Eine Runde mit Clemens

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Vagant

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Eine Runde mit Clemens

Clemens ist groß und hager und sein Gesicht trägt die Züge eines Asketen. Seine Nase schlägt einen scharfen Haken, und die kleinen braunen Augen, diese Fenster der Melancholie, sind ständig in Bewegung. Er trägt das Haar im Nacken lang und seine Ohren balancieren eine abgewetzte Tweedmütze; was ihm etwas Verwegenes verleiht. Seine Tasche, ein alter Köcher aus grünem Leder, sieht aus wie ein Dachbodenfund. Er hat nur wenige Schläger im Bag. Einen Putter, der schon aus der Mode gekommen war als das vergangene Jahrhundert noch kurze Hosen trug, ein rostiges Wedge für den Sand, drei oder vier Eisenschläger, unterschiedliche Fabrikate - hier nur durch Zufall zu einem Set vereint - und ein Holz fürs lange Spiel, alt und mit Kerben übersät. Er hätte alles was er braucht, sagt er, legt den Kopf fachmännisch schief und sagt dann, dass viel Brei nur den Koch verderbe. Er geht – nein er stolziert mehr als er geht, denn er rollt die Füße sorgfältig von der Ferse bis zu den Zehen ab - er stolziert also jene Strecken entlang, mal hierhin und dann wieder dorthin, berührt den einen Baum mit der Hand, und dann wieder einen anderen, erreicht seinen Ball, zieht einen Schläger aus der Tasche - immer die richtige Wahl – richtet sich aus, sorgfältig Maß nehmend, als hänge nun alles nur davon ab, schwingt ein-, zweimal trocken nach einem imaginären Ball bis der Schaft mit einem lauten Pfeifen durch die Luft peitscht, und wie er so da steht, im Gegenlicht, lang und hager, mit dem Schläger fuchtelnd, sieht er aus wie eine grotesk große Gottesanbeterin. Aber die Dinge laufen gut für Clemens. Und sie laufen nicht nur gut, auch scheinen sie zu ihm zu sprechen, ihm zu sagen was zu tun ist und wie das Spiel zu spielen ist.

Zu mir sprechen sie nicht. Heute nicht, und ich bin mir nicht mal sicher, ob sie jemals zu mir gesprochen haben. Es scheint als ziehe der Schlagerkopf seinen Bahnen in einer fernen Galaxie, und statt der Leichtigkeit und der Weite spüre ich nur ein Stechen im Rücken und die Enge meiner Gedanken. Gehemmt, fast verzagt gehe ich die Spielbahnen entlang und meine Bälle verkriechen sich im Niemandsland voller knöchelhoher Schafgarbe, oder sinken auf den Grund der Weiher. Dass dies nun aber ein teures Vergnügen sei, bemerkt Clemens und nennt mich \'Sportsfreund\' dabei. Sportsfreund? Was soll das denn werden? Diese Art juveniler Anrede brauch ich nun mal gar nicht, soviel ist mal klar, und ich sage, dass es heute ohnehin kein richtiges Vergnügen ist, nur dass das mal klar ist. Und so gehen wir Spielbahn für Spielbahn und ich imitiere aufs trefflichste einen Mann der Spaß hat an dem was er tut.

Wir stehen am Abschlag.
„Ich werd\' mein Brassie nehmen“, sagt Clemens.
„Dein was?“
„Den Brassie“, und er zeigt auf sein Dreier-Holz.
„Ach so, das Dreier.“
„Wurde früher Brassie genannt.“
„Wann früher?“
„Viel früher. Zu meiner Zeit.“
Und nun muss ich lachen, denn ich weiß, dass die Schläger einmal Namen hatten, aber datiere das irgendwo um achtzehn-hundert-schießmichtot.
„Schön das du auch mal lachst, Sportsfreund. Machst ja sonst einen eher verspannten Eindruck.“
„Sorry, aber es läuft heute einfach nicht“, versuche ich mich zu entschuldigen. „Und wenn\'s denn halt nicht läuft, dann macht\'s auch keinen Spaß.“
„Es kann nur laufen wenn du bereit bist.“
„Wozu?“
„Es laufen zu lassen.“
„...hm.“
Clemens zieht den Schläger aus dem Köcher und stellt sich an den Ball. Er wackelt einige male hin und her, setzt nochmal ab und schaut zu mir.
„Früher trugen die Schläger Namen, Sportsfreund. Brassie und Spoon, Mashie oder Niblick und was-weiß-ich-nicht-noch-alles. Man hat es verstanden die Dinge zu beseelen, ihnen Leben einzuhauchen. Wie trostlos dagegen ist das Dasein eines Eisen-Sechs?“
Mein Gott, der Alte scheint einen ausgeprägten Hang zur Esoterik zu haben. Ich muss auf der Hut sein.
Clemens schaut wieder zum Ball und schlägt ihn auf das Grün.
„Schöner Schlag“, sage ich.
„Ja, das gute alte Brassie, auf das ist Verlass. Nun bist du dran; Lass es laufen, Sportsfreund.“
Der Blick vom Abschlag hinunter in die kleine Senke die nun in später Nachmittagssonne vor mir liegt lässt mich wieder die Dimensionen des Spiels erahnen. Ich versuche mich an irgendeinen Tipp zu erinnern, etwas was mir nun helfen könnte, und das einzige was mir einfällt ist; tue so als würdest du nur so rum stehen und nichts Besonderes vorhaben. Und so tue ich es - und ich tue es gut, und Clemens sagt, dass dies ein exzellenter Schlag gewesen sei, und ich höre mich irgendetwas mit \'Brassie\' und \'Verlass\' sagen. 

