Eine Reihe von Sommernächten

Hale-Bopp

Mitglied
Der Wind wühlte durch das Blättermeer des großen prächtigen Baumes. Dahinter der schwärzlich-violette Himmel, halbverschluckt von Dunkelheit. Wie überhaupt alles wie schwärzlich angemalt aussieht in so einer Sommernacht.
Die Schaukel knarrte unter unserem Gewicht, die Grillen zirpten und die Blätter über unseren Köpfen säuselten ihr Lied. Ihr Hund, ein großer Labrador mit massigem, dichtem goldgelben Fell, tapste um unsere Füße, die Zunge aus dem Maul hängend und dem Anschein eines breiten Lächelns im Gesicht.
Die Finsternis war von nahezu perfekter Dichte. Wenn ich meinen Arm von mir streckte und mit der Hand in die große Blindheit hineingriff, war mir als könnte ich dieses tosende, schwarze Gewimmel ergreifen und mir nahe an die Augen halten. Doch stieß ich nur ins Leere.
Sie saß neben mir, ebenso in Schweigen versunken wie ich und ihr rötliches Haar im Wind flattern lassend. Ich war nicht in sie verliebt, glaube ich. Und doch…und doch…
Die Stimmung der Nacht war durchtränkt von den Spuren der Glut des Tages. Eine Sommernacht. Auf nichts anderes hatte ich gewartet, als auf einen solchen Moment. Ich, auf einer Schaukel sitzend, umgeben von dem schweren Duft der Blumen, der Schein der nahen Laternen der sich in meinen blutunterlaufenen Augen spiegelte; die ganze Welt nur ein flüchtiger schwerer Traum der sich im Wind eines Sommerabends auflöst. Und doch…und doch…

Einmal waren wir zu einer Schlucht gewandert.
Noch unten in der Stadt besuchten wir die schwarze alte Kirche. Die Luft im Rumpf war angenehm und das matte Licht warf einen eigenartig heimeligen Glanz auf die Holzbänke und die Wandbilder mit den deutschen Inschriften, deren Bedeutung ich nicht verstand. Der Eindruck von Altertümlichkeit was so stark, dass mir schwindelte. Welche Sehnsucht aus der Architektur sprach! Die riesige, leere Halle, sich nach oben wölbend und nur an den Seiten eingesprengselt mit Fenstern gleich Schießscharten. Das Bild der Gottesmutter am Altar, die Gesichtszüge erfüllt von Reinheit, gemischt mit Leiden; die Augen wie leuchtende Opale. An den Wänden die Figuren weiterer Heiliger, jeder von ihnen mit dem Ausdruck völliger Klarheit. Während meine Begleiterin neugierig durch die Bankreihen lief, lehnte ich an eine Säule und spürte die Süße des Todes wie ein Würgen im Halse.
Von der Kirche weg führte ein kleiner Pfad hinauf in die Wälder. Kurz vor dem Mäuerchen das Stadt und Wald trennte, stand ein rotlackierter Laden, hier kauften wir Fruchtsaft mit Minzblättern.
Als wir aus der Stadt traten rauschte rechts ein kleiner Bach und ich hockte mich nieder und hielt die Hand ins Wasser. Eiseskälte kroch mir über den Arm und ich träufelte meiner Begleiterin ein paar Tropen in den Nacken.
Zu beiden Seiten des Pfades erhoben sich Hügel, dicht mit Kiefern bewaldet. Der Anblick der dunstwabernden Fernen ließ mir den Schweiß über das Gesicht laufen und immer wieder griff ich unter mein Hemd um auch dort die Feuchte zu tasten. Ich fühlte mich ungeheuer lebendig.
Wir folgten dem Bach und erreichten bald die Schlucht. Zerklüftete Felsen türmten sich schwindelnd vor uns auf und reiches Gestrüpp wucherte zwischen den Geröllstücken. An der großen Himmelskuppel hing träge und blendend ein einzelne Wolke und wenn ich, den Kopf reckend hinaufsah, empfand ich beim Anblick der weißen Wolkenfläche über unseren Köpfen und der Felsklötze zu den Seiten, eine Gewalt von fast schmerzlicher Natur. Wie verschieden war dies von der Gruft des Kirchengebäudes, doch wie verwandt waren die Empfindungen.
Wir wählten einen flechtigen Stein zum vespern. Sie brach Stücke von einem großen Kirschkuchen und reichte sie mir, während ich die Schinkenbrote aus dem braunen Papier wickelte. Nachdem wir gegessen hatten, versuchten wir die umherliegenden kleinen Steine so zu werfen, dass sie zunächst auf einen überwucherten Fels nahe des Baches prallten und dann in einer Wellenbewegung ins Wasser krachten. Ich ging jedoch schon bald dazu über, mit den Steinen in ihre Richtung zu werfen, was sie geschickt mit den Schuhen abzuwehren wusste.
Ich betrachtete ihr Gesicht. Ihre leicht kantigen Gesichtszüge waren seltsam, jedoch nicht ohne Reiz. In ihren Augen lag ein störrischer Glanz und zugleich eine kindliche Verspieltheit. Trotz allem erschien sie mir wie eine Fremde.

