2009.
Mitten im September, ein 50. Geburtstag.
Bolles Partyservice hatte das Essen gebracht – irgendwo in Berlin. Viele der Gäste hatte ich lange nicht gesehen, es wurde ein Wiedersehen mit verhaltener Freude. Meine Mutter saß viel kleiner als sonst am Tisch. Vater war nicht gekommen, das erste Mal. Zu groß sei die Belastung, zu weit der Weg. Eine seiner jüngeren Schwestern jedoch saß quietschfidel und vergnügt zwischen all den anderen und lauschte dem Leben.
Das Buffet wurde eröffnet, alsbald stand die Tante bewaffnet mit einem Teller inmitten der Schlacht – mit bescheidenem Erfolg. Zumindest entsprach das angehäufte Sammelsurium auf ihrem Teller nicht gerade meinem Geschmack. Mit Sicherheit hätte ich das alles schon vergessen, wenn nicht zum Dessert gerufen worden wäre. Es gab die feinsten Sachen – sogar Kirschkompott mit Vanillepudding.
Meine Tante jedoch traf eine andere Wahl: glücklich und selig saß sie am Tisch, vor ihr ein weißer Teller, darauf nichts weiter als eine heiße Pellkartoffel. Zum Dessert? Zum Dessert! Als ob nichts ihr besser munden könnte, als diese heiße Pellkartoffel. Noch einmal und noch einmal holte sie sich nach. Irgendwo schien es ein Kartoffelnest zu geben, ein vergessenes. Mir fiel jene Geschichte ein, die Vater mir vor einiger Zeit erzählte.
1946
Am letzten Tag im Februar.
Müde hing der Hungermond über dem Horizont und schnitt mit seiner schmalen Sichel erbarmungslos durch das heraufziehende Wolkenband. „Schnee wird’s geben“, murmelte Helene und trat dabei mit festem Schritt aus dem Haus. „Schnee, nichts als Schnee überall! Hört denn dieser verfluchte Winter nie auf?“ Sie nahm das Fahrrad mit den dreimal geflickten Reifen, das ihr Größter für sie bereithielt. Eine schmale Schneise hatte er durch den Schnee schon zur Straße gepflügt. Sie strich ihm über den Kopf und sagte: „Pass auf die anderen auf! Du bist jetzt hier der Mann im Haus!“
„Bringst du etwas zu essen mit?“, rief der Junge ihr nach.
„Bestimmt, ganz bestimmt sogar“, antwortete Helene,und schaute noch einmal zurück auf das allein stehende Gebäude, auf den schon fast verblichenen Schriftzug: Gasthaus zum heiteren Blick und den Jungen davor, der in viel zu großen Hosen steckte.
„Und wenn Heinzel schreit?“
„Dann lass ihn an deinem Finger lutschen, vielleicht beruhigt ihn das ja …“
Die halbe Nacht hatte der Wind über den Batzenberg geheult und frischen Pulverschnee vor sich hergetrieben. Helene hatte nicht geschlafen, auch dann nicht, als es endlich still draußen war. Wie auch? War der Wind nicht zu hören, drang das Wimmern der schlafenden Kinder zu ihr. Sie alle schliefen in diesem einen Zimmer, dem alten Gastraum, des schon vor Jahren geschlossenen Lokals.
Der war ihnen zugeteilt worden; noch nicht einmal ein Jahr war das her, als die Flucht sie nach Sachsen gespült hatte, in dieses winzige Dorf Ottewig. In diesem Raum kochten sie, holten dazu Kannenweise das Wasser aus dem Dorf. Sie mussten sich in den großen Schüsseln waschen, in denen sie auch die Wäsche wuschen. Und sie alle hatten Hunger, nichts als Hunger. Er war der ständige Begleiter, er stand morgens mit ihnen auf und ließ sich nicht vertreiben, durch nichts. Am Abend erledigten die Mädchen bei Kerzenlicht ihre Hausaufgaben, Petroleum oder gar Strom gab es nicht. Dann das Nachtgebet, wieder ein Tag geschafft, ab ins Bett mit euch Kindern, da ist es wenigstens warm.
Neben Helene blieb es kalt. Zwanzig, zählte sie in Gedanken als sie an diesen Morgen aufstand. Zwanzig Tage nun schon ohne meinen Emil; jeder einzelne ein verfluchter, ein quälender, ein Trauertag. Hat sich mit seinem verdammten Husten einfach auf und davon gemacht. Einfach so gestorben, einfach so! Und ich sitze nun hier mit den sieben Kindern allein in der Fremde und weiß nicht, von was wir leben sollen. Geschweige denn was wir heute essen werden.