Wir gehen über ein Fairway.
„Du weißt, Sportsfreund, dass auf vielen Plätzen auch die Bahnen ihre Namen haben?“
„Ja schon, aber es erscheint mir wenig sinnvoll auch noch den Gegner zu beseelen.“
„Gegner?“
„Ja, ich gegen den Platz; der Sinn des Spiels.“
„Versuchs doch mal mit: Ich mit dem Platz.“
„Mir reicht eine übersichtliche Nummerierung völlig.“
Clemens schaut mich mit einem milden Lächeln an und sagt:
„Manchmal ist es ja einfach nur eine Warnung“.
„Eine Warnung?“
„Ja, eine Warnung. Shipwreck, zum Beispiel.“
„Shipwreck?“
„Ja, Schiffswrack. Irgendwo am Lake Michigan.“
„Klingt jedenfalls nach Trouble“, sage ich. „The-Tail-of-the-Whale, aber frag\' bitte nicht wo das ist.“
„Auch schön“, sagt Clemens.
Sein Blick ist auf irgend etwas entferntes gerichtet. Ich weiß nicht was er sieht, was er wahrnimmt, ob er gerade überhaupt etwas wahrnimmt, oder nur auf eine Brise wartet, die ihm die Gedanken zu zutragen scheint. 
„The-Maiden-Rock, in Sant Andrews, Schottland“, sagt er.
„Klingt aber eher nach einer Verheißung als nach einer Warnung.“
„Aber nur wenn du jung bist.“
„Ginger-Beer, auch in Sant Andrews“, fällt mir ein.
„Das ist doch mal \'ne Warnung.“
„The-Road-Hole“, sage ich, und ich habe es noch nicht ganz ausgesprochen, da fällt mir auf wie abwegig dieser Gedanke doch ist. Road-Hole, mein Gott, wie das schon klingt. In dem Namen liegt keine Lyrik, keine Inspiration, kein Nichts. Es liegt halt an einer Straße. Rechts davon ein riesiges Hotel, vierstöckig, wenn ich nicht irre, grauer Naturstein, und links die See, immer kabbelig und oftmals grantig; Schottland halt. Aber Clemens greift den Gedanken gar nicht auf. 
„The-Last-Easy“, sagt er.
„The-Last-Easy? Wow, das gefällt mir, und wenn\'s die Achtzehn ist, ist\'s okay.“
„Es war die Drei.“
„Die Drei?“
„Drei“, und als müsse er dies nun extra bekräftigen streckt er drei Finger in die Luft.
„Du hast es selbst gespielt“, und es ist mehr eine Feststellung als eine Frage, denn sein Blick und die Art wie er die drei anzeigt, lässt keinen Zweifel daran, dass er es erlebt haben muss.
„Teufelskerl“, sage ich.
„Ja. Es war oben in Schottland. Irgend so ein tristes Nest an der Küste. Und ich sag\'s dir, Sportsfreund, das Wetter war trostlos. Der Wind wehte stramm von Meer herüber und hatte \'ne Ladung klatschnassen Regen im Gepäck. Ich war allein, kein Mensch geht bei solch einem Wetter vor die Tür, und selbst der Platzwart schien an die Ofenbank getackert zu sein. \'s wäre besser für seine Gesundheit, sagte er. 
„Ja, bei solch einem Wetter bleibt man besser daheim.“
Aber ich bin nun gespannt auf die Geschichte und nicke Clemens kurz zu.
„Ich komme also auf den Platz. So ein ruppiges Dünending, heidegesäumte Fairways und Bunkerkanten so hoch, dass ich darin stehen konnte. Ein paar kleine, knorrige Bäume mit zerzausten Kronen, die alle in Richtung der Stadt zeigten. Windflüchter, verstehst\'e Sportsfreund. Und alle schienen sie zu rufen: sieh zu, dass du Land gewinnst!
„Und, bist\'e weg?“, unterbrach ich ihn.
„Ach, i-wo. Ich habe es nicht verstehen können. Ich dachte, es sei das Heulen des Windes.“
„Du willst mich auf den Arm nehmen?“, und ich lupfe mit dem Zeigefinger kurz das Lid.
„Ich sag\' dir, Sportsfreund, ich habe auf den ersten zwei Löchern fünf Bälle verloren. An der Drei suchte ich Schutz hinter einer Hecke um meine Brille zu putzen. Ich ging in die Hocke, klaubte ein Taschentuch aus der Jacke, rieb das Ding notdürftig trocken, und da sah ich die Sandsteinplatte. Sie stand direkt vor mir und ich konnte es deutlich lesen: Hole 3, Par 4, 376 yard, \'The Last Easy\'.“
„Und wie ging\'s nun weiter?“
„Ich hatte es zwar gelesen aber nicht verstanden. Ich spielte natürlich weiter, verlor Ball um Ball und der Wind und der Regen machten mich mürbe. Nach den ersten neun Löchern hatte ich alles verschossen was ich bei mir hatte und so ging ich, nolens volens, zurück zum Auto. \'s ist halt manchmal so.“
„Wie ist es?“
„Mal gewinnst du, mal gewinnt der Platz.“
Hilfe, was soll das denn jetzt? Mal gewinnst du, mal gewinnt der Platz? Nicht, dass Clemens ohnehin schon schrullig genug ist, nein, nun entpuppt er sich auch noch als Überbringer der einfachen-Botschaft. 
„Und für diese Erkenntniss hast du ganze neun Löcher gebraucht?“
„An diesem Tag schon.“
Er schaut mich an, reibt sich das Kinn und mir scheint, als wolle Clemens mir noch etwas sagen, aber er lächelt nur, schlägt seinen Ball und geht weiter.

Einfache Botschaft hin, einfache Botschaft her; die Dinge laufen nun besser für mich.
Wir gehen nun meist Schulter an Schulter, Clemens erzählt die eine oder andere Geschichte und ich beginne mich in seiner Nähe wohl zu fühlen. Er erzählt, dass er mal hier, mal dort gespielt habe, nie mehr als zwei aufeinanderfolgende Saisons Mitglied in einem Club war, sich im Alter (was meint er mit \'Alter\'?) entweder hier oder anderswo niederlassen will und sich eventuell noch dieses oder jenes Hobby zu zulegen gedenkt. Der Alte bleibt im Vagen, und ich höre auch nicht immer so genau zu. Und so gehen wir, schlagen unsere Bälle, gehen wieder, schlagen wieder. Clemens Ball liegt immer genau dort wo er ihn hinspielen wollte. Für meinen Ball, sagt er, scheint jedes Schilfrohr ein Affront zu sein, worauf ich sage, dass ich wohl heute der Spezialist für interessante Lagen sei.

