Eine runde Sache
Johanna fischte den Zettel aus ihrer Handtasche und reichte ihn hinüber zu Mark. HUREN HABEN KEINE ZWEITE CHANCE stand auf dem Papier. Mark verzog das Gesicht.
„Wo hast du ihn gefunden?“
„Unter dem Türschlitz. Wie beim letzten Mal.“ Johanna klang nervös. Sie drückte sich tiefer in den Autositz.
„Typisch Christian“, sagte Mark nach einer Weile. „Er hätte gleich mit seinem Namen unterschreiben können.“
„Du bist dir also sicher?“
„Hundertprozentig. Er stand schon früher auf solche Spielchen. Aber wie sollst du das wissen? Ich kenne ihn viel länger als du.“ Er warf einen raschen Seitenblick auf seine Frau. „Wenn auch auf andere Weise.“ Johanna zuckte zusammen. Gleich würde sie erröten, in ihr langes schwarzes Haar greifen und es im Nacken zu einem Knoten drehen, wie sie es immer machte, wenn sie verlegen war.
Unter normalen Umständen fand er das hinreißend. Wie vor fünf Jahren, als er ihr auf dem Turm im Wald beiläufig vorgeschlagen hatte, die nächsten vierzig Jahre zusammen zu frühstücken und sie minutenlang zu perplex für ein „Ja“ gewesen war. Sie hatte geschwiegen, mit ihrem Haar gespielt und alles betrachtet:
Den festlich gedeckten Tisch auf der Aussichtsplattform, die drachenförmigen Lampions rund um das Geländer und ihn, Mark, dem die perfekte Überraschung gelungen war. Erst nachdem sie sich mit Champagner und Fruchtcarpaccio unter das safranfarbene Schirmdach zurückgezogen hatten, war sie mit der Forderung nach Vier-Minuten-Eiern herausgerückt.
Aber das hier war kein normaler Umstand. Von nun an würde er jeden verlegenen Haarknoten mit Christian verbinden, seinem alten Schulfreund, dem unsichtbaren Dritten am ehelichen Frühstückstisch.
„Du glaubst mir doch, dass es endgültig vorbei ist“, durchbrach Johanna die angespannte Stille.
„Dir schon, ihm nicht“, befand Mark und lenkte den Wagen auf einen von Bäumen umsäumten Parkplatz. Er blickte auf die Uhr. Bis zum Turm war es noch eine gute Stunde zu Fuß. Zeit genug, Johanna auf das vorzubereiten, was zwischen den Zeilen der anonymen Schmierereien stand.
Unwillkürlich erinnerte er sich an das Mädchen im See. An die zusammengeschnürten Füße, das hektische Paddeln und den entsetzten Gesichtsausdruck, als es die Steinschleuder sah. Mark fröstelte. Er ging um das Auto herum und öffnete die Beifahrertür.
Draußen nahm Johanna seine Hand.
„Es ist gut, dass wir endlich darüber reden“, sagte sie.
„Ich will dir alles erklären.“
Mark lächelte und zog sie auf den schmalen Waldweg.
„Was gibt es da noch zu erklären? Du hast dich für mich entschieden, richtig?“ Sie nickte. „Na also!“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Alles andere zählt nicht. Aber wenn du unseren Neuanfang partout mit unerfreulichen Details bereichern willst - bitte!“ Er ging schneller.
Es war frisch. Die Luft roch erdig. Schnecken krochen über den feuchten Boden, der bereits mit goldrotem Herbstlaub bedeckt war. Das Sonnenlicht fiel spärlich auf die Erde. Irgendwo im Wald knackte ein Ast. Johanna schrak zusammen. „Ich verstehe nicht ganz“, nahm sie den Faden wieder auf. „Du selbst hast dir ein klärendes Gespräch gewünscht. Deshalb sind wir doch hierher gekommen, oder?“
Mark blieb stehen, ergriff ihre Hände und zog sie näher zu sich heran. „Was ich dir zu sagen habe, betrifft nicht euer Verhältnis oder die Frage, wie ich damit zurechtkomme.“
Johanna wich seinem Blick aus.
