Ein unwohles Gefühl

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Raniero

Textablader
Ein unwohles Gefühl

Seit einigen Tagen schon verspürte Harald Birger, ein Mann Mitte Dreißig, ein leichtes Unwohlsein in der Magengegend, doch er schenkte dem nicht allzu viel Beachtung.
‚Wird schon nichts Besonderes sein’, sagte er sich, ‚vielleicht habe ich was Falsches gegessen, und dann noch diese Hitze.’
Seiner Frau wollte er sich gar nicht erst mitteilen, denn diese würde sofort mit dem Hinweis aufwarten, dass er nicht etwas Falsches gegessen sondern viel zu viel getrunken habe, an alkoholischen Gerstensäften, bei dieser Hitze, daher hätte sie dieses Unwohlsein bereits vorausgesehen.
In der Tat wies dieses flaue Gefühl im Magen große Ähnlichkeit mit demjenigen auf, welches sich bei ihm stets nach übermäßigem Alkoholgenuss einstellte, und die große Hitze, die seit Tagen über der Stadt brütete, trug auch nicht gerade zur Linderung bei, doch irgendwie hatte Harald das Gefühl, dass es dieses Mal anders sei.

Als sich der Zustand nach einer Woche immer noch nicht besserte, fand er es an der Zeit, sich seiner Regina gegenüber zu öffnen, schließlich hatte er seit acht Tagen keinen Alkohol mehr angerührt, so konnte sie ihm also mit ihrem Standartargument nicht mehr kommen.
Das tat sie auch nicht, seine bessere Hälfte, und riet ihm stattdessen, unverzüglich den Hausarzt aufzusuchen.
„Eine Woche lang hast du schon diese Schmerzen? Warum hast du denn nichts gesagt, da kann ja wer weiß was hinter stecken.“
Erleichtert über diese nicht erwartete Fürsorge, aber auch ein wenig beunruhigt darüber, was nach Meinung seiner Frau alles dahinterstecken könne, machte sich Harald am nächsten Tag zu seinem Hausarzt, Dr. Grüter, auf.

Der Arzt freute sich sehr, seinen Patienten mal wieder zu sehen, waren es doch schon einige Jahre her, dass dieser seine Praxis aufgesucht hatte, denn Harald war einer von denen, die erst mit dem Kopf unter dem Arm einen Medizinmann aufsuchen.
Dementsprechend fiel auch die Begrüßung aus:
„Donnerwetter“, scherzte der Arzt, „ich hätte Sie fast nicht wieder erkannt, Herr Birger, so lange habe ich Sie nicht mehr gesehen. Kann es sein, dass Sie damals noch die Schulbank drückten? Na, was haben Sie denn auf dem Herzen?“
„Auf dem Herzen nichts, Herr Doktor Grüter, darunter“, wies Harald auf seinen Bauch und berichtete dem Arzt von seinen Beschwerden.
„Na, dann woll’n wir mal, Herr Birger“ forderte Dr. Grüter ihn auf, „machen Sie sich mal frei!“
Er untersuchte ihn gründlich, der gute Doktor, konnte aber nichts feststellen, was auf eine ernstere Sache hinwies.
„Na, soweit ich feststellen kann, kein Grund zur Sorge, ich vermute, eine leichte Magenverstimmung. Rauchen Sie?“
Ruhigen Gewissens verneinte der Patient die Frage.
„Wie steht’s mit dem Alkohol? Ein Gläschen in Ehren nehmen Sie doch wohl zu sich, was?“
Harald sah sich gezwungen, dem Arzt einzugestehen, dass er bisweilen nicht nur ein Gläschen, sondern auch schon mal Mengen zu sich nahm, in Ehren, versteht sich, die ein solches Gläschen um ein vielfaches übertrafen. Allerdings, so fügte er hinzu, glaube er nicht, dass dieses Unwohlsein davon herrühre, da es nicht demjenigen gleiche, welches er sonst an Katertagen verspüre.
„Sie sprechen aus Erfahrung?“ lachte der Arzt und verschrieb ihm einpaar Magentropfen.
„Kommen Sie wieder, wenn dieses flaue Gefühl nicht aufhört!“