Helene dachte an Emils Beerdigung, an die frostharte Erde, an den dunkelgrauen Himmel an diesem Tag. Auch daran, dass sie alle gekommen waren, alle die zum Plösch gehörten und seinem Treck aus Krawan. Und alle hatten Hilfe versprochen: „Frau Zemelka, wenn Sie wirklich einmal in Not sind, wir helfen Ihnen. Versprochen!“
Wie groß sollte die Not noch werden? Es war Monatsende, die Brotmarken schon lange aufgebraucht. Kein Gramm Mehl mehr im Haus, keine einzige Kartoffel. Es war nichts da, einfach nichts! Jedenfalls nichts was man hätte essen können. In der Nacht hatte Helene beschlossen Hilfe anzunehmen, jede die sie bekommen konnte. Auf den Weg würde sie sich machen, zuerst nach Ebersbach, zur schlauen Frau Busta. Zwei Stunden Fußmarsch also. Man erzählte sich, dass es bei ihr immer irgendetwas zu Essen gab. Nachdem woher fragte niemand.
Im Herbst hatte Emil den Kindern verboten Kartoffeln zu stoppeln. „Das ist nicht unser Land, also sind es auch nicht unsere Kartoffeln“, hatte er gesagt und auf das „Aber, wir wollten doch nur…!“ der Jungs mit dem ‚Gott mit uns’-Riemen gedroht. Vorbei, dachte Helene und eine heiße Träne rann ihr über die kalte Wange. Doch die Kinder brauchen etwas zu Essen. Die Busta muss mir etwas geben, wenigsten einen kleinen Sack voll. Sie muss einfach!
Helene stapfte durch den Schnee und schob das alte Herrenrad neben sich her. Es war das gleiche, auf dem Emil ihr das Radfahren beigebracht hatte. Damals, im Mai 1933 kam er mit dem Ding aus Radibor zurück, und sie hörte noch seine Stimme, wie sie voller Stolz einen billigen Werbespruch nachplapperte: „Ich fahre Diamant, denn Diamant ist weltbekannt!“ Später durfte Helene sich auf die Querstange setzen und Emil fuhr sie auf und ab durch die blühende Kirschallee des Grafen. Dafür hat sie ihn geliebt und in den Kirschblüten wird sie ihn wieder finden, in jedem Frühjahr neu.
Inzwischen lag das Muldental mit den qualmenden Schornsteinen von Döbeln vor ihr. Hier war der Wind nicht so scharf, waren die Straßen nicht vereist. Also aufsitzen und den Oschatzer Berg hinab rollen, weiter über die Oberbrücke, vorbei an der großen Nikolaikirche und dann wieder den Berg hinauf zum Ostbahnhof. Jetzt noch durch die Roßweiner Anlagen, einem kleinen Wäldchen, das sich entlang der Mulde zieht. Endlich war Ebersbach erreicht.
Mit klopfendem Herzen stand Helene vor der Haustür, las sich das Namensschild laut vor, als ob man davon mutiger werden würde. Sie zog ihre Fäustlinge aus und klingelte. Niemand öffnete. Noch einmal. Nichts geschah. „Das gibt es doch nicht!“, rief Helene und pochte jetzt mit der Faust an die Haustür. In der zweiten Etage öffnete sich ein Fenster:
„Isn los?“, rief eine fremde Frau.
„Guten Tag, mein Name ist Helene Zemelka. Ich möchte zu Frau Busta.“
„S globsch ni, dass se da is. Die wird uff Oarbeet sinn.“
„Wo?“
„Nu woodn schonn, nu uffm Guud, ei verbibschd nochema!“
Das Fenster schloss sich wieder, Helene stand verloren und allein auf dem schmalen Weg und spürte, wie die Kälte an ihr hoch kroch. Beten, dachte sie, jetzt hilft nur noch beten. Und als sie es dachte, als sie Finger zählend den Rosenkranz zu beten begann, traute sie ihren Augen nicht: Da kam auf einmal wirklich die schlaue Frau Busta den Weg herauf. Ja, die Schläue stand ihr im Gesicht geschrieben, doch zum Glück war sie auch etwas zerstreut, wie es bei solchen Menschen manchmal so ist. Etwas Wichtiges hätte sie vergessen, erklärte sie der staunenden Helene, nur deshalb sei sie zurückgekommen.