„Es geht um Christian und diese Zettel. Es geht darum, wie er als kleiner Junge war und was …“ Mark hob sanft ihr Kinn an „… was von diesem Jungen noch in ihm ist!“
„Wie meinst du das?“ Sie gingen weiter. Der Pfad stieg langsam an. „Er war gefährlich“, drehte er sich von ihr weg und dem See zu. Ein paar Enten schwammen neugierig in Ufernähe und zogen dort ungeduldige Kreise.
Sie betrachtete ihn von der Seite. Da war nichts Markantes. Sein faltenloses Gesicht war weich, nahezu konturlos; er sah aus wie ein Kind, dem man Brille und Bart aufs Gesicht geklebt und vorzeitig mit einem freundlichen Klaps in die große weite Welt entlassen hatte. Ein hübsches Kind, zweifelsohne; mit fein geschwungenem Mund und grünen Augen, die immer ein wenig erstaunt blickten. Obwohl sie sechs Jahre jünger war, fühlte sie sich neben ihm alt und über ihm wie eine Kinderschänderin. Es war ihr zunehmend schwerer gefallen, seine Berührungen zu genießen. Irgendwann hatte sie angefangen, ihm auszuweichen. Dann war Christian in ihr Leben getreten und mit ihm eine Art von Sex, der sich frei und aufregend anfühlte.
„Hast du mich verstanden?“, fragte Mark und sah zu, wie sie sich eine Fluse vom Rollkragenpullover zupfte. Laub raschelte unter seinen Schuhen. Er wandte den Blick ab.
„Du machst mir Angst“, brach es aus ihr heraus. „Glaubst du, dass er uns verfolgt? Diese Zettel …“ passen nicht zu ihm, hätte sie am liebsten komplettiert, schwieg aber, weil die Situation zu grotesk war. Wie konnte sie ihre Ängste loswerden, ohne sich gleichzeitig zu schämen? Es war da kein Platz für Worte wie „passen“ oder „nicht passen“, Behauptungen, die Mark nur an die über jedes gewöhnliche
Maß hinausgehende Vertrautheit zwischen ihr und Christian erinnert hätten.
„Er schrieb sie schon in der Schule“, erklärte Mark. „Anfangs waren es harmlose Beleidigungen, die kaum jemand ernst nahm. Wir hatten Spaß daran und ergötzten uns an den empörten Gesichtern. Manchmal dachte ich mir selbst einen Text aus, den Christian gleich niederschrieb und
abschickte. Irgendwann aber änderten sich die Inhalte. Sie wurden obszön, hasserfüllt und galten ein und derselben Person.“
„Wem?“, fragte Johanna.
„Einem Mädchen. Sie hieß Charlotte und ging in die gleiche Klasse.“
„Was hatte sie verbrochen?“
„Ihn abgelehnt!“
Johanna schauderte. „Wie ging es weiter?“
„Er lauerte ihr an einem See auf. Sie war gern allein dort, um in Ruhe zu lesen. Der Angriff kam so plötzlich, dass sie kaum reagieren konnte. Er überwältigte sie und verschnürte ihre Füße. Dann warf er sie ins Wasser. Nein … " Marks Stimme klang brüchig: „ … genau genommen trat er ihr kräftig in den Rücken.“
„Was?!“ Johanna blieb stehen. „Und du hast mitgemacht? Das kann ich nicht glauben.“
„Du verstehst nicht! Wir sind zusammen aufgewachsen. Was sollte ich schon machen? Er war mein einziger Freund. Bis zu jenem Tag. Ich ahnte nicht, was er mit Charlotte vorhatte. Bis er sie in den See warf, die Steinschleuder hervorholte damit begann, die Sache rund zu machen, wie er sich auszudrücken pflegte, wenn er stinksauer war. Da erst begriff ich, wie krank er sein musste.“
„Er traktierte sie mit einer Steinschleuder, während sie sich mühsam über Wasser hielt? Und das alles, weil sie ihn ablehnte?“ Johannas Stimme überschlug sich.
