Eine zauberhafte Scheibe - Jahre später

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Astrid

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Eine zauberhafte Scheibe
Jahre später

Wir fahren nach Hause. Papa hat meinen dicken Rucksack neben sich auf den Sitz gestellt und seinen Arm darauf gestützt.
Er zwinkert mir zu. Mama sitzt neben mir und streichelt meine Hand. Ich mag das ja überhaupt nicht, so in der Öffentlichkeit. Schließlich bin ich schon groß. Fast vier. Zum Glück sitzen wir hier in der S-Bahn in dem hinteren Viererabteil, sodass uns nicht so viele Leute sehen können.
Ich heiße Paul und meine Eltern haben mich von der Oma abgeholt, bei der ich meine Ferien verbracht habe. Na ja, richtige Schulferien habe ich natürlich noch nicht, aber der Kindergarten hat Schließzeit und Ferien hört sich doch viel erwachsener an als Schließzeit, oder?
Schade nur, dass die schon wieder zu Ende ist. Denn bei meiner Oma bin ich wirklich gern. Ich habe sie sehr lieb - sie kann so leckeren Kuchen backen. Das erste Stück essen wir immer, wenn es ganz frisch aus dem Ofen kommt und noch heiß ist. Mama würde mir das nie erlauben. Manchmal esse ich sogar noch ein zweites Stück! Und wenn mir dann davon der Bauch weh tut, legt Oma einfach ihre warme Hand darauf und streichelt ihn und dabei erzählt sie Geschichten. Von früher und wie sie den Opa kennen gelernt hat, die kann ich immer und immer wieder hören. Am meisten aber mag ich die, die sie sich gerade erst ausgedacht hat, in dem Moment, in dem sie ihre Hand auf meinen Bauch legt.
Ich glaube, Papa hat das von ihr gegerbt oder wie das heißt, also der ist auch so. Mein Papa schreibt nämlich Kinderbücher!
Wie immer, wenn sie mich von der Oma abholen, gibt es Streit, weil Mama findet, dass Oma mich zu sehr verwöhnt und Papa findet das nicht. Ich finde das übrigens auch nicht.
Die beiden reden also und reden und kümmern sich überhaupt nicht mehr um mich. Dabei möchte ich doch so gern erzählen, was sich Oma diesmal wieder für mich ausgedacht hat und dass wir gestern Abend noch lange auf der Bank vor dem Haus saßen, bis es schon sehr spät war und was ich mir dann bei den Sternschnuppen gewünscht habe.

„Mama! Papa!“ Keine Reaktion. Als wäre ich Luft.
Ich muss irgendetwas tun, damit sie mich wieder ansehen und sich nicht mehr streiten. Nur was? Mir fällt nichts ein. Da beginne ich, die Fensterscheibe abzulecken. Anfangs landet meine Zungenspitze nur ganz kurz darauf. Ich schaue über die Schulter zu Mama und Papa. Nichts. Also lecke ich weiter, nun auch mit der ganzen Zunge und – was soll ich euch sagen, das schmeckt nicht schlecht, irgendwie süß, wie….
„Mama, Papa, die Scheibe schmeckt ja wie Zuckerwatte!“ Augenblicklich drehen sich ihre Köpfe zu mir. Mama reißt mich sofort zurück, wischt mir mit ihrem Taschentuch über den Mund und schimpft mit vor Ekel verzogenen Lippen. Papa zwinkert nur.
„Aber die schmeckt wirklich so und außerdem hat sie mir etwas zugeflüstert“ sage ich. Mama wirft Papa einen bösen Blick zu – „das hat er von dir. Die vielen Flöhe, die du ihm ins Ohr setzt mit deinen Geschichten.“
Also ich finde, Papa kann wundervolle Geschichten erzählen. Fast so gut wie Oma.
Sie streiten sich also schon wieder. Nun über Papas Flöhe.
„Aber sie schmeckt nach Zuckerwatte!“ schreie ich nun fast. Mama legt mir eine Hand auf die Stirn. „Hast du Fieber?“

Papa glaubt mir, das spüre ich. Doch warum ist er mit einem Mal so ernst? Er sieht sich die Scheibe an, als würde er etwas suchen. Plötzlich beginnen seine Augen zu leuchten und zärtlich streicht er über einen zerkrümelten Sticker, auf dem nur kleine schwarze Striche zu sehen sind. ‚Ob Papa jetzt Fieber hat’, überlege ich. Er lehnt seinen Kopf an die Scheibe, als ob der zu schwer geworden ist und zwinkert mir erneut zu. „Paul hat Recht, auch mir hat sie etwas zugeflüstert.“ Mama verdreht die Augen. Papas werden feucht und nun glaube ich ernsthaft, dass er krank ist.
„Was denn, was denn, was hat sie dir denn geflüstert?“ ich war so gespannt auf seine Antwort.
„Erst möchte ich wissen, was sie dir gesagt hat!“ fordert Papa mich auf.
„Sie hat geflüstert, dass ich genauso aussehe wie du, als du ein kleiner Junge warst. Aber woher kann die das wissen? Und was hat sie dir erzählt?“
„Dass du ein wunderbarer Junge bist.“ sagt Papa und sieht dabei die Scheibe an. „Ich hätte nie gedacht, dass ich sie noch einmal wieder finde. Es ist eine Scheibe, die zaubern kann, und diesen kleinen Sticker habe ich ihr aufgeklebt, als ich ein Junge war.“ Aber diese Geschichte erzähle ich dir ein anderes Mal.
„Ist das wieder eine von deinen Spinnereien?“ Mama ist hellhörig geworden.
„Oh ja, Papa schreibt ein neues Kinderbuch!“ rufe ich strahlend.
„Nur dass das keiner lesen will“ meint Mama und schüttelt den Kopf.
Da mische ich mich ein und ziehe dabei meine kleine Stirn kraus, wie ich es vorhin bei ihr gesehen habe. „Das liegt doch nur daran, dass da so ein dummer Mann sitzt, der die Geschichten einfach nicht versteht. Wenn ich groß bin, dann kaufe ich mir eine Druckmaschine und drucke alle Geschichten von Papa und die verschenke ich dann an die Kinder.“
Mama zeigt mit dem Finger auf mich und sagt zu Papa: „Dein Sohn. Nur Flausen im Kopf.“
„Was sind Flausen?“ will ich wissen und bekomme zur Antwort. „Wir müssen aussteigen!“
Mit fester Hand zieht sie mich vom Sitz hoch und hinter sich her zur Tür. Papa kommt mit dem Rucksack nach, dreht sich aber noch einmal um, bevor er aussteigt.
Auf dem Bahnsteig beugt er sich zu mir herunter und flüstert mir ins Ohr:
„Was hältst du davon, wenn wir dieses Buch gemeinsam schreiben?“ Ich nicke heftig und vor Stolz und Aufregung gleich mehrere Male hintereinander und schiebe meine Hand in seine.

Und so stehen wir - ein großer Mann und ein kleiner Mann, und winken, als die Scheibe noch einmal an uns vorüber fährt und sehen der Bahn noch lange, lange nach.
 

Axel B

Mitglied
Hallo Astrid,

ganz ehrlich, mir gefällt diese Geschichte noch besser als die erste. Bin gespannt, wie es weiter geht. Von Generation zu Generation, oder kommen noch andere Kinder vorbei, oder alte Menschen? Oder lebt die Scheibe nun in den Geschichten von Vater und Sohn fort?

Ich freue mich auf die Fortsetzung, falls es eine gibt.

Beste Grüße Axel
 



 
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