Eine folgenreiche Tat

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Elenore May

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Der Junge waren vollkommen außer sich. Er schluchzte, warf sich auf den Boden und trommelte mit seinen Fäusten auf die Erde ein. Er versuchte damit die in seinem Innern aufsteigende Hoffnungslosigkeit niederzukämpfen, doch sie ließ sich auch trotz des vielen Gebrülls und der Tränen nicht mehr verdrängen. Da fiel ihm ein, was sein Vater mal mahnend sagte „niemals den Schmerz herausbrüllen, das kann gefährlich werden; damit verrätst du dich!“

Er kniff die Lippen zusammen, unterdrückte die Töne des psychischen Schmerzes und kroch mit einem letzten Schimmer von Hoffnung zu seiner Mutter, die mit weit gespreizten Beinen an einen Felsen gelehnt saß. Er vergrub seinen Kopf an ihrer Brust, murmelte flehentlich bittende Sätze, umklammerte sie und versuchte sich mit angezogenen Knien in die Kuhle ihres langen Hemdes zu schmiegen. Aber keine behütende Hand streichelte ihn, keine tröstenden Worte verließen ihren Mund; nichts geschah, das ihm wieder Mut gegeben hätte.

Er blickte zu seinem Vater, der nur einige Meter entfernt bäuchlings an der Feuerstelle lag. Doch auch er gab keinen Ton mehr von sich; sein Kopf war zerschlagen und glich nur noch einer zähen Masse. Selbst seine beiden älteren Brüder, die sich oft ein Vergnügen draus machten ihn wegen seines geringen Wuchses zu verlachen, lagen eigenartig gekrümmt und leblos auf dem Lehmboden. Wie gerne hätte er sich jetzt ihre Hänseleien angehört!

Keiner von ihnen würde je wieder aufstehen, sagte ihm sein Inneres. Niemals mehr würde ihn seine Mutter umfangen und zärtlich liebkosen; das war Vergangenheit. Er schrie gellend auf (die Mahnung des Vaters hatte er schon wieder vergessen) und krallte sich an ihre Schultern, schüttelte sie und schrie seine Pein in diese toten Augen. Denn er wollte es nicht akzeptieren, es durfte einfach nicht so sein - aber ihr Körper gab nur willenlos nach und rutschte langsam, wie in Zeitlupe, an dem Felsen hinab auf den Boden, während ihr Blut zähflüssig vom Kopf über die Wange tropfte und seine Hände, sein Hemd benetzte.

Trotz des Gefühls der so unendlichen Verlassenheit - hier konnte er nicht mehr bleiben. Sein Vater schärfte ihm das noch vor einigen Monaten ein, als er vor ihm in die Hocke ging, seine Arme festhielt, ihm dabei eindringlich in die Augen sah und sagte „lauf weg, wenn etwas passiert! Versteck dich, bring‘ dich in Sicherheit! Und denke ab dann nur noch an dich – lauf so weit weg wie du nur irgendwie kannst!“ Wie siedend heiß tauchte diese Ermahnung in ihm auf.

Schniefend erhob sich und sah auf Vater, Mutter und seine Brüder. Und ein letztes Mal brüllte er seinen Schmerz in diese unheimliche Stille, die nur vom Zischen des verglimmenden Feuers unterbrochen wurde – aber er konnte diesen Schrei nicht mehr verhindern, er verließ ungewollt seinen Mund.
Er zupfte sein Hemd zurecht und zog den Strick um die Taille enger. Dann ging er, nur noch leise wimmernd, in die Knie und kroch vorsichtig zum Ausgang. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, aus den Augen und spähte mit angehaltenem Atem um die Ecke.

Im milden Licht des Tages lag die sanfte Hügelkette vor ihm, die ihm bisher behütender Hort und Heimat war. Die sich bis zum Horizont ausdehnte und ihn saftig grün anstrahlte; die ihm jetzt abweisend vorkam und ihn in ihrer unendlichen Weite erschreckte.

Alles schien wie vorher zu sein, nichts erinnerte in dieser so friedlich anmutenden Idylle an die Tat hinter ihm. Wie vorüberziehende Schatten waren die den Tod und das Verderben bringenden Männer verschwunden, waren mit den Habseligkeiten seiner Familie in den Dunst des Frühnebels eingetaucht. Er wurde nur verschont, weil er lautlos und in sein Spiel versunken hinter einem Busch nahe am Eingang saß. Keiner der Männer, die seine Lieben erschlugen, ahnte etwas von ihm – denn er hätte es nicht überlebt, er wäre ebenfalls massakriert worden.

