Eine Geschichte von zwei Menschen

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Mika

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Wie beginnt man eine Geschichte von zwei Menschen?
Vielleicht damit, zu erzählen, wer wir waren, woher wir kamen und was wir wollten, bevor alles begann. Aber ich vermag nicht zu sagen, warum die Dinge so geschehen sind, ich weiß nicht, welche Wege wir gehen und auch nicht, ob es Zufall war, dass wir uns begegnet sind.
Ich kann nur sagen, dass jetzt alles schon lange her ist und das Meiste nur noch als verschwommene Erinnerung tief in meinem Inneren existiert. Manchmal, wenn es sehr still ist und die Last des Tages von mir fällt, fügen sich die einzelnen Fragmente langsam wieder zu einem Bild zusammen und ich sehe dich genau vor mir, wie du in meiner Tür stehst: frierend, traurig und durchnässt. Das dunkle Haar klebte dir in Strähnen an der Stirn und kleine Regentropfen liefen über deine Nasenspitze. Du hast einfach nur so dagestanden und mich angesehen. Dann hast du gesagt, dir wäre mein Name am Klingelschild aufgefallen, weil er auf spiritueller Ebene eine ganz bestimmte Bedeutung hätte. Zunächst war ich verwirrt, doch dann hatte ich plötzlich das Gefühl, ich würde irgendetwas verpassen, wenn ich dich jetzt gehen ließe und bat dich in die Wohnung. Dich, einen völlig Fremden.

Was von den Gesprächen bei meinem allerersten Besuch bei dir geblieben ist, ist, dass wir über gute Filme redeten. Die fabelhafte Welt der Amelie, Dancer in the Dark, American Beauty und Lost in Translation. Ich hatte den Film nicht gesehen und fragte dich, warum du ihn so mögen würdest. "Es ist dieses voneinander Abschied nehmen, in dem Moment, in dem das Knistern am lautesten ist", hast du geflüstert. In diesem Augenblick war dein Gesicht ganz nah an meinem, so dass ich ganz deutlich die Wärme spürte, die dich damals umgeben hat, wie eine Mandorla den ans Kreuz genagelten Jesus. Und ich wusste, dass ich an diesem Abend nicht bleiben konnte.
Aber ich erinnere mich noch genau an den ersten Morgen, als ich neben dir erwacht bin: Du hast noch geschlafen und warst so schön. Draußen tobten Kriege, Gewalt und Tod, aber dein Atem war tief und ruhig und deine Lippen deuteten ein leises Lächeln an, so als wolltest du noch im Schlaf sagen: "Mach dir keine Sorgen, es wird immer alles gut!"
Alles was ich in diesem Augenblick wollte, war, mein Leben lang neben dir einzuschlafen und aufzuwachen.
Erst viel später bemerkte ich, wie deine zwei Zimmer eingerichtet waren. Eine merkwürdige Mischung aus Bauhausmöbeln und Kitsch: gerahmte Bilder von japanischen Papierfliegern an den Wänden, Fotos von der einheimischen Bevölkerung, ein originaler
M 35-Schreibtisch von Marcel Breuer und rechts am Fenster ein uraltes Grammophon.
Links daneben die Ecke mit deinen drei Bücherregalen. Mir fiel auf, dass sich kein einziges Buch darin befand. Stattdessen lagen stapelweise architektonische Entwürfe für ein philosophisches Zentrum und einige Modelle darauf. Einmal konnte ich dir dabei zusehen, als du an einem neuen Modell gearbeitet hast. Ich glaube, dieses Projekt war dir sehr wichtig, vielleicht war es das Wichtigste in deinem Leben. Du hast es nie direkt gesagt, aber der Blick in deinen Augen und die unbeschreibliche Sorgfalt, mit der du die vielen winzigen Einzelteile zu einem Ganzen zusammengefügt hast, haben es mir verraten...

Neulich habe ich das Tonband wiedergefunden, das du mal für mich aufgenommen hast. Deine Stimme klang seltsam fremd darauf und verursachte ein schmerzhaftes Ziehen in meinem Brustkorb. Ich blickte aus dem Fenster und die Gedanken an dich vermischten sich mit den letzten warmen Strahlen der Sonne und hinterließen in mir den bitteren Geschmack von Wehmut. Ein paar rote Blätter wehten von den Bäumen und tanzten noch für Sekunden in der Luft, bevor sie ganz auf den Boden fielen. Der Herbst kündigte sich an und nichts würde ihn aufhalten können. Unwillkürlich dachte ich an unseren letzten Sommer. Der Flieder im Park war gerade verblüht, unsere Räder lagen im Gras und wir daneben. Wir haben in den Himmel geschaut und den Wolken zugesehen, bis irgendwann die Nacht über uns hereinbrach mit ihren Abertausenden von Sternen.
Plötzlich hast du gesagt: "Ist dir schon mal aufgefallen, dass die Menschen seit Jahrhunderten am meisten über die Sterne sprechen... Über die Sterne und die Liebe." Und ich war unglaublich berührt. Es lag nicht an den Worten selbst, es war die Art und Weise wie du sie gesprochen hattest, so als bedeuteten sie etwas ganz besonderes.
Dann wolltest du wissen, woran ich glaube, wofür ich lebe und was für mich Liebe ist. Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. Nicht, weil ich mir nie Gedanken darüber gemacht hatte, sondern weil ich niemals die Sprache meines Herzens erklären konnte, denn für meine Liebe gibt es nur einen Beweis: das Gefühl, das ich in mir trage. Und dich zu lieben, bedeutete nicht nur ein starkes Gefühl, es war auch ein Urteil, ein Versprechen, eine Entscheidung: dir etwas von meinem Interesse zu geben, meinem Wissen, meiner Stärke und Schwäche, meiner Wut und Gutmütigkeit, meiner Freude und meiner Traurigkeit - von allem, was in mir lebendig ist.
Doch ich schwieg.

Heute bedaure ich, dir niemals gesagt zu haben, wie wichtig du mir warst. Ich habe so vieles erfahren durch dich, du hast so viele Spuren in meinem Leben hinterlassen und so viele Fragen in mir erweckt, die niemand mir beantworten kann, außer ich selbst. Aber auf eine werde ich wohl nie eine Antwort finden:

Warum musstest gerade du bei unserem Unfall sterben?​
 

jimmydean

Mitglied
hallo mika

ganz düstere Atmosphäre, die du da geschaffen hast. Alles sehr leis und drohend, es gleitet dahin und ist nicht aufzuhalten, weil man weiß oder ahnt, alles ist endgültig. Sehr schwer zu verdauen, darum sehr gut. Man kann dem nur entgehen, wenn man abricht zu lesen und das werden sicher viele tun, weil's weh tut, dieses Gefühl, das sich in einem beim Lesen ausbreitet. Ja, wie soll ich sagen, keine schöne Geschichte, aber eine sehr gute. Es wirkt so emotionslos erzählt, dass es nur so schreit vor emotionen. Und diese endgültigkeit hast du immer wieder sehr gut angedeutet.
ich hoffe du verstehst was ich meine. eine traurige geschichte ist nun mal traurig, aber auch die traurigkeit muss man rüberbringen, um sie darzustellen. und dir ist es gelungen - sehr gut sogar.

gruß
jimmydean
 



 
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