Eine Geschichte ist eine Geschichte ist eine Geschichte

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Andrea

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Eine Geschichte ist eine Geschichte ist eine Geschichte.

Neulich fiel mir eine alte Geschichte von mir in die Hände. Sie war nicht besonders lang, und besonders gut ist sie wohl auch nicht. Aber als ich zu den letzten Zeilen kam, standen mir die Tränen in den Augen.

Die Figuren da auf dem Papier, das waren Freunde aus vergangenen Tagen. Sie winkten mir fröhlich zu, luden mich ein, sie doch einmal wieder zu besuchen, doch ich konnte es nicht. Eine dicke Wand aus Watte und Nichts stand zwischen uns, eine Wand, die ich weder sehen noch riechen, weder begreifen noch überwinden konnte. Sie standen auf der einen Seite und waren glücklich, und ich starrte sie neiderfüllt von der anderen Seite an und war – nun ja, als glücklich würde ich es jedenfalls nicht bezeichnen.

Betrübt ließ ich mich zu Boden sinken und den Kopf hängen. Ich erinnerte mich. Genauso hatte es sich einmal angefühlt, so warm und salzig, irgendwie heimelig und ein bißchen feucht. Erst als mir etwas in den Schoß tropfte, stellte ich verwundert fest, daß ich weinte.

Wütend knüllte ich das Papier zusammen und fuhr mit dem Arm über meine Augen. Vorbei ist vorbei, dachte ich, und dann, um die Sache zu bestätigen, sagte ich es laut vor mich hin: „Vorbei ist vorbei.“ Ich hatte das Schreiben schon vor langer Zeit aufgegeben, das unnütze Herumphantasieren, die Suche nach Personen, die es nie gegeben hatte und die niemals in mein Leben treten würden, das ständige Träumen und Kritzeln. Ich hatte es aufgegeben – oder vielleicht hatte es auch mich aufgegeben, wer konnte das schon sagen. Nun blieb mir nichts anderes als die Gewißheit, mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen und mein Leben in der Hand zu haben.

Hatte ich mein Leben in der Hand? Nachdenklich starrte ich auf den zusammengeknüllten Papierball. Verschmierte Tinte und aufgeweichte Fasern, die in einem weit zurückliegenden Leben mal ein großer Baum gewesen waren. Ein Baum, der von saurem Regen getötet worden war und von einem Holzfäller, der die Prostata schon spürte, ohne zu wissen, was ihn da unten so bedrückte. Er hatte auch wahrlich andere Sorgen: seine Frau hatte ihn nämlich nach vierzehn Jahren Ehe über Nacht verlassen, weil sie sich in einen Jüngeren verliebt hatte. Jünger als sie, wohlgemerkt. Ein Bursche, dessen Haare im Gesicht ebensogut Dreck wie ein Bart sein konnten, und der Fast Food für die beste Erfindung des letzten Jahrhunderts hielt. Dieser Bengel war kurz vor dem Abitur von der Schule geflogen und ein halbes Jahr durch Afrika gelaufen, und weil er bei seiner Rückkehr im Flughafen nicht aufgepaßt hatte und über einen Koffer gestolpert war, hatte er sich den Arm gebrochen, und die nette Dame, die ihn zum Arzt gebracht hatte, war die Gattin des Holzfällers gewesen, die am Flughafen eine alte Bekannte abholen wollte. Die alte Bekannte war aber nicht angekommen, weil sie in einem Zug festsaß, der irgendwo auf der Strecke steckengeblieben war, wegen eines Personenschadens oder weil irgendein Idiot seinen Koffer auf dem Bahnsteig vergessen hatte. Statt der alten Bekannten nahm die Frau des Holzfällers also den jungen Freund mit, und der Rest war Geschichte.

Geschichte – ich hielt meinen Blick immer noch starr auf das Papierknäuel gerichtet. Konnte diese Geschichte in den Fasern stecken? Vielleicht hatte der Holzfäller sich bei seiner Arbeit über das Schicksal beschwert, über die Liebe, die ohne Plan hinfiel, wo immer sie wollte, über seine treulose Ehefrau oder darüber, daß alte Bekannte nur dann pünktlich auftauchten, wenn man sie so ganz und gar nicht gebrauchen konnte, weil etwa gerade das Autorennen übertragen wurde. Oder man es eilig hatte, weil man sowieso spät dran war. Ob zu spät für den Bus, die Arbeit oder das Leben war dann unerheblich.

Auch die Tinte, an mehr als einer Stelle von jener salzigen Flüssigkeit zum Zerlaufen gebracht, die meine Augen ungewollt produziert hatten, schien mich anklagend anzustarren. Früher einmal waren ihre Linien mit Schnörkeln und Bögen verlaufen oder hatten ordentlich in einer Reihe gestanden; jetzt waren sie form- und haltlos geworden. Einer erinnerte mich an den Tintenfisch Herbert, der tief unten in der Souterrainwohnung eines Korallenriffs gewohnt hatte und ständig Ärger mit der vorwitzigen Familie Clownsfisch hatte. Die bekamen es einfach nicht geregelt, sich an die Hausordnung zu halten, und Herbert hatte sich immer so über die riesengroßen Schuhe im Hausflur und das Lachen zur Mittagsruhe und in den Nachtstunden geärgert, daß er ständig schwarze Wolken fabriziert hatte. Mit der Zeit hatte Herbert sich dann schwarz geärgert, und als er sich später auf der Korallenbank sonnte, fraß ihn ein Hai. Schwarze Tintenfische waren auf roten Riffen nämlich klar zu erkennen, selbst für Haifische, die ja bekanntlich halb blind sind. Weshalb sonst sollten sie bisweilen Surfbretter oder gar Surfer selbst anknabbern? Daß Menschen nicht nach Hühnchen, sondern nach Chemie und künstlichen Farbstoffen schmeckten, ein wenig wie Coca Cola Light, wußte doch nun beinahe jeder Meeresbewohner.