Wir stehen auf einem Grün und Clemens kickt mir den Ball zurück.
„Hier, Sportsfreund, Versuchs noch mal.“
„Sicher?“
„Stell\' dich ein Fußbreit vom Ball weg und fang\' an zu pendeln.“
Ich lege meine Hände sorgfältig um den Griff, richte den Blick starr auf den Ball und beginne mit dem Schläger hin und her zu pendeln.
„Wo guckst du hin?“
„Auf den Ball. Wohin denn sonst.“
„Der Ball ist das Problem, vergiss ihn.“
Ich schwenke nun meinen Kopf bis ich das Loch sehen kann. Es scheint, als wolle diese kleine weißgeränderte Ding in der Ferne verschwinden und mein Pendel bekommt schlagartig eine erdige Schwere.
„Wer hat gesagt, dass du zum Loch gucken sollst?“
„Irgendwo muss ich doch hin schauen.“
„Vergiss das Loch. Es ist Teil des Problems.“
„Aber wohin denn dann?“
„Auf die Lösung.“
„Die Lösung, na prima.“
„Ja, die Lösung, und die liegt genau dazwischen. Der Weg zwischen Ball und Loch, dort ist die Lösung.“
Ich schaue nun auf diese leicht geschwungene Ebene, die im Licht des frühen Abends fast silbern schimmert und pendle und pendle, und ich muss nun schon zig mal gependelt haben und hoffe, dass niemand sieht, wie ich hier, versunken in meinen Gedanken in der Sonne stehe und nach dem Geist in der Flasche suche, der irgendwo in mir vergraben zu sein scheint. 
„Wie lange muss ich denn noch?“
Clemens geht nun langsam in die Hocke, legt die Ellenbogen auf seine Knie und beginnt im Rhythmus meiner Bewegung zu wippen.
„Geduld, Sportsfreund. Pendel weiter und versuch\' ins \'Jetzt\' zu kommen.“
„Wie meinst du das jetzt mit dem \'Jetzt\'?“
„Horch\' her; du kommst zum Grün und siehst deinen Ball irgendwo liegen - und wenn ich sage irgendwo, dann meine ich auch irgendwo, vielleicht am Grünrand, zehn oder zwölf Meter vom Stock entfernt – und alles was du denkst ist, dass du irgendwann schon einmal dort gelegen hast.“
„Ja, genau so ist es“, sage ich.
„Das weiß ich. Und dann denkst du an dein Scheitern, an die drei Puts die nötig waren, und schon bohren die negativen Gedanken in dir und du verfängst dich im \'Gestern\'.“
Mir steht der Schweiß auf der Stirn und meine Schultern verspannen von der ewigen Pendelei. 
„Okay, nächstes Szenario; du kommst zum Grün und siehst den Ball zwei Meter neben der Fahne, das Grün ist völlig eben - kein Break könnte die Kugel vom Weg abbringen. Du denkst dir; nichts leichter als das und schreibst dir im Geiste schon das Birdy auf die Karte. Du bist schon im \'Morgen\' obwohl du im \'Jetzt\' sein solltest.“
„Morgen? Ich notiere meinen Score immer sofort.“
„Morgen, Gestern – egal wie du es nennst. Wichtig an der Erkenntnis ist doch nur, dass du dich nie im \'Jetzt\' befindest, dass du dich immer in den Dingen verlierst, die geschehen sind, oder noch geschehen werden.“
„Und wie lange sollte ich nun noch pendeln?“
„Bis du das \'Jetzt\' spürst. Erst spürst du es in den Händen, von dort aus geht es in die Arme, dann in die Schultern – sie werden frei und alles scheint dann leicht – dann fließt es durch deinen Brustkorb in die Lenden. Und wenn du es dann hast, wenn du das alles spürst, dann ertönt diese Klingeln in den Eiern.“
„Ein Klingeln? In den Eiern?“
„Wenn die Triangel in deinen Eiern erklingt hast du es, dann bist du bereit.“
„Okay“, sage ich, und ich stehe in der Abendsonne, hier auf diesem Grün, und mein Schläger pendelt wie das Gewicht einer Uhr die immer nur das \'Jetzt\' anzuzeigen im Stande ist hin und her. Und mit jeden \'hin\' nehme ich den einen Meter des Weges in mich auf, und mit jedem \'her\' einen anderen; und eigentlich sollte mich nun eine Schwere erfüllen, aber es wird leichter und leichter und es scheint, als fließe durch meine Spikes die Energie des Urgesteins aus dem Inneren der Erde, und dann höre ich es leise, diese Klingeln.
„Ich glaub\' ich hab\'s.“
„Dann solltest du es nun tun.“
„Aber ich muss dazu auf den Ball schauen“, sage ich.
„Kannst du, Sportsfreund, er ist nun Teil der Lösung.“
Ich richte meinen Blick nun auf den Ball, als wolle ich ihn in die Grasnarbe nageln, tipple langsam nach vorn, drei-, vielleicht viermal, die Füße dicht über dem Gras, lasse das Pendel weiter schwingen und dann, leicht und weich und kaum spürbar, als führe ich durch den Ball, treffe ich ihn. Und er nimmt Fahrt auf, rollt durch die kleine Senke, wobei er dort seine Richtung zu ändern scheint, rollt erst nach links und dann in einem rechten Bogen wieder aus der Senke heraus, und in diesem rechten Halbkreis rollt er nun direkt auf das Loch zu, wird langsamer und langsamer und kommt am Lochrand zur Ruhe; nur für einen Augenblick, und ich meine, sein Logo erkennen zu können, und dann dreht er sich noch einmal - vielleicht nur eine viertel Umdrehung, vielleicht etwas mehr – und fällt mit einem heiseren Plop in den Plastikeinsatz. Und diese Plop schwebt nun über den Hügeln und hallt von den Pappeln wieder, und Clemens kommt aus der Hocke – wie schafft er das nur so schnell? - streckt mir den Arm zum Hight-Five entgegen, und unser \'Chacka\' vermischt sich mit dem schwebenden Plop und dem Klingeln der Triangel.
„Nun hast du\'s, Sportsfreund.“
„Ja, jetzt hab\' ich\'s.“

