Eine Idee ist das Licht in der Finsternis

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wowa

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Eine Idee ist das Licht in der Finsternis



Der Wecker summte. Riplinger seufzte, drehte sich noch einmal um, schlug dann die Decke zurück und stand auf. Er war nackt, trank einen tiefen, durstigen Zug von seinem stark sprudelnden Spezialwasser und schaute aus dem Fenster. Ein heller Tag, die Sonne schien. Die Kohlensäure perlte auf bis unters Schädeldach und gut gelaunt nahm er frische Sachen aus dem Schrank und ging ins Bad.
Während des Rasierens prüfte er kritisch seinen professionellen Gesichtsausdruck: offen, aufmerksam, zugewandt. Der funktionierte, fand er, auch nach drei Wochen Sonne, Sand, Meer und lachenden, leicht bekleideten Menschen. Er verließ das Bad, trank die erste Tasse Kaffee und konzentrierte sich auf die kommende Sitzung.
Es blieb beim Versuch. Riplinger konnte sich nicht erinnern.
Gewiß, der erste Arbeitstag nach lustvoller Abwesenheit war berüchtigt, millionenfacher Fluch lastete auf ihm. Doch er liebte seine Arbeit, sie definierte ihn und sein Gedächtnis hatte ihn stets und besonders in beruflicher Hinsicht verläßlich und exakt bedient. Riplinger war irritiert.
Kopfschüttelnd klappte er den Laptop auf und da stand es: Arthur und Anna P., Paartherapie.
Er schloß die Augen und hörte ihre Stimmen, sah ihre Gesichter, roch ihre Körper, alles 3-D und in Farbe. Sein Gedächtnis lieferte wieder, immerhin. Er lehnte sich zurück, entspannte die Muskeln und ließ es fließen.
Der Urlaub war Flucht gewesen, Flucht vor diesen beiden Figuren, denen er seit drei Monaten gegenübersaß. Zweimal die Woche zwei Stunden. Gewöhnlich entwickelten die Klienten in der Intimität der Sitzungsathmosphäre relativ schnell ein diffuses Vertrauensverhältnis. Man weinte, schrie, lachte, machte Übertragungen, kurz, man lieferte Material, das, entsprechend aufbereitet, die Basis für die nächsten Zusammenkünfte bildete.
Mit den P.`s funktionierte das nicht.
Arthur, ein mittelgroßer dicker Mann mit schlohweißen Haaren, hatte beide Elternteile in frühem Kindesalter durch Suizid verloren. Nichts hatte für den Knaben auf die Katastrophe hingedeutet und es gab keinen Abschiedsbrief, der den elterlichen Verzweiflungsschritt in einen Zusammenhang hätte stellen können. Seither fragte Arthur „Warum?“ und niemand konnte ihm antworten. Auch Riplinger mußte hilflos mit den Schultern zucken, wenn Arthur die letzte Begegnung mit den Eltern schilderte und anschließend in ein lamentierendes Wehklagen ausbrach, warum sie ihn nicht mitgenommen haben, wo sie ihn doch sonst zu Lebzeiten immer überall hin mitnahmen. Riplinger wußte es nicht. Ein zweifellos ungewöhnlicher Fall.
Arthur war es gewohnt, auf seine Fragen betretenes Schweigen, allgemeine Kommentare oder schlimmstenfalls ein „Also ich kannte da mal einen...“ zu ernten. So verstummte er allmählich, auch weil er keine anderen Fragen hatte. Lediglich in Therapiesitzungen, die seine Frau organisierte, taute er anfangs auf und erzählte eloquent von seiner Tragik. Doch da auch hier die Antworten ausblieben bzw den bekannten allzusehr ähnelten, verfiel er bald wieder in brütendes Schweigen.
Anna P. war anders.
Eine großgewachsene, schlanke, aber keineswegs dünne Frau mit ernstem, intelligentem Gesicht, dessen Ausdruck manchmal, in Momenten tiefer Bewegung, jenen Schmerzkern erahnen ließ, um den ihr Wesen kreiste.
Riplinger diagnostizierte eine paranoide Zwangsneurose mittelschwerer Ausprägung.
Anna hatte eine Spinnenphobie, die ihr vorwiegend nachts zum Problem wurde. So trug sie unter ihrem Schlafanzug eine eng anliegende Hose, die zuverlässig die unteren Körperöffnungen verschloß. In die Ohren stopfte sie rutschfeste Spezialstopfen. Dem erstaunten Riplinger erzählte sie von einer alten arabischen Foltermethode: winzige Spinnen würden den Delinquenten in die Gehörgänge eingeführt. Die Tierchen besiedelten das Trommelfell, was zuverlässig den Wahnsinn der Opfer zur Folge hatte.
Kurz vor dem Schlaf setzte sie noch eine leichte Atemmaske auf Mund und Nase.
