Eine Fahrt nach Paleochora

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anbas

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Eine Fahrt nach Paleochora

Eben noch habe ich am Venezianischen Hafen von Chania einen Cappuccino getrunken. Dann, einige Minuten später, bin ich am Zentralen Omnibusbahnhof gewesen und habe mich durchgefragt zum Bus nach Paleochora.

An meinem ersten Tag hier auf Kreta hat mich das schier unübersichtliche Chaos auf dem Busbahnhof von Chania sowie die für mich nicht lesbare Schrift auf den Anzeigetafeln fast in Panik versetzt. 'Hier kommst Du nie wieder weg', habe ich gedacht. Doch inzwischen weiß ich, wo ich hingehen, nachschauen und wen ich fragen muss. Außerdem habe ich festgestellt, dass selbst die einheimischen Fahrgäste schnell mal die Übersicht verlieren, hektisch von Bus zu Bus laufen und die Busfahrer nach deren Fahrziel fragen. Es würde mir also auch nicht helfen, wenn ich die schnarrenden Lautsprecheransagen verstehen würde, die über den Busbahnhof schallen, und verkünden, welcher Bus mit welcher Nummer in den nächsten Minuten wohin fährt.

Nun sitze ich also in dem Bus nach Paleochora. Pünktlich um 12.00 Uhr fährt er los. Ich sitze ganz vorne, erste Reihe rechts, der Platz am Gang.

Nur langsam findet der Bus seinen Weg durch die engen, stark befahrenen Straßen Chanias. Der Straßenlärm, das Hupen der Autos, die Musik aus den Lautsprechern über mir, sowie das Knistern, Rauschen und Scheppern des Funksprechverkehrs zwischen dem Busfahrer und seinen Kollegen vermischen sich zu einer doch sehr gewöhnungsbedürftigen Geräuschkulisse.

Endlich, die Stadt liegt hinter uns. Der Bus fährt die Hauptstraße entlang gen Westen. Immer wieder kann ich das Meer sehen. Kleine Wellen schlagen an den Strand, und eine felsige Insel scheint zum Greifen nahe zu sein. Es ist Anfang April 1996. Wunderbarer Sonnenschein auf der einen und ein starker kühler Wind auf der anderen Seite verunsichern bei der Kleiderfrage. Die Jacke habe ich schon wieder ausgezogen und auf meinen Schoß gelegt.

Inzwischen sind wir durch mehrere endlos lang erscheinende Vororte gefahren. Überall herrscht emsiges Treiben. Die Insel erwacht von Tag zu Tag mehr aus ihrem Winterschlaf. Es wird gebaut, repariert und geputzt. Vor allem die Hotels, Restaurants und Cafés bereiten sich auf den Sommer und die zahllosen Touristen vor.

Der Busbegleiter kommt. In jedem der Busse fährt ein Busbegleiter mit, bei dem man seine Fahrkarte kaufen muss. Für diese Fahrt bezahle ich 1250 Drachmen. Das sind keine acht D-Mark für rund 80 Kilometer beziehungsweise zwei Stunden Fahrt.

Noch immer befinden wir uns auf der Hauptstraße, die an der gesamten Nordküste Kretas entlang führt. Sie wird gesäumt von Hotels, Restaurants, Cafés , Autovermietungen und Souvenirshops. Zwischen den Häusern: Der Strand, das Meer und diese felsige Insel. Sie heißt Agii Theodori und ist ein Reservat für die Kri-Kri, die kretischen Wildziegen. 'Dort das Reservat für die Ziegen, hier die Reservate für sonnenhungrige Urlauber', denke ich. Dann stelle ich mir vor, wie hier im Sommer die Hölle los sein wird.

Wegen einer Baustelle müssen wir die Hauptstraße verlassen und uns die viel zu enge Umleitung entlang schlängeln. Mehrmals muss der Bus oder der Gegenverkehr anhalten und warten, damit es überhaupt weitergehen kann. Über Funk spricht sich der Busfahrer mit seinen ihm entgegenkommenden Kollegen ab. Mit Geduld und hohem Geschick der einzelnen Fahrer wird jeder Engpass bezwungen.