Wir sind auf dem Weg zum Clubhaus. Am Horizont schmilzt die Sonne in die Täler und der Westwind trägt ein paar leise Stimmen zu uns herüber. Ich bleibe stehen und drehe mich noch einmal um. Tief in die Senke gebettet liegt nun der Platz vor mir. Und wie ich hier oben stehe, da wirken die Bahnen, wie sie eine nach der anderen im Sonnenlicht liegen, wie Dinge die ich bald erleben werde – Weite , Einklang, Jetztheit; alles scheint so klar, jeder Weg, jede Richtung, jedes Ziel. Und mein Blick wandert nun entlang der Weidenhecke bis zu meinen Füßen, und dort hängt, an zwei langen Fäden, mein Schatten an mir; wie eine Marionette, die in der Ferne auf den nächsten Vorhang wartet.
\'\'Na Sportsfreund, kümmre dich nicht um den.\'\'
Clemens schiebt seine Brille auf die Stirn und reibt sich mit der Linken den Nacken. 
\'\'Der holt dich schon wieder ein.\'\'
\'\'So ist es wohl\'\'.
Und ich suche nun in meiner Tasche nach einem Zigarillo, zünde ihn an und ziehe ein paarmal tief durch. Als ich mich wieder umdrehe sehe ich, dass Clemens schon vorausgegangen ist. Mit der rechten Hand zieht er den Golfwagen und der linke Arm erzählt wild fuchtelnd Geschichten in den Abendhimmel. So stolziert er dahin und wird kleiner und kleiner. Ein violetter Tupfer, der mal hier mal dort auftaucht, fast fließend, wie ein Tropfen der sich langsam mit der Flut vermischt. Ich ziehe noch einmal am Zigarillo, und versuche dem Punkt zu folgen. Aber aus einem werden zwei, dann vier, dann acht, immer mehr und mehr, und immer kleiner und kleiner, bis nichts mehr zu erkennen ist. 
Nicht Clemens, und nicht sein Wagen. 
Was\'n Teufelskerl.
 

Vera S

Mitglied
Lieber Vagant,
ich habe bisher Golf für etwas sehr Langweiliges gehalten. Dass ich deine Erzählung aufmerksam und ohne abzusetzen las, zeigt dir, dass du es vermocht hast, das Golfspielen lebendig werden zu lassen, jedenfalls für mich. Natürlich liegt das besonders an Clemens und an diesen kleinen stilistischen Kniffen: der Haken schlagenden Nase, den kurzen Hosen des vergangenen Jahrhunderts, etc., außerdem gewinnt der Sport durch die ernsthaften Dialoge der beiden unterschiedlichen Männer an Tiefe. Warum "Sportsfreund"? Das erinnert mich an die deutsche Synchronisierung der Neuverfilmung von "The Great Gatsby", weil es mir dort in seiner Penetranz so unangenehm auffiel. Dafür kannst du natürlich nichts.

An wenigen Stellen sind mir kleine Fehler aufgefallen: "aufs [blue]Trefflichste[/blue]..." und später: "Er wackelt einige [blue]Male [/blue]hin und her..."
Warum sagst du über seine Augen "Fenster der Melancholie"? Das klingt sehr poetisch, vielleicht auch ein wenig pathetisch, aber Clemens wirkt auf mich keineswegs melancholisch. Warum hast du die Formulierung gewählt?
Beim Apostroph ist immer ein Schrägstrich, das lässt sich löschen.


Ds Lesen hat mir Spaß gemacht!
Viele Grüße
Vera
 
L

lilaluna

Gast
Hallo Vagant,

ich habe bisher Golf für etwas sehr Langweiliges gehalten. Dass ich Deine Erzählung aufmerksam und ohne abzusetzen las, liegt nicht daran, dass ich Golf nun plötzlich für interessant hielte. Ich halte es auch nach dieser Lektüre als für den Betrachter ähnlich spannend wie Stippangeln, Curling oder Cricket.

Der Satz
Es scheint als ziehe der Schlagerkopf (Schläger?) seine(n) Bahnen in einer fernen Galaxie, und statt der Leichtigkeit und der Weite spüre ich nur ein Stechen im Rücken und die Enge meiner Gedanken.
hatte es mir angetan und ich hatte gehofft, etwas von den Gedanken dieses "lyrischen Spielers" zu erfahren.

Leider war dem aber nicht so. Der Geschwätzigkeit dieses "Clemens" entrinnt man nicht; man muss sich unentwegt belehren lassen über dies und das, was zwar direkt mit dem Golfsport, aber so gar nichts mit den "eigenen Gedanken" zu tun hat, die anfangs versprochen wurden. Die paar pathetischen Landschaftsbeschreibungen, die völlig unmotiviert auftauchen und herumstehen wie ein einsamer Fischreiher im Golfteich, trösten da wenig bis gar nicht.

Ich kenne diese Art der Berichterstattung aus den Jubiläumsschriften von Angel-, Golf- und Reitsportverbänden, wo die Autoren bemüht sind, Fachkunde mit einer Art "Belletristik" zu paaren.

Das geht in der Regel schief, denn keiner dieser Helden wagt es wirklich, das Fachchinesisch zu verlassen und zu den vorgegebenen Rhythmen oder Harmonien ein Lied zu singen, das noch keiner gehört hat. Der Widersinn eines Golfspiels, der aberwitzige Aufwand, der sein Ende in einem Mauseloch findet; das Fehlen jedweder erotischer Komponente, stattdessen Konventionen und ein bis zur Unnatürlichkeit getrimmter Rasen könnten, zum Beispiel, tatsächlich Gedanken freisetzen, die antagonistisch sind und Sehnsüchte erkennen lassen.

Leider findet sich in dieser Story nichts dergleichen. Sie bleibt unermüdlich direkt am Sujet und endet schließlich in einem Bagger-Vance-Schlussbild, das den Verdacht nährt, der Autor habe den Hollywood-Schinken die ganze Zeit auf dem Brotzeitteller gehabt. Es wurde leider versäumt, dessen ohnehin schwer verdauliche Scheiben mit ein bisschen Meerettich, Gürkchen und einem Sommersalat genießbar zu machen.