Da war der Tag an jener Burg gewesen.
Beim Anstieg auf den ungleich größeren Hügel hatte eine seltsame Funkstille in meinem Kopf geherrscht, doch nachdem ich mir an dem kleinen hölzernen Verkaufsstand einen Kaffee gekauft und das würzige Getränk in wenigen kurzen Schlucken verzehrt hatte, wurde mir wohlig zumute. Der nahe Berg strahlte in saftigem Grün und seine Felsbrocken wirkten beinahe drohend in ihrer Scharfkantigkeit. Wie seltsam mir dies vorkam; ich in solch luftiger Höhe stehend, den tiefen Abgrund wie eine invertierte Wölbung vor mir ausgebreitet, schien es mir als bestünde ein feiner Zusammenhang zwischen meinen Empfindungen und der Umgebung. Hinter der vom dunklen Kaffee hervorgerufenen Erregung blieb eine gewisse Blässe des Erlebens bemerkbar; jedoch im Zusammenspiel mit der ersten Empfindung gesteigert zu einer köstlichen Melancholie und Gedankenzerfahrenheit.
Kurz vor dem Eingang zur Burg fiel uns eine kleine, im Gras sitzende Katze auf. Ihr geflecktes Fell knisterte als ich mit der Hand hindurchfuhr. Uns um die Beine streichend, vollführte sie Kreisbewegungen, scheinbar einer geheimen Ordnung folgend.
Zu meiner Erleichterung schien meine Begleiterin ebenso entzückt wie ich selbst, vor allem über das zarte Maunzen des Tieres. So unähnlich konnten wir uns nicht sein. Wer die Sphinx in der Katze zu sehen vermag, der trägt auch ein Stück der Sphinx in sich.

Im Garten der Burg befand sich ein Kaffeehaus. Große Papierlampen hingen in den mächtigen Kastanien und wurden in der einbrechenden Dunkelheit von schwarzvioletten Motten umflogen. Aus den offenen Türen des Hauses drang die Musik eines Grammophons.
An den Marmortischen sitzend, vor uns ein reich verzierter Samowar und eine Schale mit Weintrauben, versuchten wir uns im Gespräch- genauer, ich versuchte hinter ihre Maske zu sehen und währenddessen von der meinigen zumindest das Nötigste zu wahren, erschwert von der Tatsache, dass ich schlussendlich stets im Unwissen darüber blieb was an mir selbst wahrhaftig und was Maske war.
Ich versuchte ihr meine Vorstellung von der menschlichen Natur zu schildern, allen voran von meinen Ideen über die Verbindung zwischen der menschlichen Empfindung und der Außenwelt. Es gab, so meine Ausführungen, eine Art von Freude, eine Art von Melancholie, welche über den reinen Affekt hinausführte- ein schmerzhaft süßes Einswerden mit der Umgebung, verbunden mit einer Steigerung der Vorstellungskraft. Eine solche Erfahrung war so unvergleichlich, dass ich sie mir nur erklären konnte, indem ich dafür äußere Faktoren als Ursache ausmachte. Es musste sich um die Einwirkung feinster Schwingungen auf das Innere handeln, eine Form von Kontakt mit einer Macht welche sich menschlichen Begrifflichkeiten entzog.
Sie schien zu verstehen, und während sie nach den duftenden Trauben griff erzählte sie, wie sie als Kind schon einmal in dieser Gegend gewesen sei. Eines Nachts wäre sie aufgewacht und hätte aus dem Fenster gesehen. Durch die Dunkelheit seien Frauen in knochenweißen Kleidern geflogen, klagende Lieder singend. Ein duftender Wind sei durchs Fenster gekommen und habe ihr weich übers Gesicht gestreichelt. An den Spitzen der Berge wäre der Mond hervorgebrochen, mit seinem honigfarbenen Licht. Da habe sie verstanden, dass es die Frauen seien, die den Wind machten und jede Nacht den Mond hervorholten.
Und da sie dies erzählte, strich plötzlich ein feiner Wind durch die Baumwipfel und ließ die Papierlampen klirren und der Duft der Trauben wurde so schwer und süß, dass uns die Glieder matt wurden und die Augen müde.