Wieder auf der Küstenstraße angelangt geht es weiter von einem Badeort zum anderen. Dann biegen wir links ab ins Landesinnere. Schon nach wenigen hundert Metern verändert sich die Landschaft. Wir lassen das Meer zurück und ich sehe mich auf einmal von Bergen und Tälern umgeben. Orangen- und Olivenplantagen säumen unseren Weg.

Die Straße wird jetzt enger. Vor jeder Kurve, die nicht so gut einsehbar ist, hupt der Busfahrer - mal hupt er mehrmals hinter einander, mal lang und intensiv. Einige Touristen im Bus begleiten jedes Hupen mit fast schon hysterisch erscheinenden Überraschungslauten. Ich selber habe mich an die Huperei gewöhnt. Es ist hier so üblich, dass gehupt wird, wenn man überholt wird, wenn jemand im Weg ist oder wenn die Gefahr besteht, das gleich jemand im Wege stehen könnte.

Nun bin ich also mittendrin in der Bergwelt West-Kretas. Links sehe ich die schneebedeckten Wipfel der Levka Oris, den Weißen Bergen. In engen Serpentinen windet sich die Straße immer weiter empor. Vor jeder Kurve denke ich, dass nun der Anstieg gleich beendet sein müsste - doch es geht immer weiter bergauf. An einigen Stellen ist die Straße gerade mal etwas breiter als der Bus. Auf der einen Seite ist eine steile Wand nach oben, auf der anderen Seite eine steile Wand nach unten. Dann verläuft die Straße direkt auf einen Bergkamm entlang. Nun geht es an beiden Seiten, vielleicht zwei Meter neben der Fahrbahn, steil bergab.

Hin und wieder fahren wir durch kleine Dörfer. Hier hält der Bus kurz an, um neue Fahrgäste aufzunehmen. Ein schnarrendes Signal zeigt dem Fahrer an, dass jemand aussteigen will. Die Haltestellen sind nicht immer zu erkennen. Manchmal ist ein klärender Zuruf des Busbegleiters notwendig, damit der Fahrer weiß, wo er halten soll. Von anderen Urlaubern habe ich gehört, dass man sogar ein Handzeichen geben muss, wenn man mitgenommen werden möchte - selbst, wenn man an einer Haltestelle steht.

Der Fahrer hat inzwischen längst den Funk abgeschaltet. Hier in den Bergen ist vermutlich kein vernünftiger Empfang mehr möglich. Das Radio läuft aber noch weiter - auch, wenn der Fahrer immer öfters einen anderen Sender suchen muss.

Und jetzt habe ich es ganz deutlich gesehen. Ich hattest es schon ein, zwei Mal beobachtet war mir aber nicht ganz sicher gewesen. Doch jetzt habe ich genau hingeschaut und ich hatte mich nicht geirrt: Eben, als wir an einer kleinen Kirche vorbeifuhren, hat sich der Fahrer bekreuzigt. Dreimal hat er ein Kreuz geschlagen und für einen kurzen Moment den Blick gesenkt. Doch schon einen Augenblick später kurbelte er mit beiden Händen am Lenkrad, um die engen Kurven zu meistern.

Dann ruft der Fahrer seinen Begleiter zu sich nach vorne. Dieser bleibt zunächst stehen. Erst als ihm der Notsitz neben dem Fahrer angeboten wird, setzt er sich hin. Beide fangen an, sich lebhaft gestikulierend zu unterhalten. Während des Gespräches steckt sich der Fahrer seine zweite Zigarette an. Im Bus herrscht eigentlich Rauchverbot. Ein wenig skeptisch verfolge ich die lebhaft gestikulierenden Hände des Fahrers während er die engen Serpentinen entlang fährt, sich bei den Kirchen bekreuzigt und dann wieder nach einem neuen Sender im Radio sucht.

Irgendwann wird der Radioempfang so schlecht, dass der Fahrer auch das Radio ausschaltet. Nun sind nur noch die Fahrgeräusche, die Gespräche der Mitreisenden und gelegentlich das Hupen zu hören.

