Ein tragischer Unfall

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Libell

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Friedrich Mohrmann kauerte in seinem Versteck und wartete. Würde es heute gelingen oder wäre das Warten wieder vergeblich? Der rechte Fuß war fast eingeschlafen. Nur das nicht! Vorsichtig bewegte er die Zehen, streckte das Bein lang aus und kauerte sich gleich wieder zusammen. Ein silberfarbiger Molkerei-LKW wurde im Morgendunst sichtbar. Mohrmann preßte sich dichter in das Gestrüpp der verkrüppelten Büsche am Straßenrand. Tau tropfte ihm in den Nacken. Nur nicht gesehen werden! Mohmann lugte durch das Blätter-Dickicht. Der LKW ratterte laut dröhnend vorbei. Für einen kurzen Moment wurde der Fahrer sichtbar, er fuhr wie jeden Morgen seine Runde. Man konnte die Uhr nach ihm stellen. Halb neun, noch fünfzehn Minuten. Um neun begann die Sprechstunde von Dr. med. Dietrich Eisenberg. Er wohnte im gleichen Dorf wie Fritz Mohrmann und praktizierte in der nahen Kleinstadt. Jeden Werktag gegen viertel vor neun passierte Eisenbergs eleganter dunkelblauer BMW auf der Landstraße die einsame Stelle mit den Haselnußbüschen am Straßenrand.

Mohrmann sah dem Milchwagen nach, spähte dann mit dem Fernglas die Landstraße hinauf und hinab. Kein Fahrzeug zu sehen und kein Motorengeräusch war zu hören. Nur Vogelgezwitscher und leises Grillenzirpen im Gras. Es duftete schwer nach Laub und Erde. Ein Flugzeug zog einen Silberstreif zum Horizont. Mohrmann spürte einen leichten Schmerz im Magen. Verdammt, er hätte doch etwas frühstücken sollen. Aber seit seine Frau gestorben war, schmeckte ihm nichts mehr. Früher hatten sie jeden Morgen gemütlich am Frühstückstisch gesessen, Kaffeeduft zog durch das Haus, Hilde hatte Brötchen im Herd aufgebacken, die Zeitung lag auf dem Tisch und das Radio spielte. Früher, da war das Frühstück ein gemütlicher Tagesbeginn gewesen. Beide hatten es genossen. Bis Hilde plötzlich nicht mehr essen mochte, keinen Appetit mehr hatte. Zuerst hatten sie dem keine Bedeutung beigemessen. Aber dann wurde Hilde immer blasser, kraftloser. Er drängte sie, zum Arzt zu gehen. Hilde hatte Bedenken. Sie sei ja gar nicht krank, habe nur keinen Appetit, das würde schon vergehen. Was sollte sie dem Arzt viel sagen. Mohrmann ließ nicht locker. Widerstrebend gab Hilde nach und rief in der Praxis eines Facharztes für Allgemeinmedizin in der nahe gelegenen Kleinstadt an.

Die Helferin hatte Hilde gefragt, was sie hätte. Wenn es nur ein wenig Appetitlosigkeit sei, dann wäre es ja nichts Ernstes, dann habe sie leider erst einen Termin in vier Wochen. Friedrich Mohrmann hatte seine Frau zum Arzt begleitet. Hinter einem breiten Schreibtisch saß der Facharzt für Allgemeinmedizin im eleganten schwarzen Ledersessel. Vor dem Schreibtisch standen zwei schäbige Besucherstühle mit fleckigem Bezug. Wie viele Patienten mögen hier vor Angst geschwitzt haben, fragte sich Mohrmann. Der braungebrannte Arzt (Sonnenbank, vermutete Mohrmann) gab ihnen nicht die Hand, wies mit schlaffer Handbewegung auf die fleckigen Stühle. Hilde und Mohrmann nahmen Platz. Hilde berichtete von ihrer Appetitlosigkeit und davon, daß sie sich allgemein schlecht fühle und unfreiwillig einige Kilo abgenommen habe. Dr. Eisenberg sah kritisch an Hilde hinunter, spreizte die manikürten Finger, trommelte leicht ungeduldig auf die polierte Schreibtischplatte: "Ach meine Beste, Sie haben doch noch viel zuzusetzen!" Er lachte dröhnend.

