Eine Frage der Einstellung

xavia

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Er sitzt mir gegenüber im Zug und blickt nervös aus dem Fenster, als könnte er die Fahrt beschleunigen, wenn er nur ungeduldig genug wäre. Wir kommen beide von einer Tagung in Eichstätt, haben dort Kontakte geknüpft und uns über den neuesten Stand der Forschung informiert. Keiner von uns hatte den anderen dort bemerkt.

Es ist seltsam, dass ein Mensch, sobald er keine Konkurrenz mehr hat, interessanter wird durch eine Gemeinsamkeit, die vorher keine Rolle gespielt hatte: Trifft man Deutsche in Kyoto bei der Besichtigung eines Tempels, ist es sehr viel wahrscheinlicher dass man sie kennenlernt, als wenn man dieselben Leute in einem deutschen Supermarkt an der Käsetheke treffen würde. So war es auch mit diesem Mann: Auf der Tagung war er einer von vielen, aber am Bahnhof Eichstätt waren wir die einzigen, die den nächsten Zug in den Norden nehmen wollten und so kamen wir ins Gespräch.

Ich erfuhr, dass er Chistian Focke heißt und in Hamburg wohnt. Wir tauschten unsere Eindrücke von der Tagung aus, suchten vorsichtig nach geeigneten Gesprächsthemen und lauschten dann der Ansage, dass der Zug, auf den wir warteten, eine Viertelstunde Verspätung haben würde. »Das hätte ich mir ja denken können«, klagte er, »Deutsche Bundesbahn!«

Vom Geist des Widerspruchs beseelt und wohl wissend, dass bei Zustimmung schnell der Gesprächsstoff ausgehen würde, wandte ich ein, dass meine eigenen Erfahrungen mit Zügen durchweg positiv seien. Sein ungläubiger Gesichtsausdruck stimmte mich jedoch milde und ich gab zu, dass es eine Episode gab, in der ich ein unerfreuliches Erlebnis mit der Bahn hatte.

Er strahlte erwartungsvoll und ich berichtete, wie es mir nach beharrlichem Umschmeicheln und Umgarnen gelungen war, meinen Ehemann, den leidenschaftlichen Autofahrer, dazu zu überreden, mit dem Zug nach Sylt zu fahren, wie dieser dem problemlosen Hinweg zum Trotz voller Befürchtungen gewesen ist und schließlich, zwei Wochen später, auf dem Rückweg belohnt wurde, als der Zug ausfiel, der uns nach Hause bringen sollte. Die zahlreichen Reisenden mussten alle auf den nächsten Zug warten, der dann schrecklich überfüllt sein würde. Hinzu kam die Befürchtung, im nächsten Zug gar nicht mitzukommen. Nicht einmal während der Wartezeit konnten wir uns entspannen, denn es gab immer wieder Gerüchte und widersprüchliche Ansagen, die dazu führten, dass genervte Urlauber mehrfach ihr Lager verlegten, um als erste abgefertigt zu werden. Viele konnten Schauergeschichten berichten über die Unzuverlässigkeit dieser Strecke und über mögliche Ursachen der Wartezeit, über die wir von offizieller Seite im Unklaren gelassen wurden.

Mein Reisegefährte hatte ungeduldig zugehört. Als ich meine Geschichte beendet hatte, triumphierte er:

»Sag' ich doch, die Bahn ist einfach unzuverlässig!« Er hatte offensichtlich nicht verstanden, was ich ihm mit meiner kleinen Geschichte mitteilen wollte, also versuchte ich, es ihm zu erklären:

»Mein lieber Mann wollte eine schlechte Erfahrung mit der Bahn machen und die hat er auch bekommen.« – Ungläubiges Staunen, nicht über die Lehre, die ich ihm erteilte sondern offensichtlich darüber, dass ich eine von denen bin, die sowas glaubten. Vorsichtig – ihm musste klar sein, dass wir noch eine Weile miteinander zu tun haben würden – wandte er ein:

»Und wenn dein Mann sich auf die Zugfahrt gefreut hätte, wäre der Zug nicht ausgefallen?« – Schwierige Frage. Auch ich musste mich vorsehen, mein Gegenüber nicht allzu sehr zu ärgern. Beschuldigte ich jetzt meinen Mann, würde Christian das möglicherweise persönlich nehmen und sich als Verursacher unserer zusätzlichen Wartezeit bezichtigt fühlen.

