Eine klare Entscheidung

Buffy

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Eine klare Entscheidung
© 2003 by KW <Buffy>

Sie wollten ihn töten. Langsam. Raffiniert. Sie würden keine Spuren hinterlassen. Er spürte ganz deutlich, wie das Gift sich in seinem Körper immer weiter ausbreitete. Schon lange war er sich dessen bewusst. Verzweifelt stellte er sich immer und immer wieder die Frage, welches dieser verdammten Gifte es denn sein könnte, das im
menschlichen Körper keine Spuren hinterlässt? Er hörte wie gebannt auf diese Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien. Diese unüberhörbare Stimme, die ihm nur
Befehle erteilte, nur Forderungen an ihn stellte, die ihn ständig zu kontrollieren schien. Diese dunkle, dröhnende Stimme, die so eindringlich, bestimmend und so schmerzhaft war. Vor der er sich fürchtete, und die er nicht mehr aus seinem Kopf bekam. Panik
erfasste ihn bei dem Gedanken, die Stimme meinte wirklich ihn. Er wusste doch
manchmal selbst nicht genau, wer und wo er war. Er versuchte sich zu erinnern. Fragte sich, wann er angefangen hatte, diese befehlende Stimme zu hören. Ihr eine Wichtigkeit zu geben. Ihrer Anweisung zu folgen. War es, als diese ihm sagte, du wirst verfolgt? War es, als diese ihn vor dem Gift warnte? War es, als diese ihm von seiner Mission
berichtete? Er erinnerte sich. Er lauschte wie gebannt, als sie ihm sagte, er sei geboren worden, um die Menschheit zu retten. War das seine Bestimmung? Wollte er das
überhaupt? Wenn ja, warum? War er ein Auserwählter? Besaß er außergewöhnliche Kräfte, von denen er nichts wusste? Hatte man ihn deshalb ausgesucht? Was war das Besondere an ihm? Warum wurde gerade er gewählt? Er schluckte heftig. Im
Fieberwahn versuchten seine Augen die Stimme zu orten, die nicht aufhörte zu reden. Er konnte ihr schon lange nicht mehr folgen, das Gesagte nicht verstehen. Manchmal glaubte er einen Schatten, einen Umriss zu sehen. Eine Gestalt, die sich im Nichts
aufzulösen schien, sobald er versuchte, sich ihr zu nähern. Unruhig, nur mit seinem Pyjama bekleidet, lief er in seinem kleinen Appartement auf und ab. Wahllos. Ziellos. Gedankenlos. Er blickte sich unsicher um. War es wirklich sein Appartement? Es
erschien ihm fremd. Er suchte verzweifelt nach etwas Vertrautem. Etwas, das er kannte, wiedererkannte. Wie kam er hierher? Wieso war er hier? Die Stimme in seinem Kopf hörte nicht auf. Er dachte an das Gift in seinem Körper. Dieses geruchlose,
geschmacklose Gift, das sie ihm so raffiniert und heimlich gaben, dass er es gar nicht mitbekam. Seit er verfolgt wurde, ließ er sich die Lebensmittel nach Hause liefern.
Natürlich unter einem falschen Namen. Sein Appartement verließ er schon lange nicht mehr. Trank nur abgekochtes Leitungswasser. Alle Spuren, die auf seine Existenz
hinweisen könnten, hatte er beseitigt. Auch das Namensschild an seiner Tür. Angst
quälte ihn bei dem Gedanken, etwas Wichtiges übersehen zu haben. Dann hockte er sich in eine Ecke und überlegte fieberhaft. Seine Gedanken rasten. Er sah Bewegungen, Schatten, die plötzlich auftauchten und sich beim näheren Hinsehen wieder auflösten. Täglich suchte er sein Appartement nach Wanzen ab. Fenster und Türen. Suchte nach Spuren, die seinen Verdacht bestätigten, dass Fremde sich in seinem Appartement
aufgehalten hatten. Manchmal, wenn die Panik ihn zu ersticken drohte, dachte er an Flucht. Er verwarf den Gedanken jedesmal so schnell, wie er gekommen war. Die