Gegen Abend ging ein Gewitter nieder. Helle Blitze flammten über den Bergkuppeln und zündeten die Wolken von innen wie Laternen an.
Wir saßen auf der Terrasse unserer Unterkunft und aßen Suppe. Mit ihren schlanken Fingern das Haar zurückhaltend, löffelte sie still vor sich hin, das Gesicht beflackert vom Abendlicht.
Oh, wie die Nacht Barrieren von uns löst. Wie weich und fließend unser Innenleben wird in so einer summenden, warmen Dunkelheit. Beinahe hätte ich etwas zu ihr gesagt. Aber ich liebte sie doch nicht.
Später, in meinem Zimmer, öffnete ich das Fenster und blickte lange in die Dunkelheit hinaus. Große Motten flogen herein und jagten, gespenstische Schatten an die Wände werfend, um die Deckenlampe. Die weiße Gardine wehte im Abendwind.
Ich dachte an meine Begleiterin. Sicher schlief sie jetzt, eingesargt in der Dunkelheit ihres Raumes, der Kopf wie ein Schatten inmitten der weißen Decke. Seltsam ähnlich ihrer Gestalt am Tage- so schattenhaft und eingeborgen in etwas Undurchdringliches. Und über diesen Gedanken schlief ich ein.
Als ich kurze Zeit später, noch immer auf der Fensterbank kauernd, wieder erwachte, schien mir als hörte ich Stimmen von draußen. Den Kopf in die Dunkelheit haltend, lauschte ich. Nach wenigen Augenblicken erkannte ich einen seltsamen violetten Schein über den Rändern der Berge. Weiße Punkte schwebten sanft auf und nieder und ätherischer Gesang tönte leise durch die Sommernacht. Nach einer Weile meinte ich, die Umrisse von Frauenkörpern erkennen zu können. Ihr langes, wallendes Haar blinkte im Mondschein und blumige Düfte wehten von ihren Fernen zu mir. Ich starrte und träumte und fieberte, bis die kühlen Streifen der Morgendämmerung die Bergkuppeln erhellten und ich erschöpft ins Bett fiel.