»Nein, wahrscheinlich wäre der Zug trotzdem ausgefallen, aber wir hätten uns nicht so schlecht gefühlt«, lenkte ich ein, »mit Optimismus kommt man leichter durch's Leben und manchmal sieht es für mich so aus, als erlebe ich die unangenehmen Dinge tatsächlich nur im Beisein von Pessimisten.« – Ich konnte es einfach nicht lassen.

»Ich, ein Pessimist? – Das ist ja lachhaft«, ereiferte er sich. »Wäre ich auch noch ein Pessimist, dann könnte ich mich ja gleich aufhängen bei all den Missgeschicken, die mir immer passieren!« Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Wir standen eine Weile schweigend beisammen, mussten die Kluft, die wir zwischen unseren Weltanschauungen entdeckt hatten, erst einmal verdauen. Christian begann, wütend am Bahnsteig auf und ab zu laufen. Ich betrachtete die kleinen rosa Blümchen, die es schafften, am Rand neben den Gleisen zwischen den Steinen zu wachsen und freute mich, dass es hier nur einen Bahnsteig gibt und wir deswegen auch für einen Ersatz-Zug am richtigen Ort sein würden. Da kam eine neue Durchsage aus dem Lautsprecher, die ankündigte, dass der Zug, auf den wir warteten, sich um eine halbe Stunde verspäten würde.

»So ein Mist!« ärgerte sich Christian, »Ich werde meinen Anschlusszug in Würzburg« verpassen! Ich versuche, ihn zu trösten:

»Nach Hamburg gehen viele Züge, dann nimmst du halt den nächsten.«

»Aber ich habe reserviert!«

»Warum denn das?«

»Das mache ich grundsätzlich, habe schließlich keine Lust, im Gang herumzubalancieren.«

Ich erinnerte mich an eine Tagung in Japan, wo die Züge zeitweilig so überfüllt waren, dass ich Stunden im Gang auf meinem Koffer sitzend zugebracht hatte. Obwohl alle dicht zusammenrücken mussten war die Stimmung der Reisenden gut gewesen und es war interessant zu sehen, welche kreativen Einfälle die anderen hatten, mit dem Mangel an Sitzplätzen umzugehen. Offensichtlich war ihnen die Situation vertraut und sie blieben heiter und gelassen. Der Koffer, mit dem ich jetzt reiste, ein relativ kleiner roter Hartschalenkoffer, war derselbe wie damals. Ich konnte nicht widerstehen:

»Optimisten brauchen keine Sitzplatzreservierungen, nur einen guten Hartschalenkoffer.« Ich berichtete meinem Mitreisenden von der Japan-Tour und von den Vorteilen eines solchen Koffers, auf dem man problemlos rittlings durch ganz Japan reisen konnte. Es beeindruckte ihn nicht, er blickte genervt auf seine Uhr. Da kam die nächste Ansage, die uns darüber informierte, dass der verspätete Zug nun gar nicht mehr kommen würde, dass man dabei sei, Schienenersatzverkehr zu organisieren. Ich wusste nicht, was das ist, aber Christian kannte sich aus, er hatte das schon öfter erlebt: Wir würden mit dem Bus fahren. Damit war seine Hoffnung auf Anschluss-Zug und Sitzplatzreservierung wohl endgültig gestorben.

