Eine Geschichte

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Ich habe einen linken Schuh. Es ist ein guter linker Schuh. Schwarz, mit ziemlich viel Leder und einer grossen, fetten Lasche zwischen mir und dem Schnürsenkel. Die Sohle ist aus Hartgummi und am hinteren linken Eck schon ziemlich abgelaufen. Es sieht aus, als ob irgendjemand einen Tetraeder aus der Ferse herausgeschnitten hätte. Das stört mich aber nicht. Im Gegenteil: Ich freue mich darüber, dass mir das Wort ”Tetraeder” eingefallen ist. Ich musste nicht einmal wirklich nachdenken!
Ich ziehe den linken Schuh aus und schaue ihn mir genau an.
Hm...
Vielleicht sollte ich wirklich nach dem rechten Schuh suchen.
Heimdal hat heute morgen diesen Vorschlag gemacht.
”Warum?” habe ich gefragt.
”Warum nicht?” hat Heimdal zurückgefragt. Danach hat er den Hamster gespielt und nach einem Laufrad gesucht, glaube ich. Zumindest hat er ziemlich ausgiebig vor mir herumgeturnt. Wahrscheinlich dachte er, das würde mir seine Idee noch ein klein wenig näherbringen.
Es hat gewirkt.
Ich greife zum Telefon und wähle Heimdals Nummer. Er hat Lust, mir zu helfen. Wir verabreden uns für den Nachmittag.
Am Nachmittag dann sitze ich zuhause und warte auf Heimdal. Während ich versuche, Kaffee aus einer Tasche zu schlürfen donnert es plötzlich. Die Glasscheiben in meinen Fenstern zittern, mein Tisch zittert, ich zittere. Heimdal ist da. Er hat wie üblich darauf verzichtet zu klingeln. Ich habe dafür
Verständnis. Mit einer Fanfare auf dem eigenen Kleinbus würde ich auch nicht an der Haustür klingeln.
Ich gehe hinaus und schaue mir den Kleinbus an. Er sieht noch genau so aus, wie ich in Erinnerung habe: Völlig belanglos was Farben und alles andere angeht. Lediglich ein Horn prangt auf dem Dach über dem Fahrersitz. ’Giallar’ steht auf der Seite des Horns mit roter Farbe geschrieben.
”Wo hast Du den linken Schuh gefunden?” fragt Heimdal.
”Im Wald.” sage ich.
Wir fahren in den Wald.
”Ich geh’ nach links und Du nach rechts!” sagt Heimdal.
Er geht nach links und verschwindet recht bald im Unterholz. Ich gehe nach rechts und komme nicht so recht hinein ins Unterholz. Deswegen drehe ich um und warte an Heimdals Kleinbus.
Heimdal ist der kürzeste Wikinger, den ich kenne. Er hat
aber meines Wissens noch niemanden mit der Axt erschlagen oder vergewaltigt. Das macht ihn sympathisch, finde ich. Ausserdem ist er wie geschaffen dafür, im Unterholz
herumzustreunen und nach dem rechten Schuh zu suchen. Ich beneide ihn fast. Denn an Heimdal ist alles kurz. An mir ist nichts kurz. Ich kann nicht im Unterholz herumstreunen und nach dem rechten Schuh suchen. Ich kann dafür über Heimdals Kleinbus hinwegsehen. Auf der anderen Seite des Busses ist Wald.
Plötzlich höre ich jemanden einen recht ungeübten Mezzosopran in die Bäume hineinkreischen! Ich drehe mich um. Eine fette, grüne Raupe wackelt einen Zweig entlang. Sonst bewegt sich nichts. Dafür schreit schon wieder jemand.
”Oh, Bariton!” denke ich laut und beginne allmählich, mich auf die Szenerie vor mir zu konzentrieren.
Die Raupe hat schon fast das Ende des Zweiges erreicht. Die Schreierei hört jetzt gar nicht mehr auf. Ich halte mir die Ohren zu und kneife die Augen zusammen. Mein Nacken drückt den Schädel darüber langsam aber sicher nach vorne.
Während dies geschieht, wird es mit einem Mal doch wieder ruhig im Wald, und ich nehme die Hände von den Ohren. Ich höre ein schüchternes 'plop', als die Raupe auf die Erde klatscht. Der Zweig war kürzer als das arme Tier erwartet hatte.
Da! Ich erkenne einen Schatten zwischen den Sträuchern. Heimdal hat tasächlich den Weg wieder heraus gefunden.
Als er ins Freie tritt, hat er ein breites Grinsen im Gesicht.
”Hallo!” sagt er.
”Hallo.” sage ich auch.
Er hat etwas in den Händen, das er mir zeigt.
”Hier!” sagt er und streckt mir seine Arme entgegen.
Ich nehme die Schuhe an mich und schaue sie mir genau an.
Keiner der beiden ist schwarz, oder aus Leder, oder hat eine grosse, fette Lasche an irgendeiner Stelle. Ein Tetraeder fehlt auch nirgends.
”Nein, die gefallen mir nicht!” entscheide ich.
”Es sind aber immerhin zwei Schuhe!” meint Heimdal.
”Stimmt.” sage ich und lege die beiden Schuhe ins Gras am Wegesrand.
”Zwei gute Schuhe!” sagt Heimdal.
”Du kannst sie gerne haben!” biete ich ihm an.
Er lehnt freundlich aber bestimmt ab.
”Wo hast Du denn die Schuhe gefunden?” frage ich.
”Oh, frag’ lieber nicht!” sagt Heimdal.
Diesen Wunsch kann ich ihm nicht mehr erfüllen.
”Tut mir leid.” sage ich.
”Hm...” macht Heimdal. ”...da lagen vier Füsse in der Gegend ‘rum. Zwei davon hatten Schuhe dran.”
”Muss ulkig ausgesehen haben!” sage ich.
”Hat’s auch!” sagt Heimdal.
Dann steigen wir in seinen Kleinbus und fahren nach Hause.
 

axel

Mitglied
Hallo Alexander
Deine kleine Episode hat mir gut gefallen. Ich mag solche Absurditäten.
Mehr ist nicht zu sagen.
Schönen Gruß von Axel
 



 
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