Einfache Fahrt

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Sumpfkuh

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Tom warf einen flüchtigen Blick auf den Monitor, während er einen weiteren Schluck von seinem inzwischen nur noch lauwarmen Kaffee trank.
Alles war im normalen Bereich, die Herztöne zeichneten intervallartige, rote Zacken auf den schwarzen Hintergrund des Bildschirms.
Er hatte genügend Zeit.
Michael war erst vor wenigen Minuten eingeschlafen, es würde noch eine Weile dauern, bis er die R.E.M. Phase erreicht hatte und er der Chip aktiviert werden würde.
Trotzdem war er nervös. Ohne es bewusst wahrzunehmen strich er sich immer wieder mit der linken Hand durch sein in den letzten Jahren etwas schütter gewordenes braunes Haar.
Es war einfach nicht richtig, was sie da taten, dachte er sich und trank seine Tasse leer aus Angst einzuschlafen, obwohl das bei seinem Adrenalinspiegel unnötig war.
Aber Michael hatte ihn so lange angefleht, bis er endlich zugestimmt hatte.
Sein Freund hatte ihm Leid getan, er hatte sehr stark abgebaut, seit Eva gestorben war.
Er hatte alles versucht, ihn aus seiner Lethargie zu reißen, hatte ihn in Restaurants gezerrt, ihn zum Sport animiert, mit ihm Filme gesehen. Er war sogar vorübergehend bei ihm eingezogen.
Aber das alles änderte nichts an der Tatsache, dass er zur strahlenden Sonne hinaufschaute und lediglich tiefe, schwarze Nacht sah.
Michael versuchte anfangs vergeblich, seine Verzweifelung mit dummen Witzen und Selbstironie zu überspielen.
„Siehst du, bei mir hält es eben keine Frau lange aus“, hatte er gescherzt und ihn angegrinst. Aber seine Augen waren dabei leer wie die einer Puppe.
„Wahrscheinlich waren es doch eher meine Schweißmauken“, lachte er künstlich, nur um kurz danach im Bad zu verschwinden, damit er seine Tränen nicht sah.
Seine Frau war vor einem Jahr im Urlaub gestorben, nachdem sie einen falsch zubereiteten Kugelfisch verzehrt hatte. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass es dieser hochgiftige Fisch war, den sie da verspeiste, denn sie beide konnten kein Chinesisch und hatten auf gut Glück die Fischplatte bestellt. Eigentlich hatte nur Michael dieses Menü ausgesucht, Eva hatte gebratene Nudeln bestellt, die man dort überall bekam. Aber als die Teller dann gebracht wurden, hatte sie plötzlich doch lieber den Fisch gewollt, der in kleinen Stücken liebevoll mit Reis dekoriert ansprechend angerichtet worden war.
Tom ahnte, dass Michael schwere Schuldgefühle plagten, denn wenn er die Teller nicht getauscht hätte, wäre Eva heute noch am leben. Aber sie war tot, für immer gegangen und somit gab es niemanden, der ihm dieses schwere Schuldbewusstsein nehmen konnte.
Tom war zunächst etwas verletzt, dass sein bester Freund, den er nun seit über fünfzehn Jahren kannte, probierte, ihm etwas vorzumachen, ihm nicht vertraute. Doch dann wurde ihm bewusst, dass Michael lediglich versuchte, sich selbst etwas vorzuspielen. Es war seine Art, mit der Trauer umzugehen.
Und er ließ ihn gewähren. Aber es wurde nicht besser, Michael magerte immer mehr ab, saß stundenlang apathisch in seinem Sessel und starrte auf den Fernseher, der nicht einmal eingeschaltet war. Die Last auf seinen Schultern drohte, ihn zu zerschmettern, seine blauen Augen, die Eva damals so fasziniert hatten, lagen nun tief eingesunken in ihren Höhlen und hatten jeglichen Glanz verloren.