Mohrmann bemerkte, wie Hilde beschämt errötete. Seit den Wechseljahren hatte sie etwas zugelegt, das machte ihr sehr zu schaffen. "Befindlichkeitsstörungen!" Der Arzt seufzte und starrte mißmutig auf Hildes selbstgestrickten Pullover "für Befindlichkeitsstörungen zahlt die Kasse keine Medikamente. Gehen Sie an die frische Luft, bewegen Sie sich, essen Sie mehr Obst und kommen Sie in einem halben Jahr wieder!" Er erhob sich. Mohrmann war verblüfft. Wieso nur Befindlichkeitsstörung? Woher wußte der Arzt das? Ohne Untersuchung, ohne Labordiagnostik? Hilde stand auf: "Danke Herr Doktor!" Mohrmann war verwirrt. War das jetzt alles? Er hockte immer noch auf dem schäbigen Besucherstuhl. Im Kopf schwirrten tausend ungesagte Sätze, seine Lippen öffneten sich aber es kam kein Ton heraus. Der Arzt warf ihm einen ungnädigen Blick zu, stand auf, umrundete den Schreibtisch, schritt an Mohrmann vorbei zur Tür. Mohrmann stand zögernd auf, folgte zur Tür. "Auf Wiedersehen Herr Doktor!" Sie gaben Eisenberg die Hand. Mohrmann öffnete den Mund, wollte noch etwas sagen, aber er kam nicht mehr dazu. Der Arzt ergriff resolut seine zögernd ausgestreckte Hand und beförderte ihn am ausgestreckten Arm hinaus auf den Flur.

Mohrmann lehnte sich an den Haselstrauch, massierte das Bein und lauschte. Ein fernes Brummen wurde lauter, schwoll an, Motorengeräusch. Mohrmann hob das Fernglas und spähte die Allee hinab zu dem Punkt, wo man die Straße gut einsehen konnte. Ein kleiner weißer Kastenwagen kam heran, gefolgt von einem roten VW Golf. Der Kastenwagen belieferte den Bäcker mit Mehl und Backzutaten, im Golf fuhr Mohrmanns Skatbruder Hans Wohlers zur Arbeit. Mohrmann ging in die Knie, duckte sich tief ins Gebüsch und hielt den Atem an, bis die Fahrzeuge vorüber waren. Das Motorengeräusch wurde schwächer, nur noch ein leichtes Sirren lag in der Luft. Mohrmann entspannte sich.

Hilde war es nach dem Arztbesuch noch schlechter gegangen. Nach vier Monaten erlitt sie eine Magenblutung, wurde mit dem Notarztwagen ins Kreiskrankenhaus gebracht. Es war Krebs und er war schon zu weit fortgeschritten. Man machte ihnen keine Hoffnungen. Hilde wollte zu Hause sterben. Eisenberg kam zweimal am Tag vorbei und gab Hilde eine schmerzstillende Spritze. Mohrmann saß stundenlang an Hildes Bett und hielt ihre Hand. Als die Schmerzen immer schlimmer wurden, verlangte Mohrmann von Dr. Eisenberg wirksame Schmerzmittel. Der Arzt rang die Hände. Sein Arzneimitteletat sei ohnehin bereits ausgeschöpft, er hätte in diesem Quartal schon zu viele Medikamente verschrieben, eine Betäubungsmittelverschreibung würde ihn "abrechnungsmäßig" zu sehr belasten, außerdem könne Frau Mohrmann ja abhängig werden von den Opiaten. Mohrmann war entgeistert. Abhängig?! Seine Frau war schwerstkrank, im Endstadium einer unheilbaren Krebserkrankung, nur Morphium brachte noch etwas Linderung – und der Arzt redete von Abhängigkeit?! Mohrmann überlegte einen Augenblick ob er den Arzt wechseln sollte, aber die nächste Arztpraxis lag in der zwanzig Kilometer entfernten Kreisstadt – zu weit, um einen der dortigen Ärzte um Hausbesuche zu bitten. Er war auf Eisenberg angewiesen, Hilde war ihm praktisch ausgeliefert.