Es hörte nicht auf, dieses flaue Gefühl, und ein paar Tage später fand Harald sich erneut bei Dr. Grüter ein.
„Sie, Herr Birger“ lächelte der Hausarzt, „nun haben wir uns fast fünf Jahre nicht gesehen, in der letzten Vergangenheit, und jetzt auf einmal zum zweiten Mal in einer Woche. Wie geht es Ihnen?“
„Nicht gut, Herr Doktor.“
Wiederum untersuchte der Arzt seinen Patienten, fand jedoch keine unmittelbare Erklärung.
„Wissen Sie was, Herr Birger, offengestanden bin ich, wenn Sie so wollen, mit meinem Latein am Ende, und auch mit meinem Altgriechisch; ich schlage vor, dass Sie sich einmal röntgen lassen. Sind Sie schon einmal geröntgt worden, in diesem Bereich?“
Harald verneinte.
„Ich empfehle Ihnen Dr. Loranger, kennen Sie den? Seine Praxis ist hier ganz in der Nähe.“


Als Harald zu Hause berichtete, dass der gute alte Hausarzt immer noch nichts gefunden und ihm stattdessen geraten hatte, seinen Magen röntgen zu lassen, zeigte sich seine Frau doch einigermaßen beunruhigt.
„Das darf doch nicht wahr sein“ rief sie aus, „lass dir schnell einen Termin geben, bei dem Röntgenarzt, wie heißt der noch gleich?“
„Doktor Loranger.“
„Mach schnell, Harald, nicht dass du womöglich noch ein Magengeschwür hast.“
Harald Birger wurde blass und wählte die Nummer der Praxis.
Er hatte Glück und bekam gleich für den nächsten Tag einen Termin bei dem Röntgenspezialisten.
Auch Doktor Loranger, ein Mann Mitte vierzig, stellte ihm sofort die Frage, wann er das letzte Mal am Magen geröntgt worden war.
„Noch nie? Umso besser, dann gebe ich Sie gleich in die Obhut der zarten Hände meiner reizenden Helferin. Übernehmen Sie bitte Sabine. Wir sehen uns später, Herr Birger.“
Schnell war die Röntgenaufnahme gemacht, zu schnell fand Harald; er hätte gern noch ein wenig Zeit unter der Obhut der reizenden Helferin verbracht.
Lächelnd bat Sabine ihn, erneut im Wartezimmer Platz zu nehmen, bis er hereingerufen würde.
Und Harald wartete.
Und wartete, dreißig Minuten, eine ganze Stunde, eine weitere Stunde, und je mehr es dauerte, umso mehr verließ ihn der Mut.
„Mein Gott“ dachte er mit einem Anflug von Verzweiflung, „wahrscheinlich hat Regina Recht, vielleicht habe ich wirklich ein Magengeschwür, oder etwas Schlimmeres; vielleicht habe ich sogar nur noch einen halben Magen, oder gar keinen mehr. Warum dauert das denn solange?“
Mit großem Unbehagen bemerkte er, dass sich das Wartezimmer immer mehr leerte, bis er auf einmal ganz allein war.
Plötzlich tat sich die Tür zum Behandlungsraum des Arztes auf und Harald wurde hereingerufen.
Unsicheren Schrittes betrat er das Zimmer
Gedankenverloren saß Doktor Loranger vor einem überdimensional großen Röntgenbild.
„Nehmen Sie Platz, mein Lieber“ forderte der Arzt ihn, auf mit unheilvoller Miene, „was Sie da sehen“, deutete er auf die Röntgenaufnahme, „das ist Ihr inneres Leben oder zumindest ein Teil davon. Mein Gott, so was habe ich noch nie gesehen, in all den Jahren, die ich praktiziere.“
Harald brachte kein Wort hervor, er fühlte sich einer Ohnmacht nah.
„Ich habe auch mit Ihrem Hausarzt gesprochen, eine ganze Zeitlang, und auch mit einigen namhaften Kollegen, denen ich allen die Aufnahme per E-Mail zukommen ließ, und alle sagten übereinstimmend, dass sie so was auch noch nie gesehen hätten.“
Harald hatte das Gefühl, dass die Zimmerdecke auf ihn herabstürzte. Mit dem Mut der Verzweiflung brachte er mit ersterbender Stimme hervor.
„Was ist denn mit meinem Röntgenbild, Herr Doktor. Reden Sie Klartext, ich habe Frau und Kind daheim, sagen Sie es mir, wie lange habe ich noch zu leben?“
Verwundert blickte der Arzt ihn an.
„Wie bitte? Wie meinen Sie? Wie kommen Sie denn darauf? Mensch, Sie sind kerngesund, Mann.“
„Und das da?“ wies Harald fragend auf die vergrößerte Röntgenaufnahme.
„Ja, das, mein lieber Herr Birger, das ist die natürlichste Sache der Welt. Um es ganz deutlich zu sagen, mit anderen Worten, Sie sind schwanger, und das da“ deutete er mit einem Lichtzeiger auf ein winziges undefiniertes Etwas in dem Röntgenbild, „das wird einmal Ihr Kind!“
„Waas?“
„Na gut, ich muss mich korrigieren, so eine ganz natürliche Sache ist das in Ihrem Fall wohl nicht, es sei denn, Sie hätten eine Geschlechtsumwandlung vornehmen lassen. Waren Sie früher eine Frau?“
„Wie bitte?“
„Sie sind schwanger, Herr Birger, und soweit mir bewusst ist, der erste Mann in der Geschichte der Menschheit, zumindest, solange die Geschichtsschreibung existiert. Doch vielleicht ist das gar nicht so verwunderlich, in der heutigen Zeit, wo Gletscher und Pole schmelzen und das Klima total verrückt spielt. Die Umwelt schlägt einfach zurück, und warum soll es daher nicht auch möglich sein, dass Männer schwanger werden? He, was ist mit Ihnen, Sie machen mir doch nicht schlapp?“
Die letzten Worte bekam Harald nicht mehr mit, da ihn die Sinne verlassen hatten.