„Wer ihn abwies, hatte ausgespielt. Vielleicht blieb ich deshalb so lange mit ihm befreundet. Die Vorstellung, ihn zum Feind zu haben, beunruhigte mich weit mehr als seine Schrullen.“
„Kein Wunder.“
„Charlotte hielt sich lange über Wasser. Aber er war ein guter Schütze. Sie blutete im ganzen Gesicht. Irgendwie schaffte sie es bis zur Mitte. Da traf sie ein Stein an der Schläfe.“
„Und?“
„Er triumphierte, als er sie sinken sah, riss beide Fäuste in die Luft und rannte johlend am Ufer auf und ab. Ich stieß ihn beiseite und sprang ins Wasser, überhörte seine Flüche und schwamm bis zur Seemitte. Bis heute weiß ich nicht, wie ich es geschafft habe, Charlotte zu finden und an die Oberfläche zu bringen. Geschweige denn, den Steinen auszuweichen, die Christian pausenlos auf uns abschoss.“
Johanna zog Mark an sich. „Hat sie überlebt?“
„Ja. Als die Geschichte publik wurde, verwies man ihn der Schule. Seine Familie zog in eine andere Stadt, und ich habe nie wieder von ihm gehört. Bis vor zwei Wochen, als du mir alles gestanden und seinen Namen offenbart hast. Das soll kein Vorwurf sein, Johanna. Mir ist nur wichtig, dass du weißt, mit wem du es zu tun hast. Wir müssen auf der Hut sein.“
„Was sollen wir tun?“
„Was wir schon längst hätten machen müssen: die Polizei einschalten.“
„Ach, es tut mir so Leid“, flüsterte Johanna.
„Ich weiß!“ Mark zog sie am Ärmel. „Komm jetzt, es wird schon dunkel. Ich habe etwas vorbereitet. Das wird uns eine Weile von dem Spinner ablenken.“
Sie folgten dem gewundenen Pfad bis zu einer von Pappeln umstandenen Hügelkuppe, über der sich ein dreißig Meter hoher Turm erhob. Eichenstufen führten im Zickzack zur obersten Plattform. Johanna stieß einen kleinen Schrei aus: Rund um den Turm leuchteten Lampions. Da man in der Dunkelheit nicht ausmachen konnte, woran sie befestigt waren, wirkten sie wie kleine goldene Drachen, die frei in der Luft schwebten.
„Oh, Mark, das ist grandios“, rief sie und trat näher. „Lass uns hinaufsteigen.“ Sie stürmte los.
Mark folgte in einigem Abstand. „Sei vorsichtig!“, rief er ihr nach. Obwohl die Treppe in halbwegs gutem Zustand war, ging er langsam, die Hand am Geländer, den Blick nach unten gerichtet.
Je höher sie stiegen, desto enger schienen sich die halboffenen Wände um sie herum zu schließen. Die Stufen knarrten. Auf der mittleren Plattform beschlichen ihn Zweifel. Er wagte einen Blick nach unten durch das dunkle Gebälk und erwartete fast, einen heimlichen Verfolger zu entdecken. Nichts. Mit jedem weiteren Schritt wuchs sein Unbehagen, und plötzlich fragte er sich, ob es eine gute Idee gewesen war, hierher zu kommen. Er lief schneller, wollte Johanna einholen und sie wieder nach unten bringen. „Warte!“, rief er und nahm zwei Stufen auf einmal. „Ich bin schon fast da!“, kam es dumpf zurück. Mark seufzte. Er stieg die letzte Treppe hoch und trat auf die Aussichtsplattform. Johanna stand mit dem Rücken zu ihm vor einem festlich gedeckten Tisch.
„Es ist nicht besonders originell, aber ich wollte es wie früher haben“, kam er näher. Johanna drehte sich glücklich zu ihm um. „Es ist perfekt.“ Sie wies auf eine eingerollte Plane, die unterhalb des Daches befestigt war. „Was hat es damit auf sich?“
Mark winkte ab. „Das wird noch nicht verraten. Jetzt setz dich erstmal hin. Ich habe ausgezeichneten Champagner hier.“ Er zog eine Flasche unter dem Tisch hervor.
„Gleich, ich will mir erst die Lampions aus der Nähe ansehen.“
„Es wäre mir lieber, du betrachtest sie von hier aus. Die Einzäunung ist nicht besonders stabil.“
Johanna winkte ab. „Du hast sie angebracht und lebst noch, oder?“
Mark runzelte die Stirn. Er stellte die Flasche ab und folgte ihr. „Komm bitte da weg!“ Er ergriff ihre Hand. Sie stand mit dem Rücken zum Geländer und machte keine Anstalten, seiner Bitte Folge zu leisten. Stattdessen zog sie ihn an sich.