Tipp, Vagant: Ein bisschen weniger Fachausdrücke und Prunken mit Insiderwissen, dafür aber eine Figur oder eine Handlung einführen, die dem Text seinen gähnend langweiligen Absolutismus raubt. Notfalls könnte man in dem "Jüngeren", der hier vorgeführt wird, soviel Selbstvertrauen wachsen lassen, dass er seinem ungebetenen, virtuellen Mentor am Ende mit einem 3er Eisen ganz analog den Scheitel zieht. Das wäre dann wenigstens ein anderer Schluss als der angebotene, recht abgenudelte.

Oder lass ihn bei jedem Schlag von einem Mädchen träumen, das im Vereinsheim herumhängt und sich die Strapse richtet. Das wäre vielleicht noch besser.

Nichts für ungut und liebe Grüße

lilaluna
 

Vagant

Mitglied
Eine Runde mit Clemens

Clemens ist groß und hager und sein Gesicht trägt die Züge eines Asketen. Seine Nase schlägt einen scharfen Haken, und die kleinen braunen Augen, diese Fenster der Melancholie, sind ständig in Bewegung. Er trägt das Haar im Nacken lang und seine Ohren balancieren eine abgewetzte Tweedmütze; was ihm etwas Verwegenes verleiht. Seine Tasche, ein alter Köcher aus grünem Leder, sieht aus wie ein Dachbodenfund. Er hat nur wenige Schläger im Bag. Einen Putter, der schon aus der Mode gekommen war als das vergangene Jahrhundert noch kurze Hosen trug, ein rostiges Wedge für den Sand, drei oder vier Eisenschläger, unterschiedliche Fabrikate - hier nur durch Zufall zu einem Set vereint - und ein Holz fürs lange Spiel, alt und mit Kerben übersät. Er hätte alles was er braucht, sagt er, legt den Kopf fachmännisch schief und sagt dann, dass viel Brei nur den Koch verderbe. Er geht – nein er stolziert mehr als er geht, denn er rollt die Füße sorgfältig von der Ferse bis zu den Zehen ab - er stolziert also jene Strecken entlang, mal hierhin und dann wieder dorthin, berührt den einen Baum mit der Hand, und dann wieder einen anderen, erreicht seinen Ball, zieht einen Schläger aus der Tasche - immer die richtige Wahl – richtet sich aus, sorgfältig Maß nehmend, als hänge nun alles nur davon ab, schwingt ein-, zweimal trocken nach einem imaginären Ball bis der Schaft mit einem lauten Pfeifen durch die Luft peitscht, und wie er so da steht, im Gegenlicht, lang und hager, mit dem Schläger fuchtelnd, sieht er aus wie eine grotesk große Gottesanbeterin. Aber die Dinge laufen gut für Clemens. Und sie laufen nicht nur gut, auch scheinen sie zu ihm zu sprechen, ihm zu sagen was zu tun ist und wie das Spiel zu spielen ist.

Zu mir sprechen sie nicht. Heute nicht, und ich bin mir nicht mal sicher, ob sie jemals zu mir gesprochen haben. Es scheint als ziehe der Schlagerkopf seinen Bahnen in einer fernen Galaxie, und statt der Leichtigkeit und der Weite spüre ich nur ein Stechen im Rücken und die Enge meiner Gedanken. Gehemmt, fast verzagt gehe ich die Spielbahnen entlang und meine Bälle verkriechen sich im Niemandsland voller knöchelhoher Schafgarbe, oder sinken auf den Grund der Weiher. Dass dies nun aber ein teures Vergnügen sei, bemerkt Clemens und nennt mich 'Sportsfreund' dabei. Sportsfreund? Was soll das denn werden? Diese Art juveniler Anrede brauch ich nun mal gar nicht, soviel ist mal klar, und ich sage, dass es heute ohnehin kein richtiges Vergnügen ist, nur dass das mal klar ist. Und so gehen wir Spielbahn für Spielbahn und ich imitiere aufs trefflichste einen Mann der Spaß hat an dem was er tut.

Wir stehen am Abschlag.
„Ich werd' mein Brassie nehmen“, sagt Clemens.
„Dein was?“
„Den Brassie“, und er zeigt auf sein Dreier-Holz.
„Ach so, das Dreier.“
„Wurde früher Brassie genannt.“
„Wann früher?“
„Viel früher. Zu meiner Zeit.“
Und nun muss ich lachen, denn ich weiß, dass die Schläger einmal Namen hatten, aber datiere das irgendwo um achtzehn-hundert-schießmichtot.
„Schön das du auch mal lachst, Sportsfreund. Machst ja sonst einen eher verspannten Eindruck.“
„Sorry, aber es läuft heute einfach nicht“, versuche ich mich zu entschuldigen. „Und wenn's denn halt nicht läuft, dann macht's auch keinen Spaß.“
„Es kann nur laufen wenn du bereit bist.“
„Wozu?“
„Es laufen zu lassen.“
„...hm.“
Clemens zieht den Schläger aus dem Köcher und stellt sich an den Ball. Er wackelt einige male hin und her, setzt nochmal ab und schaut zu mir.
„Früher trugen die Schläger Namen, Sportsfreund. Brassie und Spoon, Mashie oder Niblick und was-weiß-ich-nicht-noch-alles. Man hat es verstanden die Dinge zu beseelen, ihnen Leben einzuhauchen. Wie trostlos dagegen ist das Dasein eines Eisen-Sechs?“
Mein Gott, der Alte scheint einen ausgeprägten Hang zur Esoterik zu haben. Ich muss auf der Hut sein.
Clemens schaut wieder zum Ball und schlägt ihn auf das Grün.
„Schöner Schlag“, sage ich.
„Ja, das gute alte Brassie, auf das ist Verlass. Nun bist du dran; Lass es laufen, Sportsfreund.“
Der Blick vom Abschlag hinunter in die kleine Senke die nun in später Nachmittagssonne vor mir liegt lässt mich wieder die Dimensionen des Spiels erahnen. Ich versuche mich an irgendeinen Tipp zu erinnern, etwas was mir nun helfen könnte, und das einzige was mir einfällt ist; tue so als würdest du nur so rum stehen und nichts Besonderes vorhaben. Und so tue ich es - und ich tue es gut, und Clemens sagt, dass dies ein exzellenter Schlag gewesen sei, und ich höre mich irgendetwas mit 'Brassie' und 'Verlass' sagen. 