Als er wieder zu sich kam, lag er ausgestreckt auf der Couch des Behandlungs-zimmers.
„Na, wie geht es Ihnen, Herr Birger“ lächelte Doktor Loranger, „haben Sie sich ein wenig erholt, von der Überraschung? Schon einen Namen für Ihr Kind? Na, Scherz beiseite, man wird ja nicht jeden Tag schwanger, zumindest nicht als Mann. Be-sprechen Sie sich erst einmal in Ruhe mit Ihrer Frau.“
Siedend heiß fiel Harald seine bessere Hälfte ein.
Was würde sie dazu sagen?
Wie sollte er es ihr überhaupt beibringen, dass er schwanger war und nicht sie?
Ein Ding der Unmöglichkeit!
Der Arzt schien Gedanken lesen zu können.
„Sie sprachen eben davon, Sie hätten Frau und Kind zu Haus. Wer hat dieses Kind denn ausgetragen, Ihre Frau oder… ich meine, das ist sicher Ihre erste Schwangerschaft?“
„Was soll diese Frage, Herr Doktor“ empörte sich Harald, „mir ist nicht nach Scherzen zumute.“
„Ist ja schon gut, beruhigen Sie sich, gehen Sie nun in Ruhe nach Haus und überbringen Sie behutsam Ihrer Frau die freudige Nachricht. Soll ich nicht besser ein Taxi rufen?“
Wie in Trance stand Harald auf, und bewegte sich schwankenden Schrittes zur Tür.
Dort holte der Arzt ihn ein und drückte ihm einen Zettel in die Hand.
„Was ist das?“
„Die Adresse eines guten Frauenarztes, für die weitere Behandlung.“