Stimme in seinem Kopf lachte ihn nur aus. Renn bis ans Ende der Welt, hörte er sie
sagen, ich bin schon vorher da. Er schluckte erneut. Am liebsten hätte er dann ein
Fenster geöffnet. Hätte frische Luft geatmet. Doch er wagte es nicht. Niemand durfte auch nur vermuten, dass es ihn gab. Er überlegte. Angriff wäre die beste Verteidigung. Aber gegen wen? Wer hatte ein Interesse daran, ihn zu beseitigen? Geheimdienst? KGB? Spionageabwehr? Außerirdische? So sehr er sich auch abmühte, ihm fiel ums Verrecken niemand ein. Er verfügte über keine Staatsgeheimnisse. Besaß kein
Rauschgift. Was hätten Außerirdische von seinem Tod? Nichts, sagte er sich! Die
brauchen mich noch für die Versuche. Er war sich sicher, dass er abgehört wurde. Es konnte gar nicht anders sein. Die Stimme in seinem Kopf hörte nicht auf zu reden. Er war überzeugt davon, dass sie seine Gedanken lesen konnte. Verdammt! Ich will nicht sterben, dachte er. Jedenfalls nicht so! Ich brauche Gewissheit. Er schraubte jede
Glühbirne aus, die er finden konnte. Danach nahm er akribisch das Telefon
auseinander. Irgendwo mussten doch diese Wanzen stecken! Verdammt! Aber wo?
Gefunden hatte er bis jetzt noch keine. Seine Killer waren gut. Er war besser. Nie würde er kampflos aufgeben. Ein Schwindel erfasste ihn. Er warf das Telefon an die Wand. Verdammt! Mutter, durchfuhr es ihn. Mutter hatte ihn verraten. Wer sonst? Sie war die einzige, die er eingeweiht hatte. Die Bescheid wusste über die Stimme. Über seine
Mission. Die wusste, dass Außerirdische ihn manipulierten, dass er verfolgt wurde.
Warum Mutter, ausgerechnet du, dachte er verbittert. Der ich vertraut habe und die mich jetzt verraten hat. Die ihren eigenen Sohn vernichten will. Erneut nahm er seine ziellose Wanderung auf. Er wusste doch, dass Mutter ihn hasste, immer gehasst hatte.
Er sah auf seine Uhr. Früher Vormittag, dachte er. Ob er wohl wieder observiert
wurde? Er ging zum Fenster, blickte durch die Gardine auf die gegenüberliegende
Häuserfront. Jeden Hauseingang suchten seine Augen nach verdächtigten Personen ab.
Da! Der Mann mit der schwarzen Lederjacke. Jetzt zündet er sich eine Zigarette an. Warum nimmt der sein Handy? Wen ruft er an? Ihm wurde schwindelig. Seine Beine zitterten, und er setzte sich auf den Stuhl, direkt neben dem Fenster. So konnte er auf die Straße blicken, in der Gewissheit, nicht gesehen zu werden. Er lauschte. Deutlich konnte er die vertrauten Schritte im Treppenhaus hören. Täglich, um die gleiche Zeit, hörte er diesen unverwechselbaren Gang. Er hielt den Atem an. Sie wollten ihn töten. Die Person musste groß und stark sein. Die Schrittfolge war kurz, abgehackt,
unnatürlich laut. Stiefel, dachte er. Die Person trägt Stiefel. Knobelbecher. Großvater trug Knobelbecher. Unverkennbar, er hatte noch das Geräusch der knarrenden
Holztreppe im Ohr, wenn Großvater nach Hause kam. Das Geräusch der nachgebenden Bretter auf jeder Stufe. Er wusste dann sofort, dass Großvater eines seiner belegten
Brote mitbrachte. Ob Großvater wusste, dass er darauf wartete? In diesem
Treppenhaus erzeugten die Schritte ein unheimliches, ein bedrohliches Echo. Scheiß
Beton, dachte er dann. Der Widerhall der Knobelbecher flößte ihm Angst ein.
Großvater trug diese Stiefel während seiner Militärzeit. Oder war es während des
Krieges? Er wusste es nicht mehr. Kam vielleicht Großvater und brachte ihm sein Wurstbrot als Überraschung? Er lauschte. Nein! Das waren nicht seine Schritte.