„Mark, womit habe ich das hier verdient?“
Er gab ihr einen Kuss. „Du übertreibst. Es ist für uns. Nach allem, was geschehen ist, haben wir beide etwas Zerstreuung nötig.“
Johanna lächelte, griff in ihr Haar und begann es zu einem Knoten zu drehen.
Mark versetzte ihr einen so heftigen Stoß, dass sie den Halt verlor und rücklings gegen die Balustrade krachte. Erschrocken riss sie die Augen auf. Ihr Mund formte ein stummes „O“. Dann barst das Gelände, knickte ein wie ein Streichholz und zog Johanna in einem Splitterregen mit sich. Mark hielt erwartungsvoll die Luft an. Er hatte die Balustrade so präpariert, dass sie bei einem Aufprall nur langsam weg brechen und Johanna ermöglichen würde, sich irgendwo festzuhalten. Erst befürchtete er, sie würde stürzen, aber dann gelang es ihr, sich mit den Händen an den Rand der Plattform zu klammern. Perfekt! Zufrieden betrachtete er ihre zappelnde Gestalt. Seine Zweifel verschwanden. Johanna versuchte verzweifelt, sich hochzuziehen. Ihre zierlichen Finger waren ganz weiß vor Anstrengung. Er trat ihr auf die rechte Hand. Sie heulte auf.
„Nicht weglaufen!“, hob er mahnend den Zeigefinger und ging zurück zum Tisch. „Leider war es zu groß für den Türschlitz, Liebes“, sagte er, stieg auf einen Stuhl und entrollte die Plane. HUREN HABEN KEINE ZWEITE CHANCE prangte die Botschaft in großen schwarzen Lettern.
„Aber hier passt es ganz gut. Was meinst du?“
Johanna stöhnte und versuchte, sich an der Plattform entlang zu hangeln. „Mark!“, schluchzte sie. „Mark, bitte, zieh mich hoch! Ich kann mich nicht mehr halten.“
Er beugte sich nach vorn und betrachtete seine Frau.
„Du hast also genug?“
„Ja“, entgegnete sie schwach.
Mark lächelte, trat ein paar Schritte zurück und zog eine alte, abgenutzte Steinschleuder aus der Jacke hervor.
„Dann machen wir die Sache doch rund!“
Johanna fischte den Zettel aus ihrer Handtasche und reichte ihn hinüber zu Mark. HUREN HABEN KEINE ZWEITE CHANCE stand auf dem Papier. Mark verzog das Gesicht.
„Wo hast du ihn gefunden?“
„Unter dem Türschlitz. Wie beim letzten Mal.“ Johanna klang nervös. Sie drückte sich tiefer in den Autositz.
„Typisch Christian“, sagte Mark nach einer Weile. „Er hätte gleich mit seinem Namen unterschreiben können.“
„Du bist dir also sicher?“
„Hundertprozentig. Er stand schon früher auf solche Spielchen. Aber wie sollst du das wissen? Ich kenne ihn viel länger als du.“ Er warf einen raschen Seitenblick auf seine Frau. „Wenn auch auf andere Weise.“ Johanna zuckte zusammen. Gleich würde sie erröten, in ihr langes schwarzes Haar greifen und es im Nacken zu einem Knoten drehen, wie sie es immer machte, wenn sie verlegen war.
Unter normalen Umständen fand er das hinreißend. Wie vor fünf Jahren, als er ihr auf dem Turm im Wald beiläufig vorgeschlagen hatte, die nächsten vierzig Jahre zusammen zu frühstücken und sie minutenlang zu perplex für ein „Ja“ gewesen war. Sie hatte geschwiegen, mit ihrem Haar gespielt und alles betrachtet:
Den festlich gedeckten Tisch auf der Aussichtsplattform, die drachenförmigen Lampions rund um das Geländer und ihn, Mark, dem die perfekte Überraschung gelungen war. Erst nachdem sie sich mit Champagner und Fruchtcarpaccio unter das safranfarbene Schirmdach zurückgezogen hatten, war sie mit der Forderung nach Vier-Minuten-Eiern herausgerückt.
Aber das hier war kein normaler Umstand. Von nun an würde er jeden verlegenen Haarknoten mit Christian verbinden, seinem alten Schulfreund, dem unsichtbaren Dritten am ehelichen Frühstückstisch.
„Du glaubst mir doch, dass es endgültig vorbei ist“, durchbrach Johanna die angespannte Stille.