Als Harald zu Hause ankam, führte ihn sein erster Weg ins Kinderzimmer.
Sabrina, die zweijährige Tochter schlief fest, den linken Daumen im Mund.
Regina, seine bessere Hälfte, war ihm auf Zehenspitzen ins Zimmer gefolgt.
Glücklich strahlte sie ihn an.
„Ist sie nicht süß, unsere Kleine?“ flüsterte sie.
Gequält lächelte er zurück.
„Was hast du denn? Du hast doch was? Was hat der Röntgenarzt gesagt?“
Schweigend nahmen beide im Wohnzimmer Platz.
‚Wie sage ich es ihr bloß?’ dachte Harald verzweifelt.
Nervös stand er auf, trat an den Schrank, um sich einen Kognak einzuschütten, doch mit Blick auf seinen Zustand stellte er die Flasche weg und setzte sich wieder.
„Regina, Schatz“ begann er vorsichtig und nahm ihre Hand, „wir wünschen uns doch schon seit einiger Zeit ein zweites Kind, nicht wahr?“
„Ja, natürlich, aber wie kommst du denn jetzt darauf? Hat der Arzt etwa festgestellt, dass du unfruchtbar bist, auf einmal?“
„Nein, nein, um Gottes Willen, im Gegenteil. Was ich sagen wollte, wir üben ja schon eine Weile, was würdest du sagen, wenn unsere Übungen von Erfolg gekrönt wären?“
„Von Erfolg gekrönt wären“ wiederholte seine Frau, „was soll diese Frage? Du wirst es schon als erster erfahren, wenn es soweit ist.“
„Und wenn nicht?“
„Wie, wenn nicht?“
Argwöhnisch betrachtete Regina ihren Mann.
„Soll ich dir etwa jeden Morgen sagen, dass es noch nicht geklappt hat? Sag mal, hast du heimlich was getrunken?“
„Du hast mich falsch verstanden, Schatz. Ich meine, wenn du es von mir erfahren würdest, ob es geklappt hat, als erste natürlich.“
„Sag mal, was hat denn der Arzt mit dir gemacht?“ rief Regina empört, „Warst du zulange in der Dunkelkammer, du bist ja ganz von Sinnen.“

Harald schwieg und biss sich auf die Lippen.
Es war in der Tat als Mann nicht einfach, seiner Frau zu sagen, dass man von ihr ein Kind erwartete.
„Na, ja, ich will doch nur einmal die Möglichkeit in den Raum stellen, rein hypothetisch“ versuchte er es erneut, „dass, wenn wir ein Kind erwarten, du nicht unbedingt schwanger sein müsstest…“
„Waaas? Wer sollte denn sonst schwanger sein, wenn wir ein Kind erwarten?“
„Ich“ antwortete Harald tonlos.
Langsam und stockend berichtete er ihr von dem Befund des Röntgenarztes.
Als er geendet hatte, war es an Regina, sich einen Kognak zu genehmigen, und noch einen, und dann noch einen, bis die Flasche leer war.
Das durfte sie auch ohne Gewissensbisse tun, denn sie war ja nicht schwanger.
„Du nicht“, lächelte sie ihren Harald an, „du bist in Umständen, da siehst du mal, was Frauen alles entbehren müssen.“
In der Folgezeit begleitete Regina ihren Mann zu allen Terminen beim Gynäkologen – andere Fachärzte gab es für diesen Fall noch nicht – nahm an den Ultraschalluntersuchungen teil und stand ihm mit Rat und Tat kräftig zur Seite.
Darüber hinaus besuchten beide regelmäßig die Schwangerschaftsgymnastik, mit umgekehrten Vorzeichen, was anfangs für Verwirrung sorgte.

Endlich aber war es soweit; auf den Tag genau, wie vom Frauenarzt vorausberechnet, setzten die Wehen bei Harald ein.
Regina nahm die Schwangerschaftstasche ihres Mannes, fuhr ihn zur Klinik und folgte ihm bis in den Kreissaal; als fortschrittliche Frau wollte sie bei der Entbindung natürlich dabei sein.
Bevor die Hebamme der nervösen Mutter jedoch das schreiende kleine Etwas - einen gesunden Jungen, wie sie freudig versicherte – in den Arm drücken konnte, fiel diese in Ohnmacht.


Zur Zeit sind Regina und Harald eifrig damit beschäftigt, ihren beiden Kindern ein drittes hinzuzugesellen.
Neben der Frage, ob sich Sabrina und Frederik im Erfolgsfall über ein Schwesterchen oder ein Brüderchen freuen dürfen, sind die Eheleute sehr gespannt, wer das Baby wohl zur Welt bringen wird…
 



 
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