Großvater war auch nicht groß und stark gewesen. Das war ein fremder Gang. Ein fremder Mensch. Also konnte nur das Militär hinter ihm her sein. Die wollten ihn
beseitigen, mit dem ihm unbekannten Gift. Das sie bestimmt immer in die Lebensmittel taten, die er sich vom Supermarkt nach Hause liefern ließ. Manchmal vergaß er das Gift. Dieses geruchlose, geschmacklose Gift! Hunger brachte ihn dazu, leichtsinnig von den Lebensmitteln zu essen. Danach spürte er immer, wie das Gift mit dem Blut durch
seinen Körper gepumpt wurde. Keine noch so kleine Zelle auslassend. Anfangs hatte er die Tür zum Treppenhaus noch aufgerissen, um den oder die Täter zu entlarven. Doch er stellte sehr schnell fest, dass sie bedeutend schneller waren. Seitdem verhielt er sich ganz ruhig, ging nicht mehr an die Tür. Bemühte sich krampfhaft, den Atem anzuhalten und lauschte dem fremden Gang im Treppenhaus. Ruhig, ganz ruhig, nur nicht
bewegen, dachte er. Sie durften nicht wissen, dass er sich in seiner Wohnung befand. Durften keinen Verdacht schöpfen. Seine zuckenden Augenlider schmerzten und
machten ihn nervös. Er versuchte sich auf einen Punkt im Zimmer zu konzentrieren, aber seine Pupillen starrten ins Nichts. Sein Körper war in Schweiß gebadet, Angst ließ seinen hageren Körper erzittern. Er hatte beschlossen, sein Appartement nicht mehr zu verlassen. Den einzigen sicheren Ort, den er noch hatte. Er würde es ihnen nicht leicht machen, ihnen keine Chance geben. Wenn sie ihn schon töten wollten, dann mussten sie clever sein. Jetzt war es sein Krieg. Er würde seine Feinde besiegen. Wie er in diese
bedrohliche Lage gekommen war, konnte er sich nicht erklären. Aber er wusste
plötzlich, dass er sich auf dem Dach des Hochhauses befand. Er, nur mit dem dünnen Pyjama bekleidet, in dieser schwindelerregenden Höhe. Sie wollten ihn töten. Woher wussten seine Peiniger, dass er unter Höhenangst litt? Mutter! Die musste es ihnen
verraten haben. Er hatte es doch schon immer gewusst: Mutter hasste ihn. Hitze und Kälte lösten sich ab. Seine Hände krallten sich an der kniehohen Brüstung fest. Sein Pyjama, immer noch nass vom Schweiß, klebte an seinem Körper. Die Enge in seiner Brust, als ob ein Zentner Beton auf ihm lastete, verursachte in ihm das Gefühl des
Erstickens. Seine kurzen Atemzüge wurden immer schneller. Verzweifelt rang er nach Luft, kämpfte gegen eine Ohnmacht an. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen, wie ein Presslufthammer. Er spürte das schmerzhafte Pochen in seinen Schläfen. Seine
Augen blickten starr, weit aufgerissen und wie hypnotisiert in die Tiefe. Ameisen und Spielzeugautos unter ihm. Ein Bienenschwarm summte in seinem Kopf, wie das
Geräusch eines immer schneller und lauter werdenden rotierenden Motors, während gleichzeitig das Gefühl vorherrschte, er wäre in einem Schraubstock eingeklemmt. Blitze zuckten vor seinen Augen, und dann hörte er sie. Diese Stimme! Diese verdammte
Stimme! Spring! Spring! Dann stirbst du schneller. Warum bist du hier? Willst du die schöne Aussicht genießen? Spring endlich! Dann hat deine Qual ein Ende. Vorbei. Keine Schmerzen. Keine Verletzungen. Kein Verrat. Kein Hass. Nur noch Frieden. Diese
verdammte Stimme. Eindringlich. Befehlend. Überzeugend. Verzweifelt kämpfte er gegen diese Worte an. Nein! Nein! Er fühlte den kalten, scharfen Wind wie Nadelstiche auf seiner Haut. Der pfeifende Ton dröhnte in seinen Ohren. Er spürte, wie der