„Frau Busta, ich brauche ihre Hilfe!“
„Nämlich?“
„Wir haben nichts mehr zu Essen, die Kinder weinen vor Hunger, der kleine Heinrich Paul ist schon so schwach, dass er kaum noch schreit.“
„Was haben Sie auch so viele Kinder. Die fressen Ihnen noch die Haare vom Kopf, sie werden schon sehen…“
Helene überhörte diese Gemeinheit und fragte: „Und? Werden sie mir helfen?“
„Ihren Kindern helfe ich, ihren Kindern“, raunzte sie. „Hab meine Jungs verloren, in diesem verdammten Krieg. Warten Sie hier…“
Frau Busta verschwand und ließ Helene vor dem Haus warten. Helene zitterte vor Aufregung und Kälte. In den Händen hielt sie das Säckchen bereit. Kurz darauf erschien die Schlaue in der Tür, in der Hand eine gefüllte Papiertüte.
„Hier! Na nehmen Sie schon! Es sind Kartoffeln, für jedes Kind eine. Mehr können Sie nicht verlangen, habe selbst nicht genug…“
Helene kämpfte mit den Tränen. Sieben Kartoffeln also. Was sollte sie damit anfangen, mit sieben verfluchten Kartoffeln? Der ganze Weg hierher umsonst? Mit knappen Worten dankte sie der Frau, steckte die Tüte in die Manteltasche und fuhr schnell davon. Sieben Kartoffeln, dachte sie, sieben Kartoffeln! Besser als nichts. Es werden zwei Mahlzeiten werden. Mit dreien könnte ich eine Suppe kochen, etwas Salz dazu, mehr haben wir nicht. Und die Kinder hätten etwas Warmes im Bauch. Die anderen werde ich erst bürsten, dann fein reiben und zum Schluss werden wir auf dem Ofen einem Kartoffelpuffer backen. Da werden die Kinder staunen. Und duften wird es im ganzen Haus wie lange nicht.
Es hatte angefangen zu schneien, kleine unschuldige Flocken grießelten herab. Helene schob ihr Fahrrad den Batzenberg hinauf, hinauf zum einstigen Gasthof zum heiteren Blick.
Noch einmal sehe ich meine Tante auf dem Fest vor mir. Ihr Bruder Heinzel hat es damals nicht geschafft und ist einige Monate später an Unterernährung gestorben. Oder sollte ich sagen verhungert? Und ich werde sie fragen, ob sie sich an den Duft des Kartoffelpuffers erinnern kann.
Mitten im September, ein 50. Geburtstag.
Bolles Partyservice hatte das Essen gebracht – irgendwo in Berlin. Viele der Gäste hatte ich lange nicht gesehen, es wurde ein Wiedersehen mit verhaltener Freude. Meine Mutter saß viel kleiner als sonst am Tisch. Vater war nicht gekommen, das erste Mal. Zu groß sei die Belastung, zu weit der Weg. Eine seiner jüngeren Schwestern jedoch saß quietschfidel und vergnügt zwischen all den anderen und lauschte dem Leben.
Das Buffet wurde eröffnet, alsbald stand die Tante bewaffnet mit einem Teller inmitten der Schlacht – mit bescheidenem Erfolg. Zumindest entsprach das angehäufte Sammelsurium auf ihrem Teller nicht gerade meinem Geschmack. Mit Sicherheit hätte ich das alles schon vergessen, wenn nicht zum Dessert gerufen worden wäre. Es gab die feinsten Sachen – sogar Kirschkompott mit Vanillepudding.
Meine Tante jedoch traf eine andere Wahl: glücklich und selig saß sie am Tisch, vor ihr ein weißer Teller, darauf nichts weiter als eine heiße Pellkartoffel. Zum Dessert? Zum Dessert! Als ob nichts ihr besser munden könnte, als diese heiße Pellkartoffel. Noch einmal und noch einmal holte sie sich nach. Irgendwo schien es ein Kartoffelnest zu geben, ein vergessenes. Mir fiel jene Geschichte ein, die Vater mir vor einiger Zeit erzählte.
1946
Am letzten Tag im Februar.
Müde hing der Hungermond über dem Horizont und schnitt mit seiner schmalen Sichel erbarmungslos durch das heraufziehende Wolkenband. „Schnee wird’s geben“, murmelte Helene und trat dabei mit festem Schritt aus dem Haus. „Schnee, nichts als Schnee überall! Hört denn dieser verfluchte Winter nie auf?“ Sie nahm das Fahrrad mit den dreimal geflickten Reifen, das ihr Größter für sie bereithielt. Eine schmale Schneise hatte er durch den Schnee schon zur Straße gepflügt. Sie strich ihm über den Kopf und sagte: „Pass auf die anderen auf! Du bist jetzt hier der Mann im Haus!“
„Bringst du etwas zu essen mit?“, rief der Junge ihr nach.