Wir gehen über ein Fairway.
„Du weißt, Sportsfreund, dass auf vielen Plätzen auch die Bahnen ihre Namen haben?“
„Ja schon, aber es erscheint mir wenig sinnvoll auch noch den Gegner zu beseelen.“
„Gegner?“
„Ja, ich gegen den Platz; der Sinn des Spiels.“
„Versuchs doch mal mit: Ich mit dem Platz.“
„Mir reicht eine übersichtliche Nummerierung völlig.“
Clemens schaut mich mit einem milden Lächeln an und sagt:
„Manchmal ist es ja einfach nur eine Warnung“.
„Eine Warnung?“
„Ja, eine Warnung. Shipwreck, zum Beispiel.“
„Shipwreck?“
„Ja, Schiffswrack. Irgendwo am Lake Michigan.“
„Klingt jedenfalls nach Trouble“, sage ich. „The-Tail-of-the-Whale, aber frag' bitte nicht wo das ist.“
„Auch schön“, sagt Clemens.
Sein Blick ist auf irgend etwas entferntes gerichtet. Ich weiß nicht was er sieht, was er wahrnimmt, ob er gerade überhaupt etwas wahrnimmt, oder nur auf eine Brise wartet, die ihm die Gedanken zu zutragen scheint. 
„The-Maiden-Rock, in Sant Andrews, Schottland“, sagt er.
„Klingt aber eher nach einer Verheißung als nach einer Warnung.“
„Aber nur wenn du jung bist.“
„Ginger-Beer, auch in Sant Andrews“, fällt mir ein.
„Das ist doch mal 'ne Warnung.“
„The-Road-Hole“, sage ich, und ich habe es noch nicht ganz ausgesprochen, da fällt mir auf wie abwegig dieser Gedanke doch ist. Road-Hole, mein Gott, wie das schon klingt. In dem Namen liegt keine Lyrik, keine Inspiration, kein Nichts. Es liegt halt an einer Straße. Rechts davon ein riesiges Hotel, vierstöckig, wenn ich nicht irre, grauer Naturstein, und links die See, immer kabbelig und oftmals grantig; Schottland halt. Aber Clemens greift den Gedanken gar nicht auf. 
„The-Last-Easy“, sagt er.
„The-Last-Easy? Wow, das gefällt mir, und wenn's die Achtzehn ist, ist's okay.“
„Es war die Drei.“
„Die Drei?“
„Drei“, und als müsse er dies nun extra bekräftigen streckt er drei Finger in die Luft.
„Du hast es selbst gespielt“, und es ist mehr eine Feststellung als eine Frage, denn sein Blick und die Art wie er die drei anzeigt, lässt keinen Zweifel daran, dass er es erlebt haben muss.
„Teufelskerl“, sage ich.
„Ja. Es war oben in Schottland. Irgend so ein tristes Nest an der Küste. Und ich sag's dir, Sportsfreund, das Wetter war trostlos. Der Wind wehte stramm von Meer herüber und hatte 'ne Ladung klatschnassen Regen im Gepäck. Ich war allein, kein Mensch geht bei solch einem Wetter vor die Tür, und selbst der Platzwart schien an die Ofenbank getackert zu sein. 's wäre besser für seine Gesundheit, sagte er. 
„Ja, bei solch einem Wetter bleibt man besser daheim.“
Aber ich bin nun gespannt auf die Geschichte und nicke Clemens kurz zu.
„Ich komme also auf den Platz. So ein ruppiges Dünending, heidegesäumte Fairways und Bunkerkanten so hoch, dass ich darin stehen konnte. Ein paar kleine, knorrige Bäume mit zerzausten Kronen, die alle in Richtung der Stadt zeigten. Windflüchter, verstehst'e Sportsfreund. Und alle schienen sie zu rufen: sieh zu, dass du Land gewinnst!
„Und, bist'e weg?“, unterbrach ich ihn.
„Ach, i-wo. Ich habe es nicht verstehen können. Ich dachte, es sei das Heulen des Windes.“
„Du willst mich auf den Arm nehmen?“, und ich lupfe mit dem Zeigefinger kurz das Lid.
„Ich sag' dir, Sportsfreund, ich habe auf den ersten zwei Löchern fünf Bälle verloren. An der Drei suchte ich Schutz hinter einer Hecke um meine Brille zu putzen. Ich ging in die Hocke, klaubte ein Taschentuch aus der Jacke, rieb das Ding notdürftig trocken, und da sah ich die Sandsteinplatte. Sie stand direkt vor mir und ich konnte es deutlich lesen: Hole 3, Par 4, 376 yard, 'The Last Easy'.“
„Und wie ging's nun weiter?“
„Ich hatte es zwar gelesen aber nicht verstanden. Ich spielte natürlich weiter, verlor Ball um Ball und der Wind und der Regen machten mich mürbe. Nach den ersten neun Löchern hatte ich alles verschossen was ich bei mir hatte und so ging ich, nolens volens, zurück zum Auto. 's ist halt manchmal so.“
„Wie ist es?“
„Mal gewinnst du, mal gewinnt der Platz.“
Hilfe, was soll das denn jetzt? Mal gewinnst du, mal gewinnt der Platz? Nicht, dass Clemens ohnehin schon schrullig genug ist, nein, nun entpuppt er sich auch noch als Überbringer der einfachen-Botschaft. 
„Und für diese Erkenntniss hast du ganze neun Löcher gebraucht?“
„An diesem Tag schon.“
Er schaut mich an, reibt sich das Kinn und mir scheint, als wolle Clemens mir noch etwas sagen, aber er lächelt nur, schlägt seinen Ball und geht weiter.

