Einblick

2,00 Stern(e) 1 Stimme

Anonym

Gast
Ich wünsche mir, dass all die Wände in sich zusammenbrechen, die mich einsperren und ein Leben in unerträglicher Angst fristen lassen.

Die kleine Flamme verschlingt gierig das Papierchen mit seiner Schrift, als ich es dem Feuer überlasse und wenig später bloß noch dabei zusehe, wie der Wind die schwarze Asche mit sich reißt. Und ich wünschte, ich könnte zu ihm gehen, ihn aus diesem Machwerk der Angst reißen und nicht jeden Tag tatenlos daneben stehen, wenn ihn erneuter Wahnsinn befällt.
Sie glauben also, Sie könnten dies nicht?
Nein, kann ich nicht. Dafür scheinen wir einander zu ähnlich und doch zu grundverschieden zu sein.
Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Könnten Sie mir dies erläutern?
Meine Finger klammern sich im Stoff der Winterjacke fest, als ich stumm den Kopf schüttele und den Ball der tanzenden Herbstblättern verfolge. Ich sollte etwas sagen, irgend etwas erklären und weiß gleichzeitig nicht einmal mehr, wie wir jemals so weit gekommen sind. Was war das für ein Ort, an dem wir uns kennen lernten? Was waren das für Umstände? Sternenklare Nächte sollten nicht für junge Männer prädestiniert sein, um sich auf Hochhausdächer zu stellen und über das Geländer zu klettern.
Aber Sie müssen doch ebenfalls dort gewesen sein. Wie kam es dazu?
Gute Laune; ich war dermaßen deprimiert, dass ich alles und jeden komisch fand und mich an diesem Abend fragte, ob es nicht möglich sei den Mond zu umarmen oder ob dieser mich auch abstoßen würde wie einen parasitären Fremdkörper. Doch das Vorhaben schwand dahin, als ich ihn bereits dort erblickte und bei Gott nicht für eine melodramatische Zeitungsmeldung sorgen wollte.
Aber Sie kannten den jungen Mann zu jener Zeit noch gar nicht. Wie konnten Sie so sicher sein über das selbe Ziel zu verfügen?
Lassen Sie mich überlegen. Vielleicht war diese vorgebeugte Haltung dafür verantwortlich? Oder die sich schon in die strukturlose Luft krallenden Finger seiner einen Hand?
Werden Sie jetzt sarkastisch?
Nein, ich beantworte lediglich Ihre Frage. Innerlich seufzend wandern meine Hände in die Jackentaschen, als ich mich in Bewegung setze und den Balkon verlasse, von dem aus es 10 Stockwerke in die Tiefe geht. Seine Beschreibung von Freiheit spukt wie ein Phantom durch meine Sinne, gekoppelt an das Bild seiner im Wind gewogenen Kleidung, welcher die ohnehin nur spärlich gebundene Krawatte mit sich trägt. Vereinzelte Haarsträhnchen flattern, seine geringfügig, meine aufgrund ihrer enormen Länge erheblich lebenswütiger. Einen bewussten Moment lang bleibe ich unmittelbar hinter ihm stehen und wage es nicht näher zu treten. Er könnte vor Schreck loslassen und ich würde ihm damit letztlich nur einen Gefallen tun. Doch mein hohes Schuhwerk muss mich bereits im Vorfeld verraten haben; die Schuhe, die mich chic aussehen lassen. Genauso wie der Rest dieser grausamen Garderobe.
Ihnen gefällt nicht, was Sie tragen?
Ich habe Dinge getragen, in denen ich denjenigen gefiel, die mich ausführten.
Waren diese Männer älter als Sie?
Ja, aber das störte mich nicht. Ich ließ es nie zu übertriebenen Altersunterschieden kommen und genoss die Schmuckgeschenke, welche ihrem schlechten Gewissen entsprangen und meinen Hals oder meine Finger zieren.
Halten Sie sich für käuflich?