Oder die Nacht in jenem Park…
Wir saßen auf einer Bank; ich mit einem Kunststofflöffel zerstoßenes Fruchteis aus einem Becher kratzend, während sie Salzkekse verzehrte.
Die Dämpfe aus dem nahen See überzogen die Parklandschaft mit einem giftigen Odem. Aufgeblähte Fischleiber trieben auf den Wellen. In der fernen Dunkelheit glommen Straßenlaternen wie orangene Leuchtkugeln.
„Wie funktioniert dein Geist?“ fragte ich sie.
Sie hielt inne und wischte sich die Krümel vom Kleid: „Wie jeder andere auch, denke ich. Abzüglich der feinen Unterschiede die in jeder Berechnung auftauchen.“
„Wie funktionieren deine Empfindungen?“ fragte ich sie.
„Wenn mir nicht wohl ist, täusche ich mir das Gegenteil vor. Du wärest überrascht wie schnell der Schleier, den du dir vor das Gesicht hältst, zu einem Sichtfenster wird, das durch nichts von dem Schauen mit bloßen Auge verschieden ist“.
Ich aber hatte keinen Schleier und konnte auch nicht weben…
„Was ist deine Seele?“ fragte ich sie.
„Du weißt über meinen Geist und über meine Empfindungen. Über die Seele kann ich nichts sagen“.
Und doch hatte sie mir die Frauen gezeigt…
„Wünschst du dir jemals deinen Geist oder deine Empfindungen zu verlassen?“ fragte ich sie.
„Du schaust es von der falschen Seite an. Innerhalb deiner Empfindungen zu stehen und durch sie hindurch nach allen Richtungen geöffnet zu sein, das ist das wahrhaft menschliche!“
Und ich stieß mit meiner Hand durch meine Empfindungen. Ich streckte sie in Richtung des Sees und fühlte den Dunst meine Finger benetzen. Und doch, als ich mich in Richtung meiner Begleiterin streckte, war mir als tastete ich über Wachs oder grob gearbeitetes Leinen; ein taubes Gefühl kroch mir im Arm hinauf und bevor ich mich versah, hatte ich die Hand erschrocken zurückgezogen. Ein Donnern, wie von einem zufallenden Tor, folgte.
Da hatte sie fertig gegessen und erhob sich und auch ich kratzte meinen Becher leer und folgte. Sie führte mich fort vom See.
Unser Weg endete in einem Gewirr aus Blumenbeeten und Büschen. Rosensträucher drohten wie Schatten an den Rändern, beprangt mit den hellen Funken der Blüten. Wolken von Traubenhyazinthen waren dazwischen eingestreut.
Eine Orangerie im edwardianischen Stil bildete den Mittelpunkt. Ihre Pfeiler waren mit manierierten floralen Ornamenten versehen und schwangen sich zu einer zierlichen Kuppel zusammen.
Meine Begleiterin führte mich durch die Türe. Innen schlug uns feuchter Dunst entgegen und legte sich auf unsere Kleider. Die Luft duftete süß. Von der Decke hängend, spendeten einige große Lampen dämmriges Licht. Wir setzten uns an den Rand eines Beckens, welches eine große Anzahl Wasserpflanzen beherbergte. Sanftes Plätschern erfüllte die ansonsten völlig stille Halle, nur hin und wieder unterbrochen von einem Frosch, der sich vom Beckenrand ins Wasser plumpsen ließ.
Eine eingetopfte Mimose an sich heranziehend, warf mir meine Begleiterin einen vielsagenden Blick zu; gleich ging sie dazu über die zartgrünen Blätter zu betasten und beim Zittern zufrieden zu lächeln. Auch ich begab mich daran die Pflanze sacht mit meinen Fingerkuppen zu berühren.
So bestaunten wir eine Weile die Schamhaftigkeit des Gewächses und die Freuden die einem der eigene Tastsinn bringen kann. Bald jedoch kroch mir die Taubheit wieder in den Arm und ich musste ihn mit der anderen Hand halten. Meine Begleiterin, mich mit ausdruckslosen Augen fixierend, hielt nicht mit ihrer Tätigkeit inne.
„Kannst du deine Empfindungen öffnen?“ fragte sie mich.
„Als ich dich berühren wollte wurde mein Arm taub“ antwortete ich wahrheitsgemäß und zwang mich die Finger der gefühllosen Hand zu bewegen.
„Probiere es mit dem Wasser“ erwiderte sie, mit dem Kopf sacht zum Becken nickend.
Ich tauchte meinen Arm in den grünen Teich und fühlte sogleich einen warmen Schauer über meine Haut rieseln. Ein Ziehen durchlief meinen Arm und wandelte sich zu einem Gefühl wohliger Gelöstheit.
„Mit dem Wasser funktioniert es!“ rief ich begeistert,
Sie hielt ebenfalls ihren Arm ins Wasser. Im schummrigen Licht glänzte ihre Haut wie Wachs. Plötzlich schien es mir als fiele ein Fetzen von ihrem Arm und versinke im Wasser, um einige Augenblicke später, Blasen schlagend wieder nach oben zu gleiten. Erschrocken griff ich danach und hielt ihn mir vor die Augen. Es war grobes Leinen, von Wasser vollgesogen und grünlich schillernd.
Stück für Stück löste sich nun ihr Arm auf und zerlief im Becken, während sie mit einer Träne im Auge jene unsterblichen Verse rezitierte:
O daß wir unsere Ururahnen wären.
Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
Leben und Tod, Befruchten und Gebären
glitte aus unseren stummen Säften vor.