„Dir schon, ihm nicht“, befand Mark und lenkte den Wagen auf einen von Bäumen umsäumten Parkplatz. Er blickte auf die Uhr. Bis zum Turm war es noch eine gute Stunde zu Fuß. Zeit genug, Johanna auf das vorzubereiten, was zwischen den Zeilen der anonymen Schmierereien stand.
Unwillkürlich erinnerte er sich an das Mädchen im See. An die zusammengeschnürten Füße, das hektische Paddeln und den entsetzten Gesichtsausdruck, als es die Steinschleuder sah. Mark fröstelte. Er ging um das Auto herum und öffnete die Beifahrertür.
Draußen nahm Johanna seine Hand.
„Es ist gut, dass wir endlich darüber reden“, sagte sie.
„Ich will dir alles erklären.“
Mark lächelte und zog sie auf den schmalen Waldweg.
„Was gibt es da noch zu erklären? Du hast dich für mich entschieden, richtig?“ Sie nickte. „Na also!“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Alles andere zählt nicht. Aber wenn du unseren Neuanfang partout mit unerfreulichen Details bereichern willst - bitte!“ Er ging schneller.
Es war frisch. Die Luft roch erdig. Schnecken krochen über den feuchten Boden, der bereits mit goldrotem Herbstlaub bedeckt war. Das Sonnenlicht fiel spärlich auf die Erde. Irgendwo im Wald knackte ein Ast. Johanna schrak zusammen. „Ich verstehe nicht ganz“, nahm sie den Faden wieder auf. „Du selbst hast dir ein klärendes Gespräch gewünscht. Deshalb sind wir doch hierher gekommen, oder?“
Mark blieb stehen, ergriff ihre Hände und zog sie näher zu sich heran. „Was ich dir zu sagen habe, betrifft nicht euer Verhältnis oder die Frage, wie ich damit zurechtkomme.“
Johanna wich seinem Blick aus.
„Es geht um Christian und diese Zettel. Es geht darum, wie er als kleiner Junge war und was …“ Mark hob sanft ihr Kinn an „… was von diesem Jungen noch in ihm ist!“
„Wie meinst du das?“ Sie gingen weiter. Der Pfad stieg langsam an. „Er war gefährlich“, drehte er sich von ihr weg und dem See zu. Ein paar Enten schwammen neugierig in Ufernähe und zogen dort ungeduldige Kreise.
Sie betrachtete ihn von der Seite. Da war nichts Markantes. Sein faltenloses Gesicht war weich, nahezu konturlos; er sah aus wie ein Kind, dem man Brille und Bart aufs Gesicht geklebt und vorzeitig mit einem freundlichen Klaps in die große weite Welt entlassen hatte. Ein hübsches Kind, zweifelsohne; mit fein geschwungenem Mund und grünen Augen, die immer ein wenig erstaunt blickten. Obwohl sie sechs Jahre jünger war, fühlte sie sich neben ihm alt und über ihm wie eine Kinderschänderin. Es war ihr zunehmend schwerer gefallen, seine Berührungen zu genießen. Irgendwann hatte sie angefangen, ihm auszuweichen. Dann war Christian in ihr Leben getreten und mit ihm eine Art von Sex, der sich frei und aufregend anfühlte.
„Hast du mich verstanden?“, fragte Mark und sah zu, wie sie sich eine Fluse vom Rollkragenpullover zupfte. Laub raschelte unter seinen Schuhen. Er wandte den Blick ab.
„Du machst mir Angst“, brach es aus ihr heraus. „Glaubst du, dass er uns verfolgt? Diese Zettel …“ passen nicht zu ihm, hätte sie am liebsten komplettiert, schwieg aber, weil die Situation zu grotesk war. Wie konnte sie ihre Ängste loswerden, ohne sich gleichzeitig zu schämen? Es war da kein Platz für Worte wie „passen“ oder „nicht passen“, Behauptungen, die Mark nur an die über jedes gewöhnliche
Maß hinausgehende Vertrautheit zwischen ihr und Christian erinnert hätten.
„Er schrieb sie schon in der Schule“, erklärte Mark. „Anfangs waren es harmlose Beleidigungen, die kaum jemand ernst nahm. Wir hatten Spaß daran und ergötzten uns an den empörten Gesichtern. Manchmal dachte ich mir selbst einen Text aus, den Christian gleich niederschrieb und
abschickte. Irgendwann aber änderten sich die Inhalte. Sie wurden obszön, hasserfüllt und galten ein und derselben Person.“
„Wem?“, fragte Johanna.