Tom war sehr besorgt um Michael, verzweifelt, weil sein Freund immer mehr abbaute und er hilflos zusehen musste. Doch von einem Tag auf den anderen änderte sich die Lage überraschend.
Michael wirkte plötzlich nicht mehr so niedergeschlagen, an einem Morgen verspeiste er eine ganze Schüssel Rührei, sein Gesicht bekam wieder Farbe, und er wirkte frisch und ausgeruht.
Das war zu der Zeit, als die Träume kamen.
Tom streckte sich auf seinem Bürostuhl und massierte sich dann mit den Zeigefingern die Schläfen. Er hatte leichte Kopfschmerzen, ein Zeichen für zu wenig Schlaf und zu viel Kaffee. Er ging hinüber zum Fenster und öffnete es weit. Kühle Novemberluft strömte in den Raum und sorgte dafür, dass Tom sofort eine Gänsehaut bekam, da er lediglich ein T-Shirt trug. Trotzdem ließ er das Fenster geöffnet und ging hinüber zu dem hellen Kiefernbett, das in einer kleinen Nische am anderen Ende des Raumes stand. Sein Freund atmete ruhig, die Gesichtszüge waren entspannt. Blondes Haar lugte unter der mit Saugnäpfen versehenen Haube hervor, die seine Hirnströme überwachte. Michael zog ihm die Decke über die nackte Brust, von der das EKG aufgezeichnet wurde, damit er nicht fror und versehentlich aufwachte.
Als er das zufriedene Gesicht seines Freundes betrachtete, zögerte er einen Augenblick.
Vielleicht sollte er ihn aufwecken, er könnte jetzt alles noch stoppen. Aber wäre das nicht egoistisch? Sollte er, als sein bester Freund, nicht auch das Beste für Michael wollen? Auch wenn er ihn vielleicht nie wieder sehen würde wenn alles so verlaufen würde, wie er es ausgerechnet hatte? Und wer oder was würde an Michaels Stelle aufwachen, wenn dieser die Reise angetreten hatte?
Tom schüttelte den Kopf, um die letzten Zweifel zu zerstreuen und drückte die Decke an den Seiten fest. Er hatte es versprochen, also würde er es auch durchziehen.
Durch das geöffnete Fenster waren entfernte Motorgeräusche zu hören, das Leben da draußen ging weiter, während hier drinnen eines diese Welt verließ.
Die frische Luft linderte seine Kopfschmerzen. Er fühlte sich wieder besser, als er an seinen Schreibtisch zurückkehrte, um die regelmäßigen Zacken auf dem Bildschirm zu beobachten.
Er hatte damals an diesem Projekt mitgearbeitet, war sogar einer der Erfinder gewesen.
Aber weder ihm, noch einem der anderen vielen Mitarbeiter war es jemals in den Sinn gekommen, darüber nachzudenken, was für negative Ausmaße die gekauften Träume haben könnten. Sie hatten damals nur das Geld gesehen, dass sie reich machen würde, wenn sie Erfolg hatten. Und den hatten sie. Am Anfang war die Industrie noch skeptisch, doch nach einigen Auftritten in Talkshows und diversen Artikeln in Zeitungen und Magazinen war die Nachfrage so hoch, dass sie in große Produktion gehen konnten. Das ermöglichte ihnen, die Chips günstig zu verkaufen, sodass sie auch für das Zielpublikum, die Jugendlichen, leicht erschwinglich waren.
Bald verkauften sie Träume nach Maß in die ganze Welt und sein Bankkonto sollte nie mehr Hunger leiden müssen. Man konnte die Chips überall kaufen. An Automaten, die aufgestellt wurden, per Internet und Teleshopping. Aber mit der Zeit lief die Sache aus dem Ruder.
Die Träume wirkten wie eine Droge auf die Menschen, die schnell süchtig machte.
Mit den Chips stieg auch der Umsatz an Schlafmitteln. Viele Leute erschienen einfach nicht mehr auf ihrem Arbeitsplatz, ganze Schulen blieben leer, da die Kids ihre Zeit lieber in Träumen mit Brat Pitt oder auf einsamen Südseeinseln verbrachten.