Trotz dieser Maßnahmen suchte sie mehrmals im Monat ein quälender Traum heim. Sie träumte, die Maske sei verrutscht und ein Tausendfüßler auf der Suche nach einem warmen Plätzchen nähme zielstrebig Kurs in ihren halbgeöffneten Mund. Dort schaue er sich ein wenig um und krabbele dann in die Speiseröhre. In dem Moment wacht sie schreiend auf, ihr Körper windet sich unter konvulsivischen Zuckungen, sie rennt ins Bad und kotzt ihren Mageninhalt ins Klo. Anschließend, ein wenig zur Ruhe gekommen, untersucht sie ihren Auswurf: kein Tausendfüßler.
Riplinger stand auf, schloß den Laptop und trat ans Fenster.
Anna, ein interessanter Fall, eine erregende Frau. Ihr kühl – kontrolliertes, mitunter ein wenig arrogantes Auftreten reizte ihn mehr als professionell erlaubt war. Da mußte er vorsichtig sein. Die Zunft war in dieser Hinsicht konservativ.
Doch die wenigen Momente, in denen es ihm gelang, ihren Panzer zu durchbrechen und sie diese Nähe zuließ, gehörten zum intensivsten, was er je erlebt hatte. Klar blieb er distanziert, schon aus beruflicher Routine. Zudem saß Arthur ja auch noch da.
Nach diesen Sitzungen war er fix und fertig, verwirrt, an Arbeit war nicht mehr zu denken. Er sagte alle Termine ab und betrank sich den Rest des Tages. Glücklicherweise ließ sie ihn nur selten tiefer in ihr Inneres blicken, vorhersehbar waren derartige Situationen allerdings nicht.
Die therapeutisch – analytische Fassade unter diesen Umständen konsequent aufrechtzuerhalten, kostete extrem Energie. Genau deshalb hatte er den Urlaub gebraucht und die ganze Geschichte erfolgreich verdrängt.
In ein paar Stunden saß er den beiden wieder gegenüber.
Sicher war er stärker als noch vor ein paar Wochen, die Auszeit hatte ihm gutgetan. Ebenso sicher würde er bald wieder in den Seilen hängen, wenn er sich weiterhin ausschließlich darauf konzentrierte, seine wuchernde erotische Phantasie unter Kontrolle zu halten. Es mußte etwas geschehen, er mußte etwas tun.
Riplinger starrte aus dem Fenster und massierte seine Nasenwurzel.
„Arthur!“ - Arthur störte. Er war offensichtlich therapieresistent, jedenfalls durch Worte nicht mehr erreichbar. Sein beharrliches, verstocktes Schweigen wirkte belastend, feindselig, er blieb ein Fremdkörper, irgendwie desplaziert, überflüssig.
„Arthur muß weg! Arthur kommt ins Heim!“
Da war sie, die Idee! Riplinger fixierte kurz den Buddha auf dem Buchregal, dann rannte er wie elektrisiert im Zimmer auf und ab.
Ein alter Freund aus Studententagen hatte vor kurzem ganz in der Nähe eine geschlossene Abteilung übernommen. Dieser Kollege, ein erfahrener Kliniker, war in Fachkreisen bekannt für seine sorgfältig dokumentierten LSD – Sitzungen. Die Probanden lieferten unter dem kontrollierten Einfluß der Droge eine Fülle an Material und im Einzelfall waren die Erfolge unbestreitbar erstaunlich. Die Zunft betrachtete diese Therapieform eher skeptisch bis ablehnend, sie war, wie gesagt, äußerst konservativ.
Aber für Arthur war es der Silberstreifen am Horizont, da war sich Riplinger sicher. Der Mann mußte mal auf andere Gedanken kommen und es waren seine eigenen, die da zum Vorschein kamen. Nichts, was ihm von außen aufgenötigt wurde. Eine Expedition in die faszinierende Vielschichtigkeit der eigenen Psyche. Neue Horizonte, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden!
Nebenbei: Der Kollege nahm niemand auf unter drei Monaten mit der Option auf Verlängerung, kassenfinanziert.
Riplinger hatte sich gefaßt, stand wieder am Fenster, schaute entspannt auf das satte Grün des Gartens, nickte und sagte halblaut „Ja, so könnte es gehen. Und Anna bekommt Einzeltherapie!“
Er rieb sich die Hände und befeuchtete lächelnd die wulstigen Lippen.
Es wurde Zeit. Er trank noch einen tiefen Schluck von seinem stark sprudelnden Spezialwasser, fühlte die Kohlensäure aufperlen, holte das Rennrad aus der Garage und fuhr gut gelaunt und mit leichtem Rückenwind die zehn Kilometer zum Therapiezentrum. Unterwegs, wie aus dem Nichts und völlig unvermittelt, fiel ihm ein Werbeliedchen aus seiner Kindheit ein und die ganze Fahrt über schrie er es laut in den sonnigen Tag:
„Ich träum` von 1000 Ringelsöckchen
in bunten Farben von ERGEE
die passen gut zu meinem kurzen Röckchen
und meinen Sommerschuhen
weiß wie Schnee ...“