Und nun saßen wir also auf der Schaukel und der Wind wühlte durch das Blättermeer des prächtigen Baumes vor unseren Augen. Ihr Hund lief durch die Nacht und sein Hecheln drang mal links und mal von der rechten Seite zu uns herüber.
Einer Eingebung folgend, beugte ich mich zu ihr herüber und küsste ihren Hals. Ich liebte sie nicht, und doch- vielleicht war dies der Weg meinen Arm zu heilen.
Als hätte sie nur darauf gewartet, schmiegte sie sich an mich. Ein hungriger Ausdruck trat in ihre Augen und ihr Atem wurde kurz und flach. Mich von der Schaukel herunterzerrend, warf sie sich ins Gras.
Als alles vorbei war, saß ich lange in der Dunkelheit und beobachtete wie ihr weißer Bauch sich langsam hob und senkte. Halb verborgen vom üppigen Gras machte ihr Körper einen Anschein von äußerster Ruhe und Zufriedenheit. Ein leises Lächeln spielte um ihre Lippen und mit schmerzhafter Deutlichkeit erkannte ich, dass ich sie lediglich genauso benutzt hatte wie sie mich.
Schon kroch die Taubheit wieder meinen Arm hinauf, diesmal bis zu den Schultern. Eine Gänsehaut bildete sich mir im Nacken und Schwindel ergriff mich. Nach meinen Kleidern greifend, erhob ich mich und begann mich hastig anzuziehen.
Der Hund schoß aus der Dunkelheit und beschnupperte die liegende Gestalt. Sie war fest eingeschlafen.
Als ich angekleidet war, nahm ich Reißaus. Die schwüle Nacht durchwandernd, kam ich bis zum Morgengrauen am Bahnhof an.

Im Zug schlief ich, bis das immer rauere Ruckeln der Waggons mich weckte. Die übermüdeten Augen öffnend nahm ich sogleich einen ungeheuer frischen Duft war. Laue Winde wehten durch das Abteil und bewegten sanft die weißen Vorhänge am Fenster. Nach kurzer Zeit öffnete sich die Türe des Zugabteils und eine Frauengestalt im weißen Gewand schwebte herein. Sie hing seitlich in der Luft, als würde ihr Körper auf einem kostbaren Kissen ruhen und ihre langen duftenden Haare bewegten sich, wie durch Wasserströmungen liebkost. Lange hing sie so in der Luft und durchbohrte mich mit einem glühenden Blick in dem alle Traurigkeit der Welt zu glitzern schien.
 
Hallo, Hale-Bopp.

Deine Wortwahl erscheint mir ein wenig zu schlicht. Viele Umschreibungen erscheinen mir zu bemüht oder schlecht nachvollziehbar: reiches Gestrüpp, störrischer Glanz, große Blindheit. Logische Fehler: einzelne Wolke/weiße Wolkenfläche. Hab nicht bis zum Ende durchgehalten. Norbert
 