Es war so einfach. In ihren Träumen konnten sie alles und jeder sein, warum sollten sie dann ihre Zeit in der grausamen Realität verbringen?
Man brauchte nur seinen persönlichen Traum per Computer eingeben und den Chip aktivieren, danach waren himmlische Stunden garantiert.
Die Sache geriet völlig außer Kontrolle, die ersten Personen starben. Entweder an einer Überdosis Schlafmittel oder weil sie schlichtweg im Schlaf verdursteten.
Die Sucht zog sich durch alle Gesellschaftsschichten. Professoren, Prominente, Arbeitslose, Beamte, einfache Arbeiter. Selbst Kinder waren von der falschen Realität so sehr fasziniert wie von einem Fernseher, und so wurden immer mehr Kindergeburtstage in Schlafpartys verwandelt.
Nach diesen Auswirkungen wurden die Chips ganz schnell verboten. Automaten wurden wieder abgerissen und es wurden hohe Strafen auf den Besitz von falschen Träumen verhängt.
Er selbst hatte sein Projekt nur ein einziges Mal selbst ausprobiert.
Er war auf einem Zug stehend durch ein fantastisch blühendes Land gefahren. Fahrtwind blies ihm durch die Haare, wunderhübsche Frauen winkten ihm am Wegesrand und er hatte das Gefühl von unglaublicher Freiheit. Es war nett gewesen und er war glücklich erwacht.
Aber da es in der Realität momentan so gut für ihn lief hatte er keinen Grund, sich in erlogene Welten zu flüchten. Dass dies nicht zutraf, wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Er bildete sich tatsächlich ein, etwas Gutes für die Menschheit getan zu haben.
Jeder würde entspannt erwachen, alles Verbotene konnte in den Nächten ausgelebt werden, es existierte keine Zensur. Er glaubte in seiner Naivität, dass sich eine einnehmende Friedfertigkeit über das Land legen würde.
Er hatte sich geirrt.
Auf dem Monitor bildete sich eine neue grüne Linie, die dafür stand, dass Michael in die erste Traumphase geglitten war. Dieser Teil des Traumschlafes war vergleichsweise tief und ließ sich nur schlecht manipulieren. Erwachende erinnern sich auch selten an diese Träume, deshalb wäre es auch sinnlos, einen Chip für diese Phase zu konstruieren.
Er goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein, stellte sie aber nach dem ersten Schluck angewidert zur Seite.
Nächtelang hatte er hier gesessen und nach einem Fehler in seinen Chips gesucht, oder zumindest einer Verbesserung, die dazu beitragen würde, dass viele Menschen nicht in eine unkontrollierbare Maßlosigkeit verfallen würden. Dabei ging es ihm nicht um das verlorene Geld, was er nun nicht mehr verdienen würde, sondern einfach um Ehre und sein schlechtes Gewissen, das er diesen armen Teufeln gegenüber hatte, die seine Erfindung in den Tod getrieben hatte.
In einer dieser Nächte hatte er dann zufällig eine Entdeckung gemacht, die er selbst erst nach stundenlangem Nachrechnen und kontrollieren halbwegs glauben konnte.
Jahrelang hatten Wissenschaftler angenommen, Träume seien die Verarbeitung von Erlebtem im Unterbewusstsein. Dass dies nicht stimmte, hätte er eigentlich viel früher bemerken sollen.
Da die Träume nun gesteuert werden konnten, hätte es eigentlich zu Nebenwirkungen kommen müssen, da Erlebnisse des Tages nicht mehr verarbeitet wurden.
Aber es gab keine. Niemand beklagte sich über Kopfschmerzen oder psychische Störungen.
Es gab lediglich das Suchtverhalten, was an sich schlimm genug war.
Er glaubte nicht an Seelenwanderung, Parallelwelten und diesen ganzen Quatsch, aber seine Rechnungen und die Erfahrungsberichte von Michael ließen keine Zweifel mehr übrig.