Im Therapiezentrum empfing man ihn mit großem Hallo, alle lobten sein gebräuntes, erholtes Aussehen, fragten, wie es gewesen war, die übliche herzliche Kollegenbegrüßung nach längerer Abwesenheit. Riplinger war beliebt.
Irgendwann nahm ihn Baby, die Sekretärin, beiseite „Du, Riplinger, die P.`s haben abgesagt, sie kommen nicht mehr. Also nie mehr.“ - „Was?!“
„Ja, grad vorhin. Ich wollte dich noch telefonisch erreichen, aber du warst wohl schon unterwegs und bist auch nicht ans Handy gegangen. Sie haben keinen Bock mehr auf dich, meint Frau P.“
„Und sonst?“ - Riplinger war das alles zu viel.
„Niiix,“- Baby war Wienerin, „dein Geld bekommst du natürlich trotzdem, dafür war die Absage zu kurzfristig.“
Ach, Scheiß auf das Geld, er hatte es gewußt. Alles lief so gut, da mußte noch was kommen. Er hätte es vorsichtiger angehen sollen. Auf diesem Tag lag ein millionenfacher Fluch.
 
U

USch

Gast
Hallo wowa,
so einen Text kann nur einer vom Fach schreiben. Alles gut nachzuvollziehen. Die Sünde, auf eine Klientin abzufahren, ging ja letzendlich in die Hose. Gut so, sonst hätte der Therapeut Probleme bekommen.
Sauber geschrieben.
Zwei Kleinigkeiten:
In die Ohren [red]stopfte [/red]sie rutschfeste Spezialstopfen.
vielleicht lieber [blue]drückte [/blue]er...Wegen der Doppelung.

Sein beharrliches, verstocktes Schweigen wirkte belastend, feindselig, er blieb ein Fremdkörper, irgendwie [red]desplaziert[/red], überflüssig.
[blue]deplaziert[/blue]

Den Titel finde ich etwas sperrig. Er zieht mich nicht so hinein in den Text.

