Eine Krähe hackt der anderen...

Eine Krähe hackt der anderen...
Er verfuhr sich jedes mal und es lag nicht daran, dass er die Strecke nicht kannte. Nein, es lag eher daran, dass er in seiner Vorfreude jegliches Vernunftdenken, also auch den Orientierungssinn ausschaltete, sich ganz einer Marotte widmete, die man mit Fug und Recht als seltsam bezeichnen konnte.
Kralle hatte diebische Freude, sich bei langen Autofahrten und anderen langweiligen Beschäftigungen, wie Grillfesten und Familienzusammenkünften, missverständliche Überschriften für fiktive Zeitungsartikel auszudenken.
Auf Abwege hatte ihn diesmal - ein Deutscher kommt nicht immer aus Deutschland, wenn er nach Kloten will - gebracht.
Kralle hatte eine knallharte Woche hinter sich und wollte auf dem Rückweg, in Zürich, ein Schmankerl ganz besonderer Art probieren. Auf dem Flughafen Kloten gab es die leckeren Champagner-Trüffel-Pralinen in grüner Schachtel, mit goldgelber Schleife drapiert, zu kaufen.
Inspiriert wurde er durch seinen eindeutigen Punktsieg über den ungekrönten Meister der persönlichen Inszenierung. Er war mehr als Stolz, sich auf diese elegante Weise aus den Klauen seines italienischen Freundes befreit zu haben. Es gehörte nämlich zum schwierigsten überhaupt, sich gegen solche Profis zu behaupten, geschweige denn, einen klaren Sieg davon zu tragen. Jeder weiß doch, wie leicht man bei einem Konter in eine Konterattacke laufen kann.
Artiglio war sicher ein Fachmann auf diesem Gebiet, aber dass er, immer wenn er aus alter Verbundenheit bei ihm übernachtete, versuchte ihn, Kralle, auch noch auf seinem Terrain aufs Glatteis zu führen, grenzte entweder an Blasphemie oder es war pure Verzweiflung.
Jedes Mal beim Cappuccino in der Bar versuchte er es.
Artiglio war ausgewiesener Praktiker und ein Herz-Ass, wenn es um ganz konkrete Umsetzungen von Ideen ging. Sein determiniertes Stigma aber war, dass er Kralle in der Antizipation großer Würfe, kein Bein stellen konnte.
Mit anschleichen hatte es die letzten Male nicht geklappt und so rechnete Kralle mit einem Sturmangriff.
Um keine direkte Angriffsfläche zu bieten, schnappte er sich die Gazetta, drehte sich ein wenig ab und blinzelte über die Zeitung auf die wenig belebte Piazza hinüber. Doch auch Artiglio wusste um seine Stärken und er kannte vor allem Kralles große Schwächen. Eine war seine Ungeduld. Und das die Deutschen ein sehr arbeitsames Völkchen sind, die Italiener im Gegensatz dazu, geradezu stolz darauf, es mit "dem süßen Leben" weitergebracht zu haben, und dass die Deutschen per se punktgenau funktionieren, war ein Pfund, mit dem es sich trefflich wuchern lies.
Das sind Trümpfe, die er so lange im Ärmel behalten wollte, bis er sich seiner Sache ganz sicher war. Seinem Widersacher und Kontrahenten den finalen Todesstoß mit der schärfsten Klinge zu versetzen, die man gegen die Deutschen hatte, war ein Hochgenuss, auf den er nur ungern verzichten wollte.
Aber auch Kralle war nicht unbeleckt in die Auseinandersetzung gegangen. Er hatte sich schon Wochen vorher darauf vorbereitet, denn es galt nicht nur die Nation als Ganzes zu verteidigen, sondern persönliche Eitelkeiten spielten eine genauso große Rolle. Sein Plan war einfach und tückisch und hätte selbst einem Machiavelli gut zu Gesicht gestanden.
Keiner von beiden konnte auf grobe Fehler hoffen, zu oft hatten sie die ganze Breite der Klaviatur höchst brillant gespielt. Antäuschen und auspendeln, dass waren die gängigen Anfangsversuche den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen. Routiniert wurde jede noch so kleine Blöße kaschiert und vom Gegenspieler notiert. Die ersten perfiden Fußangeln wurden ausgelegt, zuerst noch mit durchhängender Sicherheitsschnur. Sprachwitz mit überlegener Gestik pariert. Trockener Humor mit beißender Ironie blockiert.
Plötzlich und ganz unerwartet hatte der Hai nach dem Bissen geschnappt. War das ein erstes Zeichen von Schwäche oder gehörte es zur Strategie?
Zotige Unzulänglichkeiten folgten und sollten den Anderen einschläfern, zumindest unvorsichtig werden lassen. Brutal hinaus geschleuderte persönliche Beleidigungen gehörten genauso zum Ritual, wie Zähnefletschen und ordinäres, öffentliches furzen. Dann, ohne erkennbare Vorwahrung, zog Kralle die Sicherheitsschnur stramm. Jetzt nur nicht den Sicheren spielen. Vielleicht selbst Fehler riskieren, die Eingeständnisse versprechen, um Neugier zu wecken?
Artiglio hatte zugebissen. Das war ein eindeutiges Indiz, dass er heute nicht gerade seinen besten Tag hatte.
Kralle hatte ihn bei seinem Lieblingsthema - Arbeitswut der Deutschen - tatsächlich einlullen können. Wie unvorsichtig. Jetzt hieß es nur noch, in vorsichtigen Dosen ein wenig Honig ums Maul schmieren, und wenn er den Kopf streckte, gnadenlos, ohne Warnung, zuzuschlagen.
Kralle war ein wenig beleidigt, dass das Spiel schon so früh zu Ende sein sollte, denn er liebte die faire, harte Auseinandersetzung. Wenn es aber drauf ankam, hatte er den Instinkt eines Killers. Aber im Grunde seines Herzens wollte er gar nicht plump reißen, sondern, wie eine Katze, dem Tod spielerisch ins Auge blicken.
Artiglio beugte sich weit über den Stuhl zurück, fing an zu lächeln und quiekte, wie ein Ferkel in schrillem Ton: "Das ist ja unglaublich, letztens habe ich doch gelesen, dass eure Gewerkschaften sogar das Recht auf Arbeit einfordern. - Soweit müsste es bei uns mal kommen, dass einer sagt, unserer Staat sei durch Arbeit legitimiert." Auf diesen einzigen Satz, in Varianten hatte er ihn schon angedeutet, kam es Kralle an, darauf hatte er lange gewartet.
"Und genau das steht als Grundsatz in eurer Verfassung", bricht es übermächtig aus Kralle heraus. "In eurer Verfassung steht wörtlich: "L´ Italia è una Repubblica basata sul lavoro", was soviel heißt wie: "Italien ist eine Republik, die auf Arbeit gegründet ist."








(Übernommen aus der 'Alten Leselupe'.
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