Hilde starb drei Wochen später unter qualvollen Schmerzen. Mohrmann saß auch die letzte Nacht an ihrem Bett. In der Morgendämmerung hörte ihr Herz auf zu schlagen. Mohrmann weinte und hielt so lange ihre Hände, bis diese ganz kalt waren. Erst dann rief er den Arzt an und bat ihn um die Ausstellung des Totenscheines. Nach einer dreiviertel Stunde erschien Dr. Eisenberg, zog sich Latexhandschuhe über, untersuchte die Verstorbene flüchtig, schrieb eilig den Totenschein aus und schüttelte munter Mohrmann die Hand: "Nun seien Sie man so zufrieden, wie es gekommen ist. Das wäre doch nichts mehr geworden mit Ihrer Frau!"

Seien Sie man so zufrieden?! Mohrmann mußte sich zurückhalten, um den Mediziner nicht zu erwürgen. Womit sollte er zufrieden sein? Damit, daß der unfähige Arzt damals seine Frau gar nicht untersucht hatte, ihre Krebserkrankung als "Befindlichkeitsstörung" diagnostiziert hatte? Sollte Mohrmann damit zufrieden sein, daß Hilde unter Qualen sterben mußte, weil Eisenberg um seinen Arzneimitteletat fürchtete und Hilde nicht die Betäubungsmittel spritzte, die ihre Leiden hätten wirksam lindern können? Nein, Mohrmann war ganz und gar nicht zufrieden.

Fernes Motorengeräusch ließ Mohrmann aus den Erinnerungen hochschrecken. Fünfzehn Minuten vor Neun. Hoffentlich kam heute Eisenbergs BMW ganz allein die Landstraße entlang. Darauf wartete Mohrmann seit Tagen. Immer wieder waren andere Fahrzeuge aufgetaucht, die Mohrmanns Plan zunichte machte. Sie fuhren vor Eisenbergs BMW her, folgten ihm oder kamen ihm entgegen. Es war wie verhext. Einmal hätte es fast geklappt, kein weiteres Auto weit und breit, Mohrmann hatte bereits frohlockt, da sah er aus dem Augenwinkel einen Radfahrer den fernen Hügel hinunterfahren. Mohrmann war blitzschnell ins Laubversteck zurückgesprungen und hatte sich flach auf den Boden geworfen. Nur keinen Augenzeugen!

Das Motorengeäusch kam näher. Eine dunkelblaue Limousine. Mohrmann sah sich ruckartig um: kein weiteres Auto weit und breit, keine Motorräder, keine Radfahrer, keine Fußgänger, auch keine Trecker auf den Feldern. Mohrmann spähte durch das Fernglas. Es war Eisenberg, der sich dort näherte. Er saß allein im Fahrzeug. Mohrmann ging in die Knie, robbte an den Straßenrand, ein flacher Graben und hohes Gras verdeckten ihn. Das Motorengeräusch schwoll an, Mohrmann spannte alle Muskeln, sein Herz schlug bis zum Hals. Er griff nach einem Ast, den er vorsorglich im Gras versteckt hatte. Jetzt ging es um alles.

Als Eisenbergs Fahrzeug nur noch etwa zwanzig Meter entfernt war, schnellte Mohrmann wie eine Feder aus dem Graben hervor, tauchte ganz unverhofft wild den Ast schwenkend vor dem BMW auf. Eisenberg fluchte, riß das Steuer herum, Bremsen quietschten, das Fahrzeug schleuderte quer über die Straße und prallte furchtbar dumpf krachend gegen einen massiven Chausseebaum.

Es war plötzlich ganz still, die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern, auch die Grillen waren verstummt. Mohrmann stand wie erstarrt. Immer noch kein Mensch weit und breit. Er warf den Ast weg, näherte sich vorsichtig dem verunglückten Fahrzeug. Eisenberg hing blutüberströmt und entsetzlich verrenkt halb aus der Tür. Er war nicht angeschnallt gewesen. Der Airback war ausgelöst worden, hatte aber nichts mehr ausrichten können. Eisenberg war tot.

Ein tragischer Unfall. Friedrich Mohrmann wandte sich ab, überquerte die Straße, holte sein altes Fahrrad aus dem Gebüsch und radelte über einen holprigen Feldweg querfeldein nach Hause. Ganz in der Ferne hörte er das Martinshorn eines Rettungswagens.
 
Übertrieben

Hallo Libell,

eine schöne Geschichte hast du geschrieben, läßt sich sehr gut lesen. Doch die Stelle, wo der Arzt der armen Frau die Schmerzmittel verweigert, fand ich sie etwas übertrieben. Und was vielleicht von Nachteil war, dass das Ende zu früh absehbar war. Eine überraschende Wende wäre meiner Meinung nach besser gewesen, Gerechtigkeitssinn hin, Gerechtigkeitssinn her.
 