LG USch
 

wowa

Mitglied
Eine Idee ist das Licht in der Finsternis



Der Wecker summte. Riplinger seufzte, drehte sich noch einmal um, schlug dann die Decke zurück und stand auf. Er war nackt, trank einen tiefen, durstigen Zug von seinem stark sprudelnden Spezialwasser und schaute aus dem Fenster. Ein heller Tag, die Sonne schien. Die Kohlensäure perlte auf bis unters Schädeldach und gut gelaunt nahm er frische Sachen aus dem Schrank und ging ins Bad.
Während des Rasierens prüfte er kritisch seinen professionellen Gesichtsausdruck: offen, aufmerksam, zugewandt. Der funktionierte, fand er, auch nach drei Wochen Sonne, Sand, Meer und lachenden, leicht bekleideten Menschen. Er verließ das Bad, trank die erste Tasse Kaffee und konzentrierte sich auf die kommende Sitzung.
Es blieb beim Versuch. Riplinger konnte sich nicht erinnern.
Gewiß, der erste Arbeitstag nach lustvoller Abwesenheit war berüchtigt, millionenfacher Fluch lastete auf ihm. Doch er liebte seine Arbeit, sie definierte ihn und sein Gedächtnis hatte ihn stets und besonders in beruflicher Hinsicht verläßlich und exakt bedient. Riplinger war irritiert.
Kopfschüttelnd klappte er den Laptop auf und da stand es: Arthur und Anna P., Paartherapie.
Er schloß die Augen und hörte ihre Stimmen, sah ihre Gesichter, roch ihre Körper, alles 3-D und in Farbe. Sein Gedächtnis lieferte wieder, immerhin. Er lehnte sich zurück, entspannte die Muskeln und ließ es fließen.
Der Urlaub war Flucht gewesen, Flucht vor diesen beiden Figuren, denen er seit drei Monaten gegenübersaß. Zweimal die Woche zwei Stunden. Gewöhnlich entwickelten die Klienten in der Intimität der Sitzungsathmosphäre relativ schnell ein diffuses Vertrauensverhältnis. Man weinte, schrie, lachte, machte Übertragungen, kurz, man lieferte Material, das, entsprechend aufbereitet, die Basis für die nächsten Zusammenkünfte bildete.
Mit den P.`s funktionierte das nicht.
Arthur, ein mittelgroßer dicker Mann mit schlohweißen Haaren, hatte beide Elternteile in frühem Kindesalter durch Suizid verloren. Nichts hatte für den Knaben auf die Katastrophe hingedeutet und es gab keinen Abschiedsbrief, der den elterlichen Verzweiflungsschritt in einen Zusammenhang hätte stellen können. Seither fragte Arthur „Warum?“ und niemand konnte ihm antworten. Auch Riplinger mußte hilflos mit den Schultern zucken, wenn Arthur die letzte Begegnung mit den Eltern schilderte und anschließend in ein lamentierendes Wehklagen ausbrach, warum sie ihn nicht mitgenommen haben, wo sie ihn doch sonst zu Lebzeiten immer überall hin mitnahmen. Riplinger wußte es nicht. Ein zweifellos ungewöhnlicher Fall.
Arthur war es gewohnt, auf seine Fragen betretenes Schweigen, allgemeine Kommentare oder schlimmstenfalls ein „Also ich kannte da mal einen...“ zu ernten. So verstummte er allmählich, auch weil er keine anderen Fragen hatte. Lediglich in Therapiesitzungen, die seine Frau organisierte, taute er anfangs auf und erzählte eloquent von seiner Tragik. Doch da auch hier die Antworten ausblieben bzw den bekannten allzusehr ähnelten, verfiel er bald wieder in brütendes Schweigen.
Anna P. war anders.
Eine großgewachsene, schlanke, aber keineswegs dünne Frau mit ernstem, intelligentem Gesicht, dessen Ausdruck manchmal, in Momenten tiefer Bewegung, jenen Schmerzkern erahnen ließ, um den ihr Wesen kreiste.
Riplinger diagnostizierte eine paranoide Zwangsneurose mittelschwerer Ausprägung.
Anna hatte eine Spinnenphobie, die ihr vorwiegend nachts zum Problem wurde. So trug sie unter ihrem Schlafanzug eine eng anliegende Hose, die zuverlässig die unteren Körperöffnungen verschloß. In die Ohren presste sie rutschfeste Spezialstopfen. Dem erstaunten Riplinger erzählte sie von einer alten arabischen Foltermethode: winzige Spinnen würden den Delinquenten in die Gehörgänge eingeführt. Die Tierchen besiedelten das Trommelfell, was zuverlässig den Wahnsinn der Opfer zur Folge hatte.
Kurz vor dem Schlaf setzte sie noch eine leichte Atemmaske auf Mund und Nase.
Trotz dieser Maßnahmen suchte sie mehrmals im Monat ein quälender Traum heim. Sie träumte, die Maske sei verrutscht und ein Tausendfüßler auf der Suche nach einem warmen Plätzchen nähme zielstrebig Kurs in ihren halbgeöffneten Mund. Dort schaue er sich ein wenig um und krabbele dann in die Speiseröhre. In dem Moment wacht sie schreiend auf, ihr Körper windet sich unter konvulsivischen Zuckungen, sie rennt ins Bad und kotzt ihren Mageninhalt ins Klo. Anschließend, ein wenig zur Ruhe gekommen, untersucht sie ihren Auswurf: kein Tausendfüßler.
Riplinger stand auf, schloß den Laptop und trat ans Fenster.