„Einem Mädchen. Sie hieß Charlotte und ging in die gleiche Klasse.“
„Was hatte sie verbrochen?“
„Ihn abgelehnt!“
Johanna schauderte. „Wie ging es weiter?“
„Er lauerte ihr an einem See auf. Sie war gern allein dort, um in Ruhe zu lesen. Der Angriff kam so plötzlich, dass sie kaum reagieren konnte. Er überwältigte sie und verschnürte ihre Füße. Dann warf er sie ins Wasser. Nein … " Marks Stimme klang brüchig: „ … genau genommen trat er ihr kräftig in den Rücken.“
„Was?!“ Johanna blieb stehen. „Und du hast mitgemacht? Das kann ich nicht glauben.“
„Du verstehst nicht! Wir sind zusammen aufgewachsen. Was sollte ich schon machen? Er war mein einziger Freund. Bis zu jenem Tag. Ich ahnte nicht, was er mit Charlotte vorhatte. Bis er sie in den See warf, die Steinschleuder hervorholte damit begann, die Sache rund zu machen, wie er sich auszudrücken pflegte, wenn er stinksauer war. Da erst begriff ich, wie krank er sein musste.“
„Er traktierte sie mit einer Steinschleuder, während sie sich mühsam über Wasser hielt? Und das alles, weil sie ihn ablehnte?“ Johannas Stimme überschlug sich.
„Wer ihn abwies, hatte ausgespielt. Vielleicht blieb ich deshalb so lange mit ihm befreundet. Die Vorstellung, ihn zum Feind zu haben, beunruhigte mich weit mehr als seine Schrullen.“
„Kein Wunder.“
„Charlotte hielt sich lange über Wasser. Aber er war ein guter Schütze. Sie blutete im ganzen Gesicht. Irgendwie schaffte sie es bis zur Mitte. Da traf sie ein Stein an der Schläfe.“
„Und?“
„Er triumphierte, als er sie sinken sah, riss beide Fäuste in die Luft und rannte johlend am Ufer auf und ab. Ich stieß ihn beiseite und sprang ins Wasser, überhörte seine Flüche und schwamm bis zur Seemitte. Bis heute weiß ich nicht, wie ich es geschafft habe, Charlotte zu finden und an die Oberfläche zu bringen. Geschweige denn, den Steinen auszuweichen, die Christian pausenlos auf uns abschoss.“
Johanna zog Mark an sich. „Hat sie überlebt?“
„Ja. Als die Geschichte publik wurde, verwies man ihn der Schule. Seine Familie zog in eine andere Stadt, und ich habe nie wieder von ihm gehört. Bis vor zwei Wochen, als du mir alles gestanden und seinen Namen offenbart hast. Das soll kein Vorwurf sein, Johanna. Mir ist nur wichtig, dass du weißt, mit wem du es zu tun hast. Wir müssen auf der Hut sein.“
„Was sollen wir tun?“
„Was wir schon längst hätten machen müssen: die Polizei einschalten.“
„Ach, es tut mir so Leid“, flüsterte Johanna.
„Ich weiß!“ Mark zog sie am Ärmel. „Komm jetzt, es wird schon dunkel. Ich habe etwas vorbereitet. Das wird uns eine Weile von dem Spinner ablenken.“
Sie folgten dem gewundenen Pfad bis zu einer von Pappeln umstandenen Hügelkuppe, über der sich ein dreißig Meter hoher Turm erhob. Eichenstufen führten im Zickzack zur obersten Plattform. Johanna stieß einen kleinen Schrei aus: Rund um den Turm leuchteten Lampions. Da man in der Dunkelheit nicht ausmachen konnte, woran sie befestigt waren, wirkten sie wie kleine goldene Drachen, die frei in der Luft schwebten.
„Oh, Mark, das ist grandios“, rief sie und trat näher. „Lass uns hinaufsteigen.“ Sie stürmte los.
Mark folgte in einigem Abstand. „Sei vorsichtig!“, rief er ihr nach. Obwohl die Treppe in halbwegs gutem Zustand war, ging er langsam, die Hand am Geländer, den Blick nach unten gerichtet.