Einfache Botschaft hin, einfache Botschaft her; die Dinge laufen nun besser für mich.
Wir gehen nun meist Schulter an Schulter, Clemens erzählt die eine oder andere Geschichte und ich beginne mich in seiner Nähe wohl zu fühlen. Er erzählt, dass er mal hier, mal dort gespielt habe, nie mehr als zwei aufeinanderfolgende Saisons Mitglied in einem Club war, sich im Alter (was meint er mit 'Alter'?) entweder hier oder anderswo niederlassen will und sich eventuell noch dieses oder jenes Hobby zu zulegen gedenkt. Der Alte bleibt im Vagen, und ich höre auch nicht immer so genau zu. Und so gehen wir, schlagen unsere Bälle, gehen wieder, schlagen wieder. Clemens Ball liegt immer genau dort wo er ihn hinspielen wollte. Für meinen Ball, sagt er, scheint jedes Schilfrohr ein Affront zu sein, worauf ich sage, dass ich wohl heute der Spezialist für interessante Lagen sei.

Wir stehen auf einem Grün und Clemens kickt mir den Ball zurück.
„Hier, Sportsfreund, Versuchs noch mal.“
„Sicher?“
„Stell' dich ein Fußbreit vom Ball weg und fang' an zu pendeln.“
Ich lege meine Hände sorgfältig um den Griff, richte den Blick starr auf den Ball und beginne mit dem Schläger hin und her zu pendeln.
„Wo guckst du hin?“
„Auf den Ball. Wohin denn sonst.“
„Der Ball ist das Problem, vergiss ihn.“
Ich schwenke nun meinen Kopf bis ich das Loch sehen kann. Es scheint, als wolle diese kleine weißgeränderte Ding in der Ferne verschwinden und mein Pendel bekommt schlagartig eine erdige Schwere.
„Wer hat gesagt, dass du zum Loch gucken sollst?“
„Irgendwo muss ich doch hin schauen.“
„Vergiss das Loch. Es ist Teil des Problems.“
„Aber wohin denn dann?“
„Auf die Lösung.“
„Die Lösung, na prima.“
„Ja, die Lösung, und die liegt genau dazwischen. Der Weg zwischen Ball und Loch, dort ist die Lösung.“
Ich schaue nun auf diese leicht geschwungene Ebene, die im Licht des frühen Abends fast silbern schimmert und pendle und pendle, und ich muss nun schon zig mal gependelt haben und hoffe, dass niemand sieht, wie ich hier, versunken in meinen Gedanken in der Sonne stehe und nach dem Geist in der Flasche suche, der irgendwo in mir vergraben zu sein scheint. 
„Wie lange muss ich denn noch?“
Clemens geht nun langsam in die Hocke, legt die Ellenbogen auf seine Knie und beginnt im Rhythmus meiner Bewegung zu wippen.
„Geduld, Sportsfreund. Pendel weiter und versuch' ins 'Jetzt' zu kommen.“
„Wie meinst du das jetzt mit dem 'Jetzt'?“
„Horch' her; du kommst zum Grün und siehst deinen Ball irgendwo liegen - und wenn ich sage irgendwo, dann meine ich auch irgendwo, vielleicht am Grünrand, zehn oder zwölf Meter vom Stock entfernt – und alles was du denkst ist, dass du irgendwann schon einmal dort gelegen hast.“
„Ja, genau so ist es“, sage ich.
„Das weiß ich. Und dann denkst du an dein Scheitern, an die drei Puts die nötig waren, und schon bohren die negativen Gedanken in dir und du verfängst dich im 'Gestern'.“
Mir steht der Schweiß auf der Stirn und meine Schultern verspannen von der ewigen Pendelei. 
„Okay, nächstes Szenario; du kommst zum Grün und siehst den Ball zwei Meter neben der Fahne, das Grün ist völlig eben - kein Break könnte die Kugel vom Weg abbringen. Du denkst dir; nichts leichter als das und schreibst dir im Geiste schon das Birdy auf die Karte. Du bist schon im 'Morgen' obwohl du im 'Jetzt' sein solltest.“
„Morgen? Ich notiere meinen Score immer sofort.“
„Morgen, Gestern – egal wie du es nennst. Wichtig an der Erkenntnis ist doch nur, dass du dich nie im \'Jetzt\' befindest, dass du dich immer in den Dingen verlierst, die geschehen sind, oder noch geschehen werden.“
„Und wie lange sollte ich nun noch pendeln?“
„Bis du das 'Jetzt' spürst. Erst spürst du es in den Händen, von dort aus geht es in die Arme, dann in die Schultern – sie werden frei und alles scheint dann leicht – dann fließt es durch deinen Brustkorb in die Lenden. Und wenn du es dann hast, wenn du das alles spürst, dann ertönt diese Klingeln in den Eiern.“
„Ein Klingeln? In den Eiern?“
„Wenn die Triangel in deinen Eiern erklingt hast du es, dann bist du bereit.“
„Okay“, sage ich, und ich stehe in der Abendsonne, hier auf diesem Grün, und mein Schläger pendelt wie das Gewicht einer Uhr die immer nur das 'Jetzt' anzuzeigen im Stande ist hin und her. Und mit jeden 'hin' nehme ich den einen Meter des Weges in mich auf, und mit jedem 'her' einen anderen; und eigentlich sollte mich nun eine Schwere erfüllen, aber es wird leichter und leichter und es scheint, als fließe durch meine Spikes die Energie des Urgesteins aus dem Inneren der Erde, und dann höre ich es leise, diese Klingeln.
„Ich glaub' ich hab's.“
„Dann solltest du es nun tun.“
„Aber ich muss dazu auf den Ball schauen“, sage ich.
„Kannst du, Sportsfreund, er ist nun Teil der Lösung.“
Ich richte meinen Blick nun auf den Ball, als wolle ich ihn in die Grasnarbe nageln, tipple langsam nach vorn, drei-, vielleicht viermal, die Füße dicht über dem Gras, lasse das Pendel weiter schwingen und dann, leicht und weich und kaum spürbar, als führe ich durch den Ball, treffe ich ihn. Und er nimmt Fahrt auf, rollt durch die kleine Senke, wobei er dort seine Richtung zu ändern scheint, rollt erst nach links und dann in einem rechten Bogen wieder aus der Senke heraus, und in diesem rechten Halbkreis rollt er nun direkt auf das Loch zu, wird langsamer und langsamer und kommt am Lochrand zur Ruhe; nur für einen Augenblick, und ich meine, sein Logo erkennen zu können, und dann dreht er sich noch einmal - vielleicht nur eine viertel Umdrehung, vielleicht etwas mehr – und fällt mit einem heiseren Plop in den Plastikeinsatz. Und diese Plop schwebt nun über den Hügeln und hallt von den Pappeln wieder, und Clemens kommt aus der Hocke – wie schafft er das nur so schnell? - streckt mir den Arm zum Hight-Five entgegen, und unser 'Chacka' vermischt sich mit dem schwebenden Plop und dem Klingeln der Triangel.
„Nun hast du's, Sportsfreund.“
„Ja, jetzt hab' ich's.“