Da das Blut der Mutter noch an seiner Kleidung und an seinen Händen klebte, lief er, sich immer wieder ängstlich umsehend, zum Bach, um es abzuwaschen. Er folgte damit einer weiteren Ermahnung seines Vaters „der Geruch von Blut lockt Tiere an. Wasch‘ es deshalb immer sofort und so schnell du kannst ab!“

Als er am Bach schon in die Hocke gehen wollte, sah er das Tier auf sich zuschleichen. Es war nicht groß; es reichte ihm ungefähr gerade mal bis zu den Knien, doch das änderte nichts an der Gefahr „die meisten Tiere können besser kämpfen als du. Dir hilft im Ernstfall nur dein Verstand und der Wille zu überleben. Höre in dich hinein, und es wird dir gesagt werden, was du zu tun hast“, meinte sein Vater vor kurzem noch, als er von einem kleinen Tier schmerzhaft in die Hand gebissen wurde, da er dessen Gefährlichkeit komplett unterschätzt hatte.

Wie erstarrt blieb er stehen und schrie mit sirrendem Ton auf: Die Augen und den Mund weit aufgerissen, die Arme zur Seite gestreckt, die Finger abgespreizt, die Beine dicht nebeneinander gestellt - dann setzte sein Fluchtreflex ein.
„Versuche nachzudenken, Flucht ist keine gute Lösung – so gut wie alle Tiere sind schneller als du“, sagte ihm in Gedanken sein Vater, als er sich schon umdrehen und losrennen wollte. Also blieb er und versuchte nur, mit vorsichtig nach hinten gerichteten Schritten, einen Busch zwischen sich und das Tier zu bringen, doch es schlich ihm mit kleinem Abstand hinterher.

Ihm fiel ein, was ihm der Vater zu den Signalen sagte, die einem Angriff vorangehen. Und obwohl sein ganzer Körper vor Angst schlotterte und sein Atem pumpte, versuchte er die Bewegungen des Tieres, seinen Ausdruck zu deuten:
Es zeigte zwar seine Zähne und knurrte leise, aber seine Ohren waren steil aufgerichtet. Die Augen wirkten groß und rund, die Rute hatte es eingekniffen. Dazu rückte es in leicht geduckter Haltung unmerklich nach hinten weg, die großen Pfoten an den langen Beinen setzte es dabei vorsichtig und verhalten auf. Dann blieb es abwartend stehen, drückte die Vorderläufe steif durch, nahm die Brust nach vorne und den Kopf etwas zurück, knickte die Hinterläufe ein, behielt ihn aber fest im Blick – und es zitterte ebenso wie er!

Er vergaß für einen Moment seine eigene Tragödie und dachte 'wer hat hier wohl mehr Angst?' Er ging in die Knie, senkte den Kopf, ließ die Arme locker fallen und lächelte, ohne das Tier direkt anzusehen.
Er überlegte - eigentlich war es nur ein kleiner Haufen Fell, der da vor ihm stand. Nichts, was ihn wirklich ernsthaft bedrohen könne, so meinte er. Er griff darum auch nicht nach dem Stock, der zu seinen Füßen lag, denn das hätte die Situation nicht unbedingt verbessert (wieder etwas, das ihm sein Vater beibrachte).
Bei dem Gedanken an ihn schossen ihm erneut die Tränen in die Augen. Er kauerte sich zusammen, versteckte das Gesicht zwischen seinen Knien und schluchzte in sich hinein. Und für diesen einen Augenblick vergaß er die mögliche Gefahr vor ihm.

Das Tier sah ihm zu; es stellte den Kopf schief, hob die Ohren neugierig an und lauschte. Es richtete sich etwas auf und hob die Rute, bis sie mit dem Rücken zusammen eine gerade Linie bildete. Eine Weile verharrte es in dieser Position; beobachtete, dann entschloss es sich offenbar Kontakt aufzunehmen.
Langsam näherte es sich auf sorgsam aufgesetzten Pfoten. Schließlich stand es ihm direkt gegenüber und blickte auf den gesenkten Kopf herab. Es hob zögernd eine der Vorderpfoten an und legte sie weich federnd auf eines der nackten Knie des Jungen.