Wenn wir träumen, betreten wir eine andere Welt, eine andere Ebene die existiert und in der wir leben. Und davon scheint es hunderte zu geben.
Schon seit Wochen zeichneten sie hier unten Michaels Träume auf, die sie gemeinsam nach seinem Erwachen am Computer ansehen konnten.
Seine Chips waren nur Grundvorgaben für einen Traum. Also konnte man zum Beispiel mit Brad Pitt in einem Eiscafe sitzen. Wie das Privatkino sich dann weiter gestaltete, hing von der schlafenden Person selbst ab. Deshalb waren so viele abhängig.
Man konnte immer dieselbe Grundvorlage wählen, aber der Traum selbst war jedes Mal anders.
Mit dem Verbot der Chips erwachte der Schwarzmarkt, und damit stieg die Zahl der Opfer höher, als in der Zeit, wo man die Illusionen noch legal erwerben konnte.
Die Chips wurden nun nicht mehr professionell hergestellt, so gab es viele Fehler in den Programmen, deren Auswirkungen oft tödlich waren.
Männer und Frauen erwachten einfach nicht mehr oder fielen in ein Wachkoma.
Nun wusste er, dass bei einem Wachkoma die Seele den irdischen Körper verlassen hatte. Sie lebte nun in einer anderen Welt, einem anderen Körper. Aus Gründen, die er lange erfolglos erforsch hatte, hatte die Seele aus der anderen Welt den Austausch dann nicht geschafft.
Mütter weinten um ihre halbwüchsigen Kinder, die nichts anderes tun wollten als schlafen.
Die Leute gingen auf die Straße und flehten die Regierung an, etwas zu tun. Hohe Gefängnisstrafen wurden auf den illegalen Besitz von Chips verhängt, die aber keinen der Süchtigen wirklich interessierte. Viele Angehörige waren sogar froh, als sie ihre Lieben in Sicherheit hinter Schloss und Riegel wussten. Aber auch dort gab es Möglichkeiten, an das Verbotene zu kommen.
Daraufhin flatterte ein Brief nach dem anderen in sein Haus.
Zunächst war der Staat noch sehr freundlich, hinterher verschärfte sich der Ton. Man erwartete Verbesserungen von ihm. Etwas, das alles wieder in einen normalen Zustand bringen würde, also quasi ein Wunder.
Er bekam ein Labor und stellte ihm Wissenschaftler zur Verfügung. Aber seine Entdeckung machte er in jener Nacht auf seinem alten Ledersessel vor dem schon leicht vergilbten Monitor.
Er war sich nicht sicher, ob er das den hohen Tieren mitteilen sollte, obwohl er eigentlich dazu verpflichtet war. Denn was würde erst geschehen, wenn die Menschen wussten, dass man in andere Welten reist, wenn man schläft. Dass man quasi die Chance hätte, es irgendwo anders zu machen, wenn man nur da bleiben könnte.
Wenn. Genau das hatte Michael in dieser Nacht vor. In dem Moment, als er erfahren hatte, dass die Eva aus seinem Traum wirklich existiert, lebt und atmet war seine Entscheidung gefallen.
Tom hatte ihn nicht davon abhalten können, ihn aber zumindest dazu überredet noch einige Tage zu warten, um genauere Aufzeichnungen zu bekommen und die Gefahren abschätzen zu können.
Er wusste, er würde seinen Freund, so wie er sich vorhin tränenreich von ihm verabschiedet hatte, niemals mehr wieder sehen.
Was war mit dem Michael, der stattdessen erwachte? Kannten sie sich überhaupt in der anderen Welt, in die sein Freund jede Nacht floh? In seinen Träumen war immer nur Eva dort gewesen. Eva, die auf einer Wiese stand, Eva, deren Haar vom Wind verweht wurde, als sie auf den türkisenen Ozean vor ihr blickte, Eva, die auf einem pferdähnlichen Tier saß.