rotierende Wind, einer Windhose gleich, versuchte, seinen Körper mit in die Höhe zu ziehen, um ihn dann, fröhlich pfeifend, in die Unendlichkeit fallen zu lassen.
Gewaltsam riss er sich von dem magischen Blick in die Tiefe los. Mit dem Mut der
Verzweiflung, auf allen Vieren, langsam rückwärts kriechend, versuchte er in die Mitte des Flachdaches zu kommen. Fort vom Abgrund. Fort von den Ameisen und
Spielzeugautos. Als er sich in Sicherheit glaubte, ließen seine Kräfte nach. Völlig
erschöpft ließ er sich fallen. Sein geschwächter Körper zitterte in der eisigen Kälte.
Erstaunt blickte er sich um. Sein Blick blieb an der geschlossenen Tür zum
Treppenhaus hängen. Noch wagte er nicht, aufzustehen. Die Tür erschien ihm endlos weit entfernt zu sein. Wie er zurück in seine Wohnung gelangt war, wusste er nicht mehr. Als der Cognac in seinem Hals brannte und in seinem Magen sich eine
wohltuende Wärme ausbreitete, atmete er tief durch. Jetzt war er in Sicherheit. Er hörte die Stimme in seinem Kopf lachen. Es ist nicht vorbei, hörte er sie sagen. Es stimmt, dachte er und die Angst, vor der Angst, nahm von ihm Besitz. Er schloss die Augen und im Schutz der Dunkelheit traf er seine Entscheidung. Eine unheimliche Klarheit
überkam ihn. Er schaute sich um. Es war sein Appartement. Er horchte in sich hinein, aber er verspürte keine Angst mehr. Er wollte jetzt nur das tun, was er schon immer tun wollte. Er wollte nicht mehr leiden. Er wollte keine Angst mehr haben. Er war müde. Sehnte sich nach Frieden. Ich werde den Krieg beenden, dachte er. Seine Augen nahmen jedes Möbelstück wahr und verweilten an den ihm lieb gewonnenen Gegenständen. Als er auf das Telefon sah, schüttelte er resigniert den Kopf. Man hatte ihm gesagt, dass er unter einer schweren Psychose litt. Dieser Anfall ging weit über seine Grenzen. So schlimm war es noch nie gewesen. Wie würde der Nächste verlaufen? Er horchte auf die Stimme, aber die war verstummt. Er verspürte einen leisen Schmerz des Abschieds, aber kein Bedauern. Mutter, verzeih mir. Ich bin krank. Vergib mir, dachte er. Er verließ sein Appartement und zog die Tür hinter sich zu. Im Fahrstuhl drückte er auf Obergeschoss. Entschlossen, mit festem Schritt, stieg er die letzten Treppenstufen hinauf und öffnete die schwere, feuerfeste, Tür. Furchtlos betrat er das Flachdach. Wie in Trance trat er an die kniehohe Brüstung und schaute mit einer unbeteiligten, gefühllosen Ruhe in die Tiefe. Schaute auf die Ameisen und Spielzeugautos. Den letzten Gedanken vor dem Fall in die Unendlichkeit nahm er mit.
 

Buffy

Mitglied
Lieber Administrator

Ich habe bedauerlicherweise den Text irrtümlich unter Krimis gestellt.
Der Inhalt bezieht sich aber auf Horror und Psycho.
Könnt ihr den Text bitte in diesen Tread verschieben.
Herzlichen Dank im Voraus.
Es grüßt Buffy
 
Grübelnd ...

Grübelnd und unzufrieden lässt du zurück...
Besonders erstaunt bin ich über deinen Schachzug am Ende.
Du formst zu einer Überraschung, ja einem Erschrecken, was schon lange erwartet war und völlig vorhersehbar schien.
Toll!!!

Unsere Geschichten ("Schuldig") sind inhaltlich so nahe beieinander und ihrem Herangehen so unterschiedlich.
So etwas fasziniert mich immer besonders. Allein der Blickwinkel lässt die Welt so verschieden und immer wieder neu erscheinen.

Ich grüble noch immer... hätte von der Mutter gern mehr erfahren, denke ich...

Gelesenes, das noch lange haften bleiben wird.
Sehr gut!

Liebe Grüße
Kerstin
 



 
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