Da er den Kopf noch zwischen den Knien hatte, sah er die Aktion des Tieres nicht. Aber diese plötzliche Berührung löste den Alarm ‚ich werde angegriffen‘ in ihm aus. Er zuckte zusammen, kreischte auf und fuhr, bis ins Mark erschreckt, hoch.
Auch das Tier machte einen Satz nach hinten und blieb mit einem Meter Abstand, die Rute wieder gesenkt, die Ohren nach hinten geklappt, vor dem Jungen stehen. Es sah ihn aber weiter an; den Kopf voller Interesse schief gestellt, mit leicht geöffnetem Fang, ohne jedoch die Zähne zu zeigen – es hatte wohl seine Angst vor dem Jungen überwunden, blieb aber vorsichtig.

Der Junge spürte jetzt ganz deutlich, hier gab es wirklich nichts zu fürchten. Er ließ sich wieder in die Hocke fallen und lockte das Tier mit leisen Lauten zu sich heran.
Und es kam; erst zögerlich – doch dann schien es Mut zu fassen. Endlich stand es dicht vor ihm und ließ sich mit seiner Breitseite gegen die Knie des Jungen fallen. Es drehte seinen Kopf zu ihm und sah dem Jungen, jetzt auf gleicher Höhe, mit seinen gelb/braunen Augen ins Gesicht.

Der Junge nahm die Hände aus seinem Schoß und ließ sie sanft über das graue Fell des Tieres gleiten. Er fühlte den ausgemergelten Körper darunter und spürte die Rippen, auf denen sich noch nicht mal die Spur einer Fettschicht ertasten ließ.
Zaghaft streichelte er weiter – und fand plötzlich Trost und Schutz durch die Nähe dieses Tieres, durch die Wärme dieses unbekannten Wesens, das irgendwie genauso alleine zu sein schien wie er.
Zuerst noch verhalten, doch dann immer mehr schmiegte sich das Tier in seine Hände, rieb seinen Kopf an den nackten Armen des Jungen und drückte sich eng an ihn. Er dagegen legte seine Wange in die dargebotene Fellflanke und weinte tonlos; bis das Tier seinen Kopf gegen den des Jungen schmiegte und mit rauer, aber herrlich warmer Zunge seine Tränen ableckte. Da musste er lachen, es kitzelte...

So begann ihre Gemeinsamkeit – doch es stand ihnen eine schwere Zeit bevor: Sie mussten lernen, wie man zusammen jagt, wie Essbares zu beschaffen ist. Dabei erinnerte sich der Junge immer wieder daran, was ihn der Vater dazu noch lehrte.
Zuerst war es nur bereits verendetes Wild, das sie ergattern konnten; und selbst das zu erbeuten war schwer genug, denn die Geier überließen ihnen nichts freiwillig. Sie mussten mit Tricks arbeiten, täuschten im Zusammenspiel und wurden immer erfolgreicher.

An vielen Tagen knurrten trotzdem ihre Mägen und es gab es nichts außer Beeren, Wurzeln und Kräutern. Welche sie davon essen konnten, wusste der Junge noch von seiner Mutter.

Sein Gefährte fing an seinen Instinkt einzusetzen und entwickelte sich nach und nach zu einem ausgezeichneten Jäger. Der Junge lernte vieles von ihm: wie man sich geräuschlos anschleicht, geduldig wartet, und wie man im richtigen Moment zupackt.

Sie blieben zusammen. Teilten und vertrauten sich bedingungslos und schützten sich gegenseitig. Sie wärmten sich am Feuer, dessen Gebrauch und wie es zu entfachen ist, der Vater dem Sohn noch zeigte, bevor er umgebracht wurde.

Sie wurden größer und stärker. Sie suchten und fanden Partnerinnen, bauten Familien auf. Trotzdem blieben sie immer in der Nähe des anderen, teilten die Höhle miteinander und standen füreinander ein, wenn Verteidigung nötig wurde.
Später dann lernten ihre Kinder von klein auf die Gemeinschaft untereinander zu schätzen. Als sie langsam flügge wurden, machten sie es ihnen gleich: sie beschützten sich gegenseitig und gingen gemeinsam auf die Jagd.