Libell

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Hallo Michael,

danke für Dein Lob und Deine kritischen Anmerkungen. Große Teile der Erzählung wurden von meiner Familie real erlebt - beim Krebstod meiner Mutter vor 2 Jahren. Der über seinen Arzneimitteletat lamentierende Hausarzt existiert real und erfreut sich - nebenbei bemerkt (schmunzel) - bester Gesundheit.

Libell
 
Realität

Hallo Libell,

wenn der Teil mit den Schmerzmitteln real ist, nehme ich meine Kritik selbstverständlich zurück. Den ersten Teil mit der Nichtuntersuchung habe ich automatisch als real hingenommen, so was ist ja ( leider ) gang und gebe. Nur bei den Schmerzmitteln hääte ich so eine harsche Einstellung eines Arztes nicht erwartet ( vielleicht eine naive Vorstellung meinerseits ).

Gruß,
Michael
 

jorunn

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Hallo, Libell,

ich möchte mich meinem Vorredcner anschließen, die geschichte liest sich gut, und sie ist - leider - glaubhaft. Ich selbst hab etwas ähnliches erlebt, zum Glück andersrum. Meine Mutter hatte Krebs im Endstadium, und nur noch Morphium half. Ihre Ärztin hat wirklich eine gute Schmerztherapie gemacht - sweit das ab einem gewissen Stadium noch geht, in dem die Schmerzen dann auch im Kopf sind, und gegen die kann man nichts tun - und dann sagte die Ärztin zu mir, ich solle mir keine Sorgen machen, davon würde meine Mutter nicht abhängig. Ich habe darüber gelacht und sagte ihr, das widerum würde ich nicht glauben, aber abhängig oder nicht, von mir aus jede Stunde eine Spritze, nur leiden soll sie nicht. Da saget die Ärztin, wenn ich das so sähe, um so besser, und natürlich sei meine Mutter abhängig, aber es gäbe eine Menge Angehörige, die dann an drogensüchtige Fixer denken und bei jeder Morphiumgabe sofort "Muß das sein?" fragen...
Unglaublich, oder???
Zum text selbst möchte ich noch etwas sagen. Der Absatz mit"Sein sie mal zufrieden" halte ich größtenteils für überflüssig, da Du bereits fast alles darin schon vorher beschrieben hast. Eine kurzer Satz in Richtung "Mohrmann sah ihn nur an..." wäre m.E mehr, da ich denke, jeder kann sich ohne allzuviel Phantasie vorstellen, was Mohrmann diesem Menschen antun könnte. Natürlich ist die Rache vorhersehbar, doch mich hat mit tiefster Befriedigung erfüllt, dass niemand Herrn Mohrmann verantwortlich machen wird. Ein BMW-Fahrer, zu schnell auf regennasser Fahrbahn, ist wohl nichts, was die Polizei in Erstaunen versetzen wird.
Schönen Abend noch,
Jorunn
 

Libell

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Liebe Jorunn,

es freut mich sehr für Deine Mutter, daß sie eine so verständnisvolle Ärztin gefunden hat. Ich habe mich beim Lesen Deiner Zeilen gefragt, ob Frauen als Ärztinnen vielleicht mitfühlender,liebevoller und verständnisvoller sind als viele männliche Kollegen.

Du hast sicherlich recht, wenn Du anmerkst, daß der Absatz mit "seien Sie man so zufrieden" an sich überflüssig ist. Weißt Du, man ist wohl zu sehr in einer Geschichte befangen, wenn man selbst irgendwie betroffen ist. Verliert den nötigen Abstand. Ich dachte beim Schreiben nur: dann war da doch noch diese kaltherzige Bemerkung, das mußt du auch noch anführen. Aber es bringt die Story nicht weiter.

Danke für Deine konstruktive Kritik!

Libell
 
Ein tragischer Unfalltod

liebe Libelle,
sehr ergreifend diese Geschichte, zumal du sie ja wirklich in der Form erlebt hast.
Ich wünsche dir viel Kraft und innere Stärke, um Vergangenes verarbeiten zu können.
Viele Grüße
Elke A. Dewitt
 



 
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