Und immer war sie einige Meter von Michael entfernt gewesen. Sie hatte ihn angelacht und war dann losgelaufen. Er lief hinterher, aber konnte sie nie erreichen. Nun wollte er endlich in diese Welt gehen, um seine geliebte Eva endlich in die Arme schließen zu können.
Tom verstand seinen Freund und er ließ ihn gehen, auch wenn es tief in seinem Herzen wehtat, seinen Kumpel zu verlieren.
Die Aufzeichnungen waren nur verzerrte, kurze Bilder ohne Ton. Aber sie genügten als Bestätigung für die Existenz der Parallelwelten.
Die grüne Linie auf dem Bildschirm verblasste. Jetzt würde es bald soweit sein.
Der Chip wird sich automatisch einschalten und Michaels Seele direkt in die Welt befördern, in der seine Eva bereits auf ihn wartete. Ein Seelentaxi sozusagen. Einfache Fahrt.
Er fühlte den kalten Schweiß auf seiner Haut, als er zu seinem Freund hinüber sah.
Dieser lag nach wie vor ruhig und entspannt auf dem Bett.
„Du weißt, dass ich es tun muss“, hatte er zu ihm gesagt und ihm dabei tief in die Augen geschaut, bevor er einschlief.
Tom hatte nur genickt und ihn dann in die Arme geschlossen. Eine Minute hatten sie einfach nur da gestanden, bis Michael sich sanft von ihm löste und lächelnd sagte:
„Hey, du kannst mich ja jederzeit besuchen kommen, in deinen Träumen. Schließlich bist du der Erfinder der Weltenreise“.
„Na ja, der Erfinder wohl nicht, ich habe nur zufällig entdeckt wie es funktioniert, die Menschen reisen schließlich schon ewig in andere Welten, ohne es zu wissen“, antwortete er nachdenklich.
„Ich werde dich bestimmt besuchen“, sagte er dann und fühlte sich ein wenig besser.
Michael hatte Recht, er konnte ihn schließlich sehen wann er wollte, auch wenn es immer nur für kurze Zeit war. Vielleicht würde er ihm ja auch irgendwann in diese Welt folgen, aber vorher musste er in dieser Welt noch etwas erledigen.
Sein Freund klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
„Du wirst eine Lösung finden, da bin ich mir sicher“.
„Vielleicht“, antwortete er.
„Ganz bestimmt“, bestärkte ihn Michael.
Tom hatte sich verstohlen einige Tränen weggewischt.
„Ich werde dich echt vermissen, besonders wenn ich in Zukunft alleine den Abwasch machen muss“, lachte er und drückte die Hand seines Freundes fest.
„Das tut mir jetzt irgendwie nicht wirklich Leid“, scherzte Michael. Dann hatten sie sich verabschiedet. Sein Freund hatte eine Schlaftablette genommen, welche die Wirkung des Chips nicht beeinträchtigte, sonst wäre er vor Aufregung wahrscheinlich niemals eingeschlafen.
Ein piepsendes Geräusch riss Tom aus seinen Gedanken. Ein rotes Ausrufungszeichen blinkte auf seinem Monitor, das Zeichen, dass sich der Chip aktiviert hatte.
„Machs gut, bis bald“, flüsterte er seinem Freund zu, dessen Augenlider kurz zuckten und dann völlig ruhig blieben. Seine Seele hatte diesen Körper verlassen, für immer.
Nun musste bald die Seele aus der anderen Welt ihre Stelle einnehmen. Nervös starrte er auf die Zacken, die sein Herzschlag auf dem Bildschirm hinterließen. Dann deaktivierte er den Chip, das hatte er bisher noch niemals getan. Nun konnte Michaels Seele nicht mehr in diesen Körper zurückkehren, er hatte die Tür geschlossen. Alles lief planmäßig.