Nach und nach lösten die erwachsen gewordenen Kinder die beiden Alten ab. Doch sie gaben die Zuverlässigkeit dieser Verbindung von Generation zu Generation weiter - zwischen dem ehemaligen Knaben vor, wahrscheinlich, Tausenden von Jahren mit dem zuerst noch halbwüchsigen, von seinem Rudel verstoßenen Wolfsrüden.

So könnte sie vielleicht begonnen haben - die Verbindung von Mensch und Wolf, aus dem später der Hund wurde. Diese Verbindung, die heute noch hält, wenn wir Menschen sie zulassen...
 

Rafi

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Liebe Elenore May,

nun ja, so hätte es sein können damals, als Mensch und Wolf zueinander fanden …
Doch scheint mir Deine Geschichte eher wie eine Art „fiktive Dokumentation“ denn wie eine Erzählung. Was Anfangs noch ausführlich beschrieben wurde, verliert sich mit der Zeit in großen Sprüngen. Mir fehlt ein bisschen die Spannung, die wirkliche „Kunst des Erzählend“, Niederlage, Sieg, Triumph, Trauer, Liebe, Hass, Rache, Vergebung … Und ich glaube auch, dass vor Tausenden von Jahren ein kleines Kind, schutzlos, schwach, von wilden Tieren eher als Zwischenmahlzeit denn als Freund fürs Leben betrachtet worden wäre. Natürlich versuchst Du, dieses Knick aufzulösen, indem ja der Wolf selbst noch ein Wölfchen war. Aber in all den Jahren, in denen das Paar offensichtlich erfolgreich zusammen war in einem Umfeld, das wahrscheinlich so gar kein Mitleid mit zwei verstoßenen Waisen hatte, hätten meiner Meinung nach doch mehr Schwierigkeiten aufkommen müssen.
Du wirfst mich als Leser mit den ersten Sätzen in eine brutale Situation hinein, deren Auflösung leider nie kommt. Wie schade. Ich habe mir die Situation vorgestellt: Kleiner Junge, schwächlich, hilflos, findet seine gesamte Familie (da wusste ich noch nicht, dass es vor so langer Zeit spielt) bestialisch erschlagen vor. Das Kind tut, was wohl jedes Kind in dieser Situation täte: Es klammert sich heulend an seine tote Mutter. So weit, so gut. Doch dann trifft der Knabe einen jungen Wolf, und offensichtlich haben ihm Vater und Mutter so viel beigebracht, dessen er sich nun erinnert, dass er gleich einem Tarzan ohne hilfreiche Affen oder einem Mowgli ohne Balu und Baghira mal so ganz locker in der Wildnis überlebt. Irgendwie unglaubwürdig.
Mich persönlich würde es freuen, machtest Du aus dieser „historischen Begebenheit“ eine Geschichte. So eine mit Anfang, Mittelteil und Ende, mit Spannungsaufbau und Hintergrund. Ich würde sie prompt noch einmal lesen …

Nichts für Ungut und lieben Gruß
Rafi
 

Elenore May

Mitglied
Hallo Rafi,
danke für Deine Zeilen.
Sicherlich, eine Erzählung im klassischen Sinn ist diese Geschichte nicht, hätte sie wohl in einer anderen Rubrik unterbringen sollen.
Was die Kritikpunkte anbetrifft: Möglicherweise gehst Du vom Ist-Zustand aus - also von der Jetzt-Zeit, wo wir alle größtenteils nur noch verweichlichte Zeitgenossen sind.
Zum Zeitpunkt dieser Geschichte dürften Kinder -auch im zarten Alter- schon wesentlich weiter in der Entwicklung gewesen sein, sie lebten ja auch kürzer und mussten bereits sehr früh lernen. Deshalb ist der Junge auch in der Lage die Lehren seines Vaters umzusetzen.
Für Liebe, Hass, Vergeltung usw., ist in der Geschichte kein Platz, sie spielt auf anderem Terrain.
Deshalb macht es auch keinen Sinn die Geschichte nochmals neu zu schreiben, sie bewegt sich nun mal nicht in diesem Feld.
Aber das sieht nun mal jeder anders, ist ja auch gut so...
beste Grüße
Elenore
 



 
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