Das Fahren in den engen Kurven fängt an, sich auf meinen Magen zu schlagen. Dabei habe ich mich schon extra nach vorne gesetzt. Schräg hinter mir sitzt eine junge Frau. Auf ihrem Schoß schläft ein Säugling. Er scheint keine Probleme mit den vielen Serpentinen zu haben.

Zwei Frauen, eine jüngere und eine ältere, steigen aus. Beide sind ganz in Schwarz gekleidet. Ich vermute, dass sie zu einer Beerdigung unterwegs sind. Und nun fallen mir die Todesanzeigen ein, die ich in fast jedem Ort gesehen habe. Sie waren einfach an die Masten der Telefonleitungen geheftet. Manche dieser Anzeigen waren mit dem Foto des Verstorbenen versehen. Diese Fotos habe ich auch auf den Friedhöfen entdeckt. Sie standen zusammen mit Kerzen, Blumen oder Utensilien zur Grabpflege in einer Vitrine, die sich am Kopfende des jeweiligen Grabes befand. Die Vitrinen bestanden genauso aus Marmor, wie das gesamte Grab. Sie hatten meistens an beiden Seiten Glasschiebefenster, die bei stärkerem Wind leise und unheimlich klapperten. Während sich auf der Grabplatte lediglich die Geburts- und Sterbedaten sowie der Name des Verstorbenen befanden, so war diese Vitrine mit einem Kreuz, einer Taube oder anderen Figuren verziert. Manchmal waren hinter den Glasfenstern die Fotos mehrerer Menschen zu sehen. Ob dies alles Verstorbene waren, die in dem einen Grab lagen, weiß ich nicht. Es war mir auch nicht so wichtig. Viel zu sehr haben mich diese Friedhöfe mit ihren Gräbern und den Fotos beeindruckt. Die Toten schienen weiterhin gegenwärtig und nicht in Vergessenheit geraten zu sein.

Meine Fahrt durch die Berge geht weiter. An einigen Abschnitten wurde die Straße erweitert und ausgebaut. Dann gibt es wieder Stellen an denen sie durch einen Erdrutsch zur Hälfte versperrt ist. Karge Berge, rot oder braun schimmernde Erde, von einigen knorrigen Sträuchern bewachsen, wechseln sich ab mit Olivenhainen und gras- oder ginsterbewachsenen Abhängen. Zur Zeit blüht der Ginster - ein herrliches Mosaik aus grünen und gelben Flächen. Und so weit das Auge reicht: Berge, nichts als Berge. Dann entdecke ich unten im Tal eine Straße, auf der ich mich in wenigen Minuten selber befinde, und es ist mir ein Rätsel, wie ich dort hingekommen bin. Doch ich habe keine Zeit darüber nachzudenken, denn schon steigt die Straße wieder an.

Die alte Frau, die neben mir sitzt, bietet mir einige Nüsse an. Mein Lächeln hat sie wahrscheinlich eher verstanden als die Worte, mit denen ich mich bedankt habe.

Der Busfahrer hat inzwischen die dritte Zigarette aufgeraucht. Die Kippe fliegt aus dem Fenster. Ebenso ein wenig später das Bonbonpapier. Mir fallen die wilden Müllkippen ein, die ich hier und da gesehen habe. Der weitere Unrat am Straßenrand fällt mir schon gar nicht mehr ins Auge.

Dann, auf einmal zwischen den Bergen, sehe ich das Meer. Nun geht es nur noch bergab. Die Straße scheint hier regelrecht durch eine Olivenplantage hindurchzuführen. Wie auf einer Allee säumen links und rechts Olivenbäume den Weg. Unter ihnen liegen weit ausgebreitet, mit Steinen und Ästen befestigt, große schwarze Netze. Sie erleichtern später die Ernte, weil der Wind die Oliven von den Bäumen schüttelt und die Netze dann nur noch geschickt aufgehoben werden müssen.

Wieder kommen wir an ein paar Häusern vorbei. Hier weiden einige Ziegen. Sie sind ebenso, wie dort der Esel, an einem kurzen Strick angebunden. Kleine Zicklein, nicht festgebunden, tollen in der Nähe der Muttertiere herum.