Michael erwachte in einer anderen Welt. Es war wirkte alles anders als in seinen vorherigen Träumen. Viel realer, weil seine Seele nun einen Körper hatte. Endlich würde er seine Eva in die Arme schließen können. Aber irgendwas stimmte nicht. Er fühlte nichts. Er schaute sich um. Er stand auf einem Hügel, weiter unten standen einige Bäume, deren Äste sich im Wind bogen.
Er hätte den Wind auf seiner Haut, in seinem Haar fühlen müssen. Aber da war nichts.
Soweit er es beurteilen konnte sah es in dieser Welt genauso aus wie in der alten.
In der Ferne erkannte er die Spitze eines Kirchturms, der Himmel war grau und verhangen.
Er holte tief Luft, aber jegliche Gerüche blieben aus, obwohl das Gras an seinen Füßen so grün und saftig war, dass er es hätte riechen müssen. Auch die Luft in seinen Lungen spürte er nicht.
Dann erblickte er sie. Eva stand unterhalb des Hügels, hatte ihm den Rücken zugewandt.
Er wollte auf sie zulaufen, kam aber nicht vorwärts, genau wie in seinen Träumen vorher schaffte er es nicht, einen einzigen Schritt zu gehen.
Irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht. War es vielleicht doch nur ein Traum und sie hatten sich geirrt? War es nur eine Spinnerei gewesen von jemandem, der das Liebste in seinem Leben verloren hatte und sich nichts mehr wünschte, als es zurückzubekommen?
Er versuchte ihren Namen zu rufen, seine Stimme klang hohl und irgendwie fremd.
Eva drehte sich um. Sie war genauso schön, wie er sie in Erinnerung gehabt hatte.
Der Wind zersauste ihr Haar, und sie hielt sie mit der Hand zurück, um ihn zu erkennen.
Sie war etwas rundlicher, als er es in Erinnerung hatte, aber es stand ihr gut, und er sehnte sich danach, sie endlich anfassen, spüren zu können.
Als sie ihn erkannte, lachte sie, so wie die vielen Male zuvor. Plötzlich machte er sich keine Gedanken mehr darüber, was hier schief laufen könnte. Alles war nichtig, solange er nur mit Eva zusammen sein konnte.
Aber sie kam nicht auf ihn zu, sondern starrte ihn nur an. Sie hob beide Hände an ihr Gesicht und dann hörte er, dass sie nicht lachte, sondern verzweifelt schrie, kreischte. Sie zerrte an ihren Haaren, dann drehte sie sich um und rannte weg, als wäre der Teufel hinter ihr her.
Er wollte ihr folgen, aber seine Füße trugen ihn nicht, er sackte auf die Knie, stützte sich auf seine Hände und warf zum ersten Mal einen Blick auf seinen neuen Körper und erstarrte.
Fauliges Fleisch hing von seinen Armknochen, unzählige Maden wanden sich auf seinem toten Fleisch. Seine rechte Hand bestand nur noch aus Knochen, aus seinem rechten Knie hingen schwarze, verwesende Muskeln.
Er fasste sich an den Kopf und hielt einen Büschel blutiger Haare in seiner Hand.
Ein Auge löste sich aus seiner Höhle und fiel mit einem schmatzenden Geräusch auf seinen halb verfaulten Oberschenkel.
Kurz bevor ihn die Dunkelheit einhüllte, traf ihn die erschreckende Erkenntnis.
Sie hatten etwas vergessen. Man sagt, für jede Entscheidung, die man trifft, entsteht eine Parallelwelt und offensichtlich hatte er in dieser hier seinen Fischteller selbst gegessen.
Er kippte auf die Seite und starrte mit seinem verblieben, toten Auge in den Himmel.
Sie würden nicht zusammen sein. Nicht hier und nicht in der alten Welt.
Dann fühlte er gar nichts mehr. Denn auch in dieser Welt blieben die Toten tot und eine lebendige Seele konnte in diesem toten Körper nicht existieren.