Hale-Bopp

Mitglied
Im Garten der Burg befand sich ein Kaffeehaus. Große Papierlampen hingen in den mächtigen Kastanien und wurden in der einbrechenden Dunkelheit von schwarzvioletten Motten umflogen. Aus den offenen Türen des Hauses drang die Musik eines Grammophons.
An den Marmortischen sitzend, vor uns ein reich verzierter Samowar und eine Schale mit Weintrauben, versuchten wir uns im Gespräch- genauer, ich versuchte hinter ihre Maske zu sehen und währenddessen von der meinigen zumindest das Nötigste zu wahren, erschwert von der Tatsache, dass ich schlussendlich stets im Unwissen darüber blieb was an mir selbst wahrhaftig und was Maske war.
Ich versuchte ihr meine Vorstellung von der menschlichen Natur zu schildern, allen voran von meinen Ideen über die Verbindung zwischen der menschlichen Empfindung und der Außenwelt. Es gab, so meine Ausführungen, eine Art von Freude, eine Art von Melancholie, welche über den reinen Affekt hinausführte- ein schmerzhaft süßes Einswerden mit der Umgebung, verbunden mit einer Steigerung der Vorstellungskraft. Eine solche Erfahrung war so unvergleichlich, dass ich sie mir nur erklären konnte, indem ich dafür äußere Faktoren als Ursache ausmachte. Es musste sich um die Einwirkung feinster Schwingungen auf das Innere handeln, eine Form von Kontakt mit einer Macht welche sich menschlichen Begrifflichkeiten entzog.
Sie schien zu verstehen, und während sie nach den duftenden Trauben griff erzählte sie, wie sie als Kind schon einmal in dieser Gegend gewesen sei. Eines Nachts wäre sie aufgewacht und hätte aus dem Fenster gesehen. Durch die Dunkelheit seien Frauen in knochenweißen Kleidern geflogen, klagende Lieder singend. Ein duftender Wind sei durchs Fenster gekommen und habe ihr weich übers Gesicht gestreichelt. An den Spitzen der Berge wäre der Mond hervorgebrochen, mit seinem honigfarbenen Licht. Da habe sie verstanden, dass es die Frauen seien, die den Wind machten und jede Nacht den Mond hervorholten.
Und da sie dies erzählte, strich plötzlich ein feiner Wind durch die Baumwipfel und ließ die Papierlampen klirren und der Duft der Trauben wurde so schwer und süß, dass uns die Glieder matt wurden und die Augen müde.

Gegen Abend ging ein Gewitter nieder. Helle Blitze flammten über den Bergkuppeln und zündeten die Wolken von innen wie Laternen an.
Wir saßen auf der Terrasse unserer Unterkunft und aßen Suppe. Mit ihren schlanken Fingern das Haar zurückhaltend, löffelte sie still vor sich hin, das Gesicht beflackert vom Abendlicht.
Oh, wie die Nacht Barrieren von uns löst. Wie weich und fließend unser Innenleben wird in so einer summenden, warmen Dunkelheit. Beinahe hätte ich etwas zu ihr gesagt. Aber ich liebte sie doch nicht.
Später, in meinem Zimmer, öffnete ich das Fenster und blickte lange in die Dunkelheit hinaus. Große Motten flogen herein und jagten, gespenstische Schatten an die Wände werfend, um die Deckenlampe. Die weiße Gardine wehte im Abendwind.
Ich dachte an meine Begleiterin. Sicher schlief sie jetzt, eingesargt in der Dunkelheit ihres Raumes, der Kopf wie ein Schatten inmitten der weißen Decke. Seltsam ähnlich ihrer Gestalt am Tage- so schattenhaft und eingeborgen in etwas Undurchdringliches. Und über diesen Gedanken schlief ich ein.
Als ich kurze Zeit später, noch immer auf der Fensterbank kauernd, wieder erwachte, schien mir als hörte ich Stimmen von draußen. Den Kopf in die Dunkelheit haltend, lauschte ich. Nach wenigen Augenblicken erkannte ich einen seltsamen violetten Schein über den Rändern der Berge. Weiße Punkte schwebten sanft auf und nieder und ätherischer Gesang tönte leise durch die Sommernacht. Nach einer Weile meinte ich, die Umrisse von Frauenkörpern erkennen zu können. Ihr langes, wallendes Haar blinkte im Mondschein und blumige Düfte wehten von ihren Fernen zu mir. Ich starrte und träumte und fieberte, bis die kühlen Streifen der Morgendämmerung die Bergkuppeln erhellten und ich erschöpft ins Bett fiel.