»Wenigstens bin ich nicht enttäuscht«, meinte Christian, »denn ich habe nichts anderes erwartet. Das ist der Vorteil meiner Einstellung, die du Pessimismus nennst, dass man keine unangenehmen Überraschungen erlebt.«

Die Busfahrt verlief ohne weitere Pannen: Der freundliche Fahrer, der wahrscheinlich am Sonntag aus dem Kreise seiner Familie gerissen worden war, lud unser Gepäck in den geräumigen Bauch eines Reisebusses und teilte uns mit, dass er unterwegs noch einige weitere Reisende aufsammeln müsse. Dann ging es in halsbrecherischer Fahrt bergauf und bergab, über Landstraßen und durch Ortschaften mit winzigen Gässchen. Ich hatte einen Fensterplatz und schaute mir begeistert die Umgebung an: So viel hatte ich davon auf dem Hinweg im Zug nicht gesehen! Die hübschen Fachwerkhäuser sausten dicht gedrängt an uns vorbei. Für Vorgärten, wie ich sie von zu Hause gewohnt bin, war selten Platz, aber die Bewohner fanden andere Möglichkeiten, ihr Heim zu schmücken: Es gab Bänke und Blumenkübel, manchmal standen Blumentöpfe direkt an der Hauswand auf dem Gehweg. Mein Nachbar war sehr schweigsam und als ich versuchen wollte, ihn auf die Pracht da draußen aufmerksam zu machen, sah ich, dass er ganz blass war und sich Schweiß auf seiner Stirn gebildet hatte.

»Vom Busfahren wird mir oft schlecht«, brachte er mühsam hervor. Jetzt tat er mir doch leid, wie er so kläglich dasaß. Aber bald hatte er es überstanden: Die Strecke wurde ebener, die Kurven seltener und Christian gesprächiger. Er berichtete mir, dass er nun das Essen in einem geheimnisvollen Lokal nahe Hamburg versäumen würde, wo seine Freunde schon Monate im Voraus gebucht hatten und ein eigenwilliger Koch nach pünktlichem Erscheinen der Gäste das Lokal abschloss und ihnen dann das Vier-Gänge-Menü bekanntgab. Sie alle hatten sich sehr darauf gerfreut, denn dieser Koch galt als ein Meister seiner Kunst und alle, die sich seiner Willkür überlassen hatten, waren hinterher voll des Lobes. Da ich Überraschungen liebe, schrieb ich mir den Namen des Lokals auf. Vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, dort selbst mal eine Gruppe hinzuführen. Der arme Christian! Nun hatte er mein ungeteiltes Mitgefühl. Es gab keine Chance, noch rechtzeitig zu dem Lokal zu kommen.

»Siehst du, was ich für ein Optimist bin, dass ich dachte, ich könnte rechtzeitig zu dem Ausflug wieder zurück sein? – Ich hätte es wissen müssen!« jammerte er.

Seit Ingolstadt sitzen wir nun im Zug und erreichen endlich den Bahnhof Würzburg. Ich sehe, dass in 30 Minuten ein Zug in Richtung Oldenburg fährt und will meinem Reisegefährten gerade vorschlagen, noch einen Kaffee zusammen zu trinken, bevor sich unsere Wege trennen, da greift er Sack und Pack und rennt nach kurzen Worten des Abschieds quer durch die Bahnhofshalle zu einer endlosen Schlange von Reisenden, die anstehen, um ihre Karten und Sitzlpaltzreservierungen umzubuchen. Als er dort ankommt, lächele ich ihm aufmunternd zu, er zuckt hilflos die Schultern und sieht traurig aus. Später, am Kaffee-Stand, kommt mir ein Gedicht von Heinz Erhardt in den Sinn – oder ist es von Eugen Roth?

Willst wissen du, was einer ist,
ob Opti- oder Pessimist,
so sag zu ihm, dass trüber Mut
doch besser sei als Übermut.
Er lehne ab, er pflichte bei –
du hast erfahren, was er sei.
 



 
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