Dann wird die Straße gerade. Und schon fahren wir in Paleochora ein. Sofort erkenne ich auch hier die Souvenirshops, die Autovermietungen, die Cafés und Restaurants, sowie die Hinweisschilder auf freie Zimmer.

Ich steige aus und spüre sofort den Unterschied zum hektischen Norden wo ich meine Fahrt begonnen habe. Eine milde, angenehme und verträumte Ruhe umgibt mich. Es ist wunderbar still. Sollte es tatsächlich magische, verwunschene Orte geben, so habe ich den Eindruck, gerade solch einen Ort gefunden zu haben.

Die Straßen sind fast menschenleer. Nur hier und da bummeln einige Fußgänger mitten auf der Fahrbahn an den Geschäften entlang, und von irgendwoher aus der Ferne höre ich das Knattern einiger Motorräder. Ich gehe zwischen den Häusern hindurch zum Meer. Eine Strandpromenade - Cafés , Restaurants und Stille, keine Autos, keine Musik und kein Stimmengewirr. Lediglich Hammerschläge hallen über die Promenade. Auch im Süden bereitet man sich auf die Saison vor. Doch hier wirkt alles viel ruhiger und gemächlicher.

Der Ort scheint noch zu schlafen. Das im Reiseführer als 'Mekka der Rucksacktouristen' bezeichnete Paleochora strahlt eine Ruhe aus, die mich in ihren Bann zieht. Im Vergleich zum Norden ist das Klima wärmer und milder. Zu dieser Zeit hat hier der Frühling den Winter schon ganz vertrieben. Vor den Cafés und Restaurants sitzen die Menschen und unterhalten sich. In der Ferne knattert wieder ein Motorrad. - Und dann ist da das Meer. Es ist so ganz anders als im Norden. Leise plätschert es an die Steine der Uferbefestigung. Das klare Wasser schimmert grün und blau - je nach Art und Beschaffenheit des Meeresbodens.

Ich schaue gen Süden. Dort hinter dem diesigen Horizont, irgendwo dort hinten und noch ein Stück weiter liegt Afrika. Aber das ist für mich im Moment nicht so wichtig, denn Afrika ist weit, und ich möchte jetzt viel lieber hier bleiben.

Links von mir sehe ich die Rückseite der Levka Ori. Die Wolken scheinen förmlich an den Gipfeln zu kleben und sich um sie herum zu versammeln. Bald sind die schneebedeckten Bergspitzen nicht mehr zu sehen. Um die Wolkenansammlung herum ist nur blauer Himmel mit einigen vereinzelten Wölkchen. Darunter sind die Berge, die steil ins Meer fallen, und dann kommt eben dieses blau und grün schimmernde Meer und dann Paleochora - von hohen, kahlen Felsen umgeben.

Inzwischen habe ich mich vor eines der Cafés gesetzt. Mein Blick gleitet wieder über das Meer zu den Levka Ori empor. Ich frage mich, warum ich nicht sofort hierher gekommen bin. Beim nächsten Mal werde ich meinen Urlaub hier beginnen. Aber ich weiß auch, dass es an diesem Ort in wenigen Wochen von Menschen nur so wimmeln wird. Dann ist es zunächst vorbei mit der Ruhe. Doch dann wird es auch wieder still werden in Paleochora. Und dann, da bin ich mir sicher, dann werde ich wiederkommen. Wieder im April, auch wenn es regnet und die See stürmt, auch wenn alles ganz anders ist, als wie ich es jetzt gesehen habe. Ich werde wiederkommen, und Paleochora wird gerade aus seinem Schlaf erwachen.
 

anbas

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Hallo Kleine Bärin,

wie man sieht, ist der Text schon etwas älter. Beim Überarbeiten war ich auch wieder auf Kreta, saß in diesem Bus und erinnerte mich wehmütig daran, dass ich dort noch einmal hinzufahren wollte...

Vielen Dank für Deinen Kommentar.

Liebe Grüße

Andreas
 



 
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