Definitiv, denn Geld ist eine feste und sichere Materie. Menschen können einem sagen „Ich liebe dich“ und es bedeutet mir nichts. Es sind leere Worte, ohne Wert, ohne Tiefe und ich werde wahnsinnig über meine eigene Gefühlskälte und will gleichzeitig wissen, wer all die Emotionen aus mir rausgeprügelt hat.
Wollten Sie deswegen springen?
Ist anzunehmen. Nur als ich ihn damals dort sah und indirekt auch mein Schicksal, erkannte ich einen Mensch ohne teuren Mantel, ohne gekünstelte Manieren oder materiellen Wert, dem es genauso mies ging wie mir. Also lachte ich.
Sie lachten? Über ihn?
Weiß nicht, vielleicht auch über mich oder uns beide und er nahm es mir sehr übel, wie ich in seinem vernichtenden Blick erkannte, der auf einmal an mir haftete. Wahrscheinlich wäre ich aber auch angepisst gewesen in seiner Situation. Führen Sie sich das doch mal vor Augen: Sie haben es endlich geschafft die Courage zusammenzukratzen sich da oben hinzustellen, beten ihre letzten, erbärmlichen Worte und dann kreuzt da irgend so eine Schnalle auf, die nicht mehr ganz knusper ist und hat ihren Drogenkonsum wieder mal übertrieben.
Hatten Sie Drogen intus?
Nein.
Möchten Sie nicht fortfahren?
Was gibt es noch großartig zu sagen? Er keifte, ich lachte, er flennte, ich wurde ernst und kletterte letztlich selbst über das Geländer.
Ich dachte, Sie wollten Melodramatik vermeiden?
Im Grunde schon, aber ein bisschen Spontaneität dürfen Sie mir schon noch erlauben, denn eigentlich wollte ich nur mit ihm streiten. Es ist so unwirklich gewesen, dass ich annahm zu schlafen und sofern ich tatsächlich gesprungen wäre, hätte ich in meinem Bett die Lider aufgeschlagen und mich darüber geärgert nicht einmal nach seinem Namen gefragt zu haben. Stattdessen reizte ich ihn mit irgend etwas in Richtung ‚Warum springst du nicht? Soll ich zuerst? Aber dann endest du selbst im Tod noch als Feigling, weil die armen Passanten unten es genau merken, wer von uns zuerst ankommt’. Hat ihm recht quer gesessen.
Demnach hätte er aber springen müssen.
Hätte, ist er aber nicht. Ich wende mich gen Himmel und inhaliere den klaren Sauerstoff, während meine Füße Stufe um Stufe nehmen, sodass ich das Meer nicht nur hören, sondern alsbald auch sehen kann. Die sich übereinanderschlagenden Wellen wie brünstige Tiere und ein jedes Mal erinnert mich der Anblick der unendlichen Wassermassen daran, wie lächerlich klein und schmächtig Menschen doch sind. Der Ozean verschlingt Schiffe ohne mit der Wimper zu zucken und ich bin mir sicher, mein Freund teilt solche Gedankengänge mit mir. Warum sonst fanden wir uns so oft hier oben wieder, überblickten die stürmische See und konsumierten Salzgeruch sowie Wellenrauschen.
Wie ist es auf dem Dach denn nun weitergegangen?
Wer will das schon wissen? Ich nicht mehr; es scheint eine Ewigkeit her zu sein und ich verbiete meinem schizophrenen Geist weitere Fragen, als ich über die Schulter schauend eine Person hinter mir die Treppen hinaufkommen sehe. Ein wie so oft unbestimmtes Lächeln erfolgt von meiner Seite, als ich seinen Griff in die Jackentasche beobachte und ein kleines Döschen zu Tage gefördert wird.
 

jon

Mitglied
Teammitglied
Das wirkt sehr stark auf mich, irgendwie "existenziell". Aber ich wäre uuuuunglaublich dankbar, wenn mittels Anfürhungszeichen sortiert wäre, was gesagt und was gedacht wird. Das würde sicher auch noch eine zusätzliche Prise Intensität ins Ganze bringen…
 



 
Oben Unten