Anna, ein interessanter Fall, eine erregende Frau. Ihr kühl – kontrolliertes, mitunter ein wenig arrogantes Auftreten reizte ihn mehr als professionell erlaubt war. Da mußte er vorsichtig sein. Die Zunft war in dieser Hinsicht konservativ.
Doch die wenigen Momente, in denen es ihm gelang, ihren Panzer zu durchbrechen und sie diese Nähe zuließ, gehörten zum intensivsten, was er je erlebt hatte. Klar blieb er distanziert, schon aus beruflicher Routine. Zudem saß Arthur ja auch noch da.
Nach diesen Sitzungen war er fix und fertig, verwirrt, an Arbeit war nicht mehr zu denken. Er sagte alle Termine ab und betrank sich den Rest des Tages. Glücklicherweise ließ sie ihn nur selten tiefer in ihr Inneres blicken, vorhersehbar waren derartige Situationen allerdings nicht.
Die therapeutisch – analytische Fassade unter diesen Umständen konsequent aufrechtzuerhalten, kostete extrem Energie. Genau deshalb hatte er den Urlaub gebraucht und die ganze Geschichte erfolgreich verdrängt.
In ein paar Stunden saß er den beiden wieder gegenüber.
Sicher war er stärker als noch vor ein paar Wochen, die Auszeit hatte ihm gutgetan. Ebenso sicher würde er bald wieder in den Seilen hängen, wenn er sich weiterhin ausschließlich darauf konzentrierte, seine wuchernde erotische Phantasie unter Kontrolle zu halten. Es mußte etwas geschehen, er mußte etwas tun.
Riplinger starrte aus dem Fenster und massierte seine Nasenwurzel.
„Arthur!“ - Arthur störte. Er war offensichtlich therapieresistent, jedenfalls durch Worte nicht mehr erreichbar. Sein beharrliches, verstocktes Schweigen wirkte belastend, feindselig, er blieb ein Fremdkörper, irgendwie deplaziert, überflüssig.
„Arthur muß weg! Arthur kommt ins Heim!“
Da war sie, die Idee! Riplinger fixierte kurz den Buddha auf dem Buchregal, dann rannte er wie elektrisiert im Zimmer auf und ab.
Ein alter Freund aus Studententagen hatte vor kurzem ganz in der Nähe eine geschlossene Abteilung übernommen. Dieser Kollege, ein erfahrener Kliniker, war in Fachkreisen bekannt für seine sorgfältig dokumentierten LSD – Sitzungen. Die Probanden lieferten unter dem kontrollierten Einfluß der Droge eine Fülle an Material und im Einzelfall waren die Erfolge unbestreitbar erstaunlich. Die Zunft betrachtete diese Therapieform eher skeptisch bis ablehnend, sie war, wie gesagt, äußerst konservativ.
Aber für Arthur war es der Silberstreifen am Horizont, da war sich Riplinger sicher. Der Mann mußte mal auf andere Gedanken kommen und es waren seine eigenen, die da zum Vorschein kamen. Nichts, was ihm von außen aufgenötigt wurde. Eine Expedition in die faszinierende Vielschichtigkeit der eigenen Psyche. Neue Horizonte, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden!
Nebenbei: Der Kollege nahm niemand auf unter drei Monaten mit der Option auf Verlängerung, kassenfinanziert.
Riplinger hatte sich gefaßt, stand wieder am Fenster, schaute entspannt auf das satte Grün des Gartens, nickte und sagte halblaut „Ja, so könnte es gehen. Und Anna bekommt Einzeltherapie!“
Er rieb sich die Hände und befeuchtete lächelnd die wulstigen Lippen.
Es wurde Zeit. Er trank noch einen tiefen Schluck von seinem stark sprudelnden Spezialwasser, fühlte die Kohlensäure aufperlen, holte das Rennrad aus der Garage und fuhr gut gelaunt und mit leichtem Rückenwind die zehn Kilometer zum Therapiezentrum. Unterwegs, wie aus dem Nichts und völlig unvermittelt, fiel ihm ein Werbeliedchen aus seiner Kindheit ein und die ganze Fahrt über schrie er es laut in den sonnigen Tag:
„Ich träum` von 1000 Ringelsöckchen
in bunten Farben von ERGEE
die passen gut zu meinem kurzen Röckchen
und meinen Sommerschuhen
weiß wie Schnee ...“

Im Therapiezentrum empfing man ihn mit großem Hallo, alle lobten sein gebräuntes, erholtes Aussehen, fragten, wie es gewesen war, die übliche herzliche Kollegenbegrüßung nach längerer Abwesenheit. Riplinger war beliebt.
Irgendwann nahm ihn Baby, die Sekretärin, beiseite „Du, Riplinger, die P.`s haben abgesagt, sie kommen nicht mehr. Also nie mehr.“ - „Was?!“
„Ja, grad vorhin. Ich wollte dich noch telefonisch erreichen, aber du warst wohl schon unterwegs und bist auch nicht ans Handy gegangen. Sie haben keinen Bock mehr auf dich, meint Frau P.“
„Und sonst?“ - Riplinger war das alles zu viel.
„Niiix,“- Baby war Wienerin, „dein Geld bekommst du natürlich trotzdem, dafür war die Absage zu kurzfristig.“
Ach, Scheiß auf das Geld, er hatte es gewußt. Alles lief so gut, da mußte noch was kommen. Er hätte es vorsichtiger angehen sollen. Auf diesem Tag lag ein millionenfacher Fluch.
 



 
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