Wir sind auf dem Weg zum Clubhaus. Am Horizont schmilzt die Sonne in die Täler und der Westwind trägt ein paar leise Stimmen zu uns herüber. Ich bleibe stehen und drehe mich noch einmal um. Tief in die Senke gebettet liegt nun der Platz vor mir. Und wie ich hier oben stehe, da wirken die Bahnen, wie sie eine nach der anderen im Sonnenlicht liegen, wie Dinge die ich bald erleben werde – Weite , Einklang, Jetztheit; alles scheint so klar, jeder Weg, jede Richtung, jedes Ziel. Und mein Blick wandert nun entlang der Weidenhecke bis zu meinen Füßen, und dort hängt, an zwei langen Fäden, mein Schatten an mir; wie eine Marionette, die in der Ferne auf den nächsten Vorhang wartet.
"Na Sportsfreund, kümmre dich nicht um den."
Clemens schiebt seine Brille auf die Stirn und reibt sich mit der Linken den Nacken. 
"Der holt dich schon wieder ein."
"So ist es wohl".
Und ich suche nun in meiner Tasche nach einem Zigarillo, zünde ihn an und ziehe ein paarmal tief durch. Als ich mich wieder umdrehe sehe ich, dass Clemens schon vorausgegangen ist. Mit der rechten Hand zieht er den Golfwagen und der linke Arm erzählt wild fuchtelnd Geschichten in den Abendhimmel. So stolziert er dahin und wird kleiner und kleiner. Ein violetter Tupfer, der mal hier mal dort auftaucht, fast fließend, wie ein Tropfen der sich langsam mit der Flut vermischt. Ich ziehe noch einmal am Zigarillo, und versuche dem Punkt zu folgen. Aber aus einem werden zwei, dann vier, dann acht, immer mehr und mehr, und immer kleiner und kleiner, bis nichts mehr zu erkennen ist. 
Nicht Clemens, und nicht sein Wagen. 
Was'n Teufelskerl.
 

Vagant

Mitglied
Danke für die Kommentare

Hallo Vera, hallo Lilaluna,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren der Geschichte. Mir geht es hier sicher wie vielen anderen; man ist schon lange wieder mit neuen Sachen befasst, hat andere Geschichten, andere Themen und demzufolge auch einen recht großen Abstand zu den „älteren“ Geschichten. Deshalb möchte ich auch nur kurz auf das Angesprochene eingehen.

„Sportsfreund“ : Der war wohl als stilistisches Mittel zur Figurenkennzeichnung gedacht. Mag sein, dass ich damit etwas übertrieben habe.

„Fenster der Melancholie“ : Hier muss ich Vera absolut Recht geben, denn das Bild passt ja nun so gar nicht zur Figur des Clemens. Beim Schreiben fand ich es allerdings noch gelungen. Aber manchmal sitzt man wohl einfach zu nah an den Dingen.

„Geschwätzigkeit“ : Also zur kritisierten Geschwätzigkeit des Protagonisten nur so viel; die „Geschwätzigkeit“ gehört wie der „Sportsfreund“ zu Figurenkennzeichnung. Ganz so, wie sie von mir gedacht war. Ich denke auch nicht, dass ich hier noch einmal nachjustieren werde. Ich weiß, klingt uneinsichtig. Aber - es ist mein Ding.

„pathetische Landschaftsbeschreibungen“ : ist ein von mir gern benutztes Stilmittel. Ich nutze dieses um a) einen neuen Absatz / Szenenwechsel einzuleiten, b) um eventuell Atmosphäre zu schaffen, c) manchmal um ein bisschen Poesie in den Text zu bringen, und d) um einfach mal billig ein paar Zeilen zu machen.
Du siehst, dass das bei mir keinerlei System hat, keinerlei Gesetzen gehorcht, mal mehr, mal weniger gut gelingt, und die Wirkung auf den Leser auch sehr unterschiedlich sein kann. Also nichts, worüber ich mir beim Schreiben einen Kopf zerbrechen möchte.

„Fachchinesisch“ : Eigentlich nahm ich an, dass ich dem spezifischen Vokabular weitestgehend aus dem Wege gegangen bin. Dies gelingt nun leider nicht immer, und ich denke, dass es sich, egal bei welchen Thema, nicht vermeiden lässt auf bestimmte Fachausdrücke zurück zugreifen. Würde auch unglaubwürdig klingen, wenn Ahab zu Ismael gesagt hätte: „ reich mir doch mal diese komische Schnur mit dem Stock und der Spitze dran.“

Aber, wie von Lilaluna so trefflich formuliert, krankt der Text am Ende doch daran, dass ich es versäumt habe einen wirklichen Konflikt auszutragen.
Mag daran gelegen haben, dass ich den ersten Absatz schon stehen hatte ohne eine genaue Vorstellung vom Plot zu haben. Das Einzig fixe war Ort und Personal. Alles andere hat sich erst während des Schreibens entwickelt. Nach dem Motto: mal sehen wo es hin geht. Heute bin ich (hoffentlich) schlauer.

Die von Lilaluna vorgeschlagen alternativen Enden möchte ich hier mal unkommentiert lassen.

Jedenfalls danke ich für die kritischen Anmerkungen zum Text, und hoffe, dass es das nächste mal halt ein bisschen besser wird.

Liebe Grüße, Vagant.
 



 
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