Ich strich den Papierbogen auf meinen Knien glatt, und als mein Finger dabei eher zufällig über den ersten Buchstaben strich, war mir, als berührte die Kuppe das A einer Computertastatur. Im Bildschirm spiegelte sich die Sonne, und eine fahrige Hand griff nach dem Gurt des Rouleaus. Dunkelheit schlich sich ruckartig ins Zimmer, und auf dem Bildschirm wurden die Buchstaben klarer. Es wurden ja auch immer mehr; in rasantem Tempo vermehrten sie sich schneller als die Karnickel, mutierten zu Wörtern und Sätzen und Absätzen und Texten. Das Fenster zeigte derweil in Spiegelschrift die Gestalt eines Menschen, der wie im Fieberwahn die Hände gleiten ließ, sich Haare aus der Stirn striff, die Maus bewegte, den schmerzenden Rücken durchdrückte und erst nach der Limonade griff, als der Hustenreiz zu groß wurde, um unterdrückt zu werden. Eine knappe Stunde später trieb die Limonade den Menschen zu einem stilleren Örtchen. Es war ein junger Mensch, der da in diesem seltsam beschleunigten Gang den Raum verließ, ein Gang zwischen Rennen und Balancieren, den nur Notgedrungene beherrschten. Wenn er zurückkam, würde er fortfahren, die Beschriftung von der Tastatur abzunutzen, und eines Tages, wenn das E und das N gar nicht mehr und das S, D und R nur noch mit Mühe zu entziffern waren, würde dieser Mensch sich fragen, woher er all die Ideen genommen hatte, die zu dieser Buchstabenleere geführt hatten. Nun brauchte er sie freilich nicht mehr. Ein geregeltes Gehalt, ein Mittelklassewagen und ein gleichbleibendes Gesicht beim Frühstück. Zweimal die Woche, jeden Dienstag und Samstag, der Griff in die Nachttischschublade; sicher ist sicher. Steigende Benzinpreise, steigende Steuerlasten, sinkende Laune. Harte Fakten aus der Morgenzeitung, belanglose Unterhaltung aus dem Abendfernsehen. Herz und Hirn waren zu beschäftigt mit dem Leben, um noch einmal Freigang zu bekommen. Da konnten Holzfäller und Tintenfische nicht mehr mithalten. Sie blieben zurück in der Leere.

Entschlossen erhob ich mich aus meiner trauernde Position. Von der Leere hatte ich genug, ich mußte sie mir nicht auch noch auf Papier betrachten. Jene Figuren, die mir dort zugewunken hatten, waren doch nur noch Gespenster einer Zeit, die niemals real gewesen war. Ich aber war erwachsen und glaubte schon lange nicht mehr an Gespenster. Als ich über dem Mülleimer stand, zögerte ich nur noch kurz. Und als ich am nächsten Morgen einen Schnellhefter kaufte, um endlich mal ein paar alte Blätter abzuheften, nahm ich auch gleich einen frischen Block und ein paar Tintenpatronen mit. Und ein Paket Taschentücher. Sicher ist sicher, und vorbei ist vorbei, aber wer konnte in dieser Welt schon wissen, wann etwas sicher vorbei war?
 

bookwriter

Mitglied
Hallo Andrea,

ich kann hier nur wenig sagen: Super!
Ich hatte vor einigen Jahren ein ähnliches Erlebnis mit meinen alten "Werken". Als ich deine Geschichte las, fühlte ich mich zurückversetzt in den alten Dachboden, wo ich einen zerknautschten Hefter von mir fand. Ich öffnete ihn und fand Geschichten - belanglose, unwichtige, aber für mich herzergreifende Geschichten.
Und ich reagierte genauso wie er/sie/du.

Ich danke dir, dass du mir die schöne Erinnerung an diesen Moment zurückgegeben hast.
Danke!

Jonny
 

Andrea

Mitglied
Hallo Rainer, hallo Jonny,

vielen Dank für euer Lob. Es scheint zu stimmen, daß man manchmal einen Schritt zurückmachen muß, um wieder vorwärts zu kommen.
Trotzdem habe ich immer noch das unbestimmte Gefühl, daß irgend etwas an der Geschichte nicht stimmt.. vielleicht erkennt es ja noch jemand.

Nochmals vielen Dank,

Andrea
 
H

Heidi Hof

Gast
Hallo Anrea,

Rainer hat recht,
das ist eine echte Kurzgeschichte
und zwar von der Spitzenqualität.

Liebe Grüße,
 

Andrea

Mitglied
Hallo Heidi,

viele Dank für dein Lob. Scheint so, als müßte ich mich langsam überzeugen lassen..

Gibt es denn auch unechte Kurzgeschichten? ;)

Gruß
Andrea
 



 
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