Oder die Nacht in jenem Park…
Wir saßen auf einer Bank; ich mit einem Kunststofflöffel zerstoßenes Fruchteis aus einem Becher kratzend, während sie Salzkekse verzehrte.
Die Dämpfe aus dem nahen See überzogen die Parklandschaft mit einem giftigen Odem. Aufgeblähte Fischleiber trieben auf den Wellen. In der fernen Dunkelheit glommen Straßenlaternen wie orangene Leuchtkugeln.
„Wie funktioniert dein Geist?“ fragte ich sie.
Sie hielt inne und wischte sich die Krümel vom Kleid: „Wie jeder andere auch, denke ich. Abzüglich der feinen Unterschiede die in jeder Berechnung auftauchen.“
„Wie funktionieren deine Empfindungen?“ fragte ich sie.
„Wenn mir nicht wohl ist, täusche ich mir das Gegenteil vor. Du wärest überrascht wie schnell der Schleier, den du dir vor das Gesicht hältst, zu einem Sichtfenster wird, das durch nichts von dem Schauen mit bloßen Auge verschieden ist“.
Ich aber hatte keinen Schleier und konnte auch nicht weben…
„Was ist deine Seele?“ fragte ich sie.
„Du weißt über meinen Geist und über meine Empfindungen. Über die Seele kann ich nichts sagen“.
Und doch hatte sie mir die Frauen gezeigt…
„Wünschst du dir jemals deinen Geist oder deine Empfindungen zu verlassen?“ fragte ich sie.
„Du schaust es von der falschen Seite an. Innerhalb deiner Empfindungen zu stehen und durch sie hindurch nach allen Richtungen geöffnet zu sein, das ist das wahrhaft menschliche!“
Und ich stieß mit meiner Hand durch meine Empfindungen. Ich streckte sie in Richtung des Sees und fühlte den Dunst meine Finger benetzen. Und doch, als ich mich in Richtung meiner Begleiterin streckte, war mir als tastete ich über Wachs oder grob gearbeitetes Leinen; ein taubes Gefühl kroch mir im Arm hinauf und bevor ich mich versah, hatte ich die Hand erschrocken zurückgezogen. Ein Donnern, wie von einem zufallenden Tor, folgte.
Da hatte sie fertig gegessen und erhob sich und auch ich kratzte meinen Becher leer und folgte. Sie führte mich fort vom See.
Unser Weg endete in einem Gewirr aus Blumenbeeten und Büschen. Rosensträucher drohten wie Schatten an den Rändern, beprangt mit den hellen Funken der Blüten. Wolken von Traubenhyazinthen waren dazwischen eingestreut.
Eine Orangerie im edwardianischen Stil bildete den Mittelpunkt. Ihre Pfeiler waren mit manierierten floralen Ornamenten versehen und schwangen sich zu einer zierlichen Kuppel zusammen.
Meine Begleiterin führte mich durch die Türe. Innen schlug uns feuchter Dunst entgegen und legte sich auf unsere Kleider. Die Luft duftete süß. Von der Decke hängend, spendeten einige große Lampen dämmriges Licht. Wir setzten uns an den Rand eines Beckens, welches eine große Anzahl Wasserpflanzen beherbergte. Sanftes Plätschern erfüllte die ansonsten völlig stille Halle, nur hin und wieder unterbrochen von einem Frosch, der sich vom Beckenrand ins Wasser plumpsen ließ.
Eine eingetopfte Mimose an sich heranziehend, warf mir meine Begleiterin einen vielsagenden Blick zu; gleich ging sie dazu über die zartgrünen Blätter zu betasten und beim Zittern zufrieden zu lächeln. Auch ich begab mich daran die Pflanze sacht mit meinen Fingerkuppen zu berühren.
So bestaunten wir eine Weile die Schamhaftigkeit des Gewächses und die Freuden die einem der eigene Tastsinn bringen kann. Bald jedoch kroch mir die Taubheit wieder in den Arm und ich musste ihn mit der anderen Hand halten. Meine Begleiterin, mich mit ausdruckslosen Augen fixierend, hielt nicht mit ihrer Tätigkeit inne.
„Kannst du deine Empfindungen öffnen?“ fragte sie mich.
„Als ich dich berühren wollte wurde mein Arm taub“ antwortete ich wahrheitsgemäß und zwang mich die Finger der gefühllosen Hand zu bewegen.
„Probiere es mit dem Wasser“ erwiderte sie, mit dem Kopf sacht zum Becken nickend.
Ich tauchte meinen Arm in den grünen Teich und fühlte sogleich einen warmen Schauer über meine Haut rieseln. Ein Ziehen durchlief meinen Arm und wandelte sich zu einem Gefühl wohliger Gelöstheit.
„Mit dem Wasser funktioniert es!“ rief ich begeistert,
Sie hielt ebenfalls ihren Arm ins Wasser. Im schummrigen Licht glänzte ihre Haut wie Wachs. Plötzlich schien es mir als fiele ein Fetzen von ihrem Arm und versinke im Wasser, um einige Augenblicke später, Blasen schlagend wieder nach oben zu gleiten. Erschrocken griff ich danach und hielt ihn mir vor die Augen. Es war grobes Leinen, von Wasser vollgesogen und grünlich schillernd.
Stück für Stück löste sich nun ihr Arm auf und zerlief im Becken, während sie mit einer Träne im Auge jene unsterblichen Verse rezitierte:
O daß wir unsere Ururahnen wären.
Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
Leben und Tod, Befruchten und Gebären
glitte aus unseren stummen Säften vor.


