ihr zum Abschied zu.
Die Wirtin freute sich über diese Worte und fasste sie als Kompliment auf.
Als sich die Tür hinter dem Fremden geschlossen hatte, machte sich die Hausherrin auf zur Inspektionstour, wie sie es immer tat, wenn ein Gast die Pension verlassen hatte; zuerst das Zimmer und dann das Örtchen.
Plötzlich hörte man einen markerschütternden Schrei, der durch das ganze Gebäude hallte.
Die übrigen Hausgäste eilten zu dem Ort, an dem sie den Ursprung des furchtbaren Klagerufes vermuteten und blieben vor dem für gewöhnlich stets stillen Ort stehen, wie angewurzelt, um mit Grausen zur Kenntnis zu nehmen, was sich unmittelbar vor ihnen offenbarte.
Ausgestreckt auf dem Boden des stillen Örtchens lag die Zimmerwirtin und stammelte unverständliche Worte. Das Porzellanschild an der Wand hatte jemand umgedreht, so dass statt der merkwürdigen nur Rückseite der Tafel zu sehen war, und das ganze schöne Örtchen erweckte einen Eindruck, als wenn irgendjemand die Einladung auf der Porzellantafel ignoriert hätte.
 



 
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