„Bestimmt, ganz bestimmt sogar“, antwortete Helene,und schaute noch einmal zurück auf das allein stehende Gebäude, auf den schon fast verblichenen Schriftzug: Gasthaus zum heiteren Blick und den Jungen davor, der in viel zu großen Hosen steckte.
„Und wenn Heinzel schreit?“
„Dann lass ihn an deinem Finger lutschen, vielleicht beruhigt ihn das ja …“
Die halbe Nacht hatte der Wind über den Batzenberg geheult und frischen Pulverschnee vor sich hergetrieben. Helene hatte nicht geschlafen, auch dann nicht, als es endlich still draußen war. Wie auch? War der Wind nicht zu hören, drang das Wimmern der schlafenden Kinder zu ihr. Sie alle schliefen in diesem einen Zimmer, dem alten Gastraum, des schon vor Jahren geschlossenen Lokals.
Der war ihnen zugeteilt worden; noch nicht einmal ein Jahr war das her, als die Flucht sie nach Sachsen gespült hatte, in dieses winzige Dorf Ottewig. In diesem Raum kochten sie, holten dazu Kannenweise das Wasser aus dem Dorf. Sie mussten sich in den großen Schüsseln waschen, in denen sie auch die Wäsche wuschen. Und sie alle hatten Hunger, nichts als Hunger. Er war der ständige Begleiter, er stand morgens mit ihnen auf und ließ sich nicht vertreiben, durch nichts. Am Abend erledigten die Mädchen bei Kerzenlicht ihre Hausaufgaben, Petroleum oder gar Strom gab es nicht. Dann das Nachtgebet, wieder ein Tag geschafft, ab ins Bett mit euch Kindern, da ist es wenigstens warm.
Neben Helene blieb es kalt. Zwanzig, zählte sie in Gedanken als sie an diesen Morgen aufstand. Zwanzig Tage nun schon ohne meinen Emil; jeder einzelne ein verfluchter, ein quälender, ein Trauertag. Hat sich mit seinem verdammten Husten einfach auf und davon gemacht. Einfach so gestorben, einfach so! Und ich sitze nun hier mit den sieben Kindern allein in der Fremde und weiß nicht, von was wir leben sollen. Geschweige denn was wir heute essen werden.
Helene dachte an Emils Beerdigung, an die frostharte Erde, an den dunkelgrauen Himmel an diesem Tag. Auch daran, dass sie alle gekommen waren, alle die zum Plösch gehörten und seinem Treck aus Krawan. Und alle hatten Hilfe versprochen: „Frau Zemelka, wenn Sie wirklich einmal in Not sind, wir helfen Ihnen. Versprochen!“
Wie groß sollte die Not noch werden? Es war Monatsende, die Brotmarken schon lange aufgebraucht. Kein Gramm Mehl mehr im Haus, keine einzige Kartoffel. Es war nichts da, einfach nichts! Jedenfalls nichts was man hätte essen können. In der Nacht hatte Helene beschlossen Hilfe anzunehmen, jede die sie bekommen konnte. Auf den Weg würde sie sich machen, zuerst nach Ebersbach, zur schlauen Frau Busta. Zwei Stunden Fußmarsch also. Man erzählte sich, dass es bei ihr immer irgendetwas zu Essen gab. Nachdem woher fragte niemand.
Im Herbst hatte Emil den Kindern verboten Kartoffeln zu stoppeln. „Das ist nicht unser Land, also sind es auch nicht unsere Kartoffeln“, hatte er gesagt und auf das „Aber, wir wollten doch nur…!“ der Jungs mit dem ‚Gott mit uns’-Riemen gedroht. Vorbei, dachte Helene und eine heiße Träne rann ihr über die kalte Wange. Doch die Kinder brauchen etwas zu Essen. Die Busta muss mir etwas geben, wenigsten einen kleinen Sack voll. Sie muss einfach!
Helene stapfte durch den Schnee und schob das alte Herrenrad neben sich her. Es war das gleiche, auf dem Emil ihr das Radfahren beigebracht hatte. Damals, im Mai 1933 kam er mit dem Ding aus Radibor zurück, und sie hörte noch seine Stimme, wie sie voller Stolz einen billigen Werbespruch nachplapperte: „Ich fahre Diamant, denn Diamant ist weltbekannt!“ Später durfte Helene sich auf die Querstange setzen und Emil fuhr sie auf und ab durch die blühende Kirschallee des Grafen. Dafür hat sie ihn geliebt und in den Kirschblüten wird sie ihn wieder finden, in jedem Frühjahr neu.