Und nun saßen wir also auf der Schaukel und der Wind wühlte durch das Blättermeer des prächtigen Baumes vor unseren Augen. Ihr Hund lief durch die Nacht und sein Hecheln drang mal links und mal von der rechten Seite zu uns herüber.
Einer Eingebung folgend, beugte ich mich zu ihr herüber und küsste ihren Hals. Ich liebte sie nicht, und doch- vielleicht war dies der Weg meinen Arm zu heilen.
Als hätte sie nur darauf gewartet, schmiegte sie sich an mich. Ein hungriger Ausdruck trat in ihre Augen und ihr Atem wurde kurz und flach. Mich von der Schaukel herunterzerrend, warf sie sich ins Gras.
Als alles vorbei war, saß ich lange in der Dunkelheit und beobachtete wie ihr weißer Bauch sich langsam hob und senkte. Halb verborgen vom üppigen Gras machte ihr Körper einen Anschein von äußerster Ruhe und Zufriedenheit. Ein leises Lächeln spielte um ihre Lippen und mit schmerzhafter Deutlichkeit erkannte ich, dass ich sie lediglich genauso benutzt hatte wie sie mich.
Schon kroch die Taubheit wieder meinen Arm hinauf, diesmal bis zu den Schultern. Eine Gänsehaut bildete sich mir im Nacken und Schwindel ergriff mich. Nach meinen Kleidern greifend, erhob ich mich und begann mich hastig anzuziehen.
Der Hund schoß aus der Dunkelheit und beschnupperte die liegende Gestalt. Sie war fest eingeschlafen.
Als ich angekleidet war, nahm ich Reißaus. Die schwüle Nacht durchwandernd, kam ich bis zum Morgengrauen am Bahnhof an.

Im Zug schlief ich, bis das immer rauere Ruckeln der Waggons mich weckte. Die übermüdeten Augen öffnend nahm ich sogleich einen ungeheuer frischen Duft war. Laue Winde wehten durch das Abteil und bewegten sanft die weißen Vorhänge am Fenster. Nach kurzer Zeit öffnete sich die Türe des Zugabteils und eine Frauengestalt im weißen Gewand schwebte herein. Sie hing seitlich in der Luft, als würde ihr Körper auf einem kostbaren Kissen ruhen und ihre langen duftenden Haare bewegten sich, wie durch Wasserströmungen liebkost. Lange hing sie so in der Luft und durchbohrte mich mit einem glühenden Blick in dem alle Traurigkeit der Welt zu glitzern schien.
 



 
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