Je höher sie stiegen, desto enger schienen sich die halboffenen Wände um sie herum zu schließen. Die Stufen knarrten. Auf der mittleren Plattform beschlichen ihn Zweifel. Er wagte einen Blick nach unten durch das dunkle Gebälk und erwartete fast, einen heimlichen Verfolger zu entdecken. Nichts. Mit jedem weiteren Schritt wuchs sein Unbehagen, und plötzlich fragte er sich, ob es eine gute Idee gewesen war, hierher zu kommen. Er lief schneller, wollte Johanna einholen und sie wieder nach unten bringen. „Warte!“, rief er und nahm zwei Stufen auf einmal. „Ich bin schon fast da!“, kam es dumpf zurück. Mark seufzte. Er stieg die letzte Treppe hoch und trat auf die Aussichtsplattform. Johanna stand mit dem Rücken zu ihm vor einem festlich gedeckten Tisch.
„Es ist nicht besonders originell, aber ich wollte es wie früher haben“, kam er näher. Johanna drehte sich glücklich zu ihm um. „Es ist perfekt.“ Sie wies auf eine eingerollte Plane, die unterhalb des Daches befestigt war. „Was hat es damit auf sich?“
Mark winkte ab. „Das wird noch nicht verraten. Jetzt setz dich erstmal hin. Ich habe ausgezeichneten Champagner hier.“ Er zog eine Flasche unter dem Tisch hervor.
„Gleich, ich will mir erst die Lampions aus der Nähe ansehen.“
„Es wäre mir lieber, du betrachtest sie von hier aus. Die Einzäunung ist nicht besonders stabil.“
Johanna winkte ab. „Du hast sie angebracht und lebst noch, oder?“
Mark runzelte die Stirn. Er stellte die Flasche ab und folgte ihr. „Komm bitte da weg!“ Er ergriff ihre Hand. Sie stand mit dem Rücken zum Geländer und machte keine Anstalten, seiner Bitte Folge zu leisten. Stattdessen zog sie ihn an sich.
„Mark, womit habe ich das hier verdient?“
Er gab ihr einen Kuss. „Du übertreibst. Es ist für uns. Nach allem, was geschehen ist, haben wir beide etwas Zerstreuung nötig.“
Johanna lächelte, griff in ihr Haar und begann es zu einem Knoten zu drehen.
Mark versetzte ihr einen so heftigen Stoß, dass sie den Halt verlor und rücklings gegen die Balustrade krachte. Erschrocken riss sie die Augen auf. Ihr Mund formte ein stummes „O“. Dann barst das Gelände, knickte ein wie ein Streichholz und zog Johanna in einem Splitterregen mit sich. Mark hielt erwartungsvoll die Luft an. Er hatte die Balustrade so präpariert, dass sie bei einem Aufprall nur langsam weg brechen und Johanna ermöglichen würde, sich irgendwo festzuhalten. Erst befürchtete er, sie würde stürzen, aber dann gelang es ihr, sich mit den Händen an den Rand der Plattform zu klammern. Perfekt! Zufrieden betrachtete er ihre zappelnde Gestalt. Seine Zweifel verschwanden. Johanna versuchte verzweifelt, sich hochzuziehen. Ihre zierlichen Finger waren ganz weiß vor Anstrengung. Er trat ihr auf die rechte Hand. Sie heulte auf.
„Nicht weglaufen!“, hob er mahnend den Zeigefinger und ging zurück zum Tisch. „Leider war es zu groß für den Türschlitz, Liebes“, sagte er, stieg auf einen Stuhl und entrollte die Plane. HUREN HABEN KEINE ZWEITE CHANCE prangte die Botschaft in großen schwarzen Lettern.
„Aber hier passt es ganz gut. Was meinst du?“
Johanna stöhnte und versuchte, sich an der Plattform entlang zu hangeln. „Mark!“, schluchzte sie. „Mark, bitte, zieh mich hoch! Ich kann mich nicht mehr halten.“
Er beugte sich nach vorn und betrachtete seine Frau.
„Du hast also genug?“
„Ja“, entgegnete sie schwach.
Mark lächelte, trat ein paar Schritte zurück und zog eine alte, abgenutzte Steinschleuder aus der Jacke hervor.
„Dann machen wir die Sache doch rund!“