Inzwischen lag das Muldental mit den qualmenden Schornsteinen von Döbeln vor ihr. Hier war der Wind nicht so scharf, waren die Straßen nicht vereist. Also aufsitzen und den Oschatzer Berg hinab rollen, weiter über die Oberbrücke, vorbei an der großen Nikolaikirche und dann wieder den Berg hinauf zum Ostbahnhof. Jetzt noch durch die Roßweiner Anlagen, einem kleinen Wäldchen, das sich entlang der Mulde zieht. Endlich war Ebersbach erreicht.
Mit klopfendem Herzen stand Helene vor der Haustür, las sich das Namensschild laut vor, als ob man davon mutiger werden würde. Sie zog ihre Fäustlinge aus und klingelte. Niemand öffnete. Noch einmal. Nichts geschah. „Das gibt es doch nicht!“, rief Helene und pochte jetzt mit der Faust an die Haustür. In der zweiten Etage öffnete sich ein Fenster:
„Isn los?“, rief eine fremde Frau.
„Guten Tag, mein Name ist Helene Zemelka. Ich möchte zu Frau Busta.“
„S globsch ni, dass se da is. Die wird uff Oarbeet sinn.“
„Wo?“
„Nu woodn schonn, nu uffm Guud, ei verbibschd nochema!“
Das Fenster schloss sich wieder, Helene stand verloren und allein auf dem schmalen Weg und spürte, wie die Kälte an ihr hoch kroch. Beten, dachte sie, jetzt hilft nur noch beten. Und als sie es dachte, als sie Finger zählend den Rosenkranz zu beten begann, traute sie ihren Augen nicht: Da kam auf einmal wirklich die schlaue Frau Busta den Weg herauf. Ja, die Schläue stand ihr im Gesicht geschrieben, doch zum Glück war sie auch etwas zerstreut, wie es bei solchen Menschen manchmal so ist. Etwas Wichtiges hätte sie vergessen, erklärte sie der staunenden Helene, nur deshalb sei sie zurückgekommen.
„Frau Busta, ich brauche ihre Hilfe!“
„Nämlich?“
„Wir haben nichts mehr zu Essen, die Kinder weinen vor Hunger, der kleine Heinrich Paul ist schon so schwach, dass er kaum noch schreit.“
„Was haben Sie auch so viele Kinder. Die fressen Ihnen noch die Haare vom Kopf, sie werden schon sehen…“
Helene überhörte diese Gemeinheit und fragte: „Und? Werden sie mir helfen?“
„Ihren Kindern helfe ich, ihren Kindern“, raunzte sie. „Hab meine Jungs verloren, in diesem verdammten Krieg. Warten Sie hier…“
Frau Busta verschwand und ließ Helene vor dem Haus warten. Helene zitterte vor Aufregung und Kälte. In den Händen hielt sie das Säckchen bereit. Kurz darauf erschien die Schlaue in der Tür, in der Hand eine gefüllte Papiertüte.
„Hier! Na nehmen Sie schon! Es sind Kartoffeln, für jedes Kind eine. Mehr können Sie nicht verlangen, habe selbst nicht genug…“
Helene kämpfte mit den Tränen. Sieben Kartoffeln also. Was sollte sie damit anfangen, mit sieben verfluchten Kartoffeln? Der ganze Weg hierher umsonst? Mit knappen Worten dankte sie der Frau, steckte die Tüte in die Manteltasche und fuhr schnell davon. Sieben Kartoffeln, dachte sie, sieben Kartoffeln! Besser als nichts. Es werden zwei Mahlzeiten werden. Mit dreien könnte ich eine Suppe kochen, etwas Salz dazu, mehr haben wir nicht. Und die Kinder hätten etwas Warmes im Bauch. Die anderen werde ich erst bürsten, dann fein reiben und zum Schluss werden wir auf dem Ofen einem Kartoffelpuffer backen. Da werden die Kinder staunen. Und duften wird es im ganzen Haus wie lange nicht.
Es hatte angefangen zu schneien, kleine unschuldige Flocken grießelten herab. Helene schob ihr Fahrrad den Batzenberg hinauf, hinauf zum einstigen Gasthof zum heiteren Blick.
Noch einmal sehe ich meine Tante auf dem Fest vor mir. Ihr Bruder Heinzel hat es damals nicht geschafft und ist einige Monate später an Unterernährung gestorben. Oder sollte ich sagen verhungert? Und ich werde sie fragen, ob sie sich an den Duft des Kartoffelpuffers erinnern kann.