Tom schaute auf den scheinbar schlafenden Michael. Aber die Kurven auf seinem Monitor sagten etwas anderes. Seit einigen Sekunden hatte sein Herzschlag ausgesetzt. Er hatte es erwogen, dass dies eventuell für einige Sekunden beim Tausch passieren könnte, aber wirklich damit gerechnet hatte er nicht.
„Schlag, schlag, schlag“, flehte er leise das Herz seines Freundes an und presste dabei seine Hände so stark zusammen, dass jegliches Blut aus ihnen entwichen war und sie völlig weiß waren.
Er zählte bis sechzig. Eine Minute, in der nichts geschah. Er spürte Panik in sich aufsteigen, als er zu seinem Freund hinüberhechtete und ihn leicht schüttelte.
Er war kein Arzt, außer bei einem Erste-Hilfe-Kurs in der achten Klasse hatte er niemals irgendwo Wiederbelebungsmaßnahmen vorgenommen.
Aber jetzt würde er müssen, auch wenn es nicht mehr wirklich sein Freund war, der da lag, so musste er doch seinen Körper retten, das war doch das mindeste, das er für ihn tun konnte.
Er legte seine tauben Hände auf die Brust von Michael und begann erst zaghaft und dann stärker rhythmischen Druck auf seinen Herzmuskel auszuüben.
Dann beamtete er ihn durch die Nase, immer im Wechsel.
Nach zwei Minuten tropfte ihm der Schweiß von der Stirn, und er flehte seinen Freund an doch endlich zu atmen. Doch sein Herz blieb ruhig.
Nach Minuten, die ihm wie Stunden vorkamen, fiel er erschöpft auf die Knie und legte seinen Kopf auf die Brust seines Freundes. Er war tot, er hatte versagt. Ein weiteres Menschenleben, das wegen seiner Unzulänglichkeit auf seinem Konto vermerkt wurde.
Er weinte hemmungslos, wie er es schon seit Jahren nicht mehr getan hatte. Nicht nur um Michael, sondern auch um alle Dinge, die in den letzten Monaten schief gelaufen waren.
Ein inkompetentes Arschloch, das beschrieb ihn ganz gut, dabei hatte er es doch nicht böse gemeint, er wollte doch nur etwas Gutes tun. Er hatte immer nur etwas tun wollen, aber dabei waren nur Leid und Zerstörung entstanden.
Heulend holte er sich ein Bier aus der Kiste hinter der Tür und trank es in tiefen Schlucken leer. Eigentlich trank er eher selten Alkohol, aber jetzt schluckte er es wie Wasser.
„Tut mir so Leid, Kumpel“, sprach er zu seinem toten Freund und prostete ihm die Bierflasche zu.
„Ich hoffe, du bist wenigstens da angekommen, wo du hinwolltest“.
Aber wahrscheinlich hatte er sich geirrt. Es gab keine Parallelwelten, und die Wissenschaftler hatten doch Recht gehabt. Irgendwie hatte er sich in diese Sache reingesteigert und die Realität nicht mehr gesehen. Indem er den Chip deaktiviert hatte, wurde sein Freund im Schlaf getötet. Zwar wusste er noch nicht genau, wie das vonstatten gegangen sein sollte, aber er würde es herausfinden. Vielleicht war das auch die Erklärung für die anderen Opfer, die vor Michael gestorben waren. Irgendetwas an ihren Chips war nicht in Ordnung gewesen, sie waren mitten im Schlaf ausgefallen. Das war eine Möglichkeit.
Während er noch über das Für und Wider nachdachte, dabei heulte und Bier trank, fielen ihm irgendwann die Augen zu.
Als er wieder erwachte, hatten sich bei seinem Freund die ersten Leichenflecken gebildet, seine Lippen waren ganz blau. Vorsichtig entfernte er die EKG-Saugnäpfe von seiner Brust und deckte ihn dann sanft zu.
Moment mal, dachte er, ich kann doch ganz leicht überprüfen, ob er angekommen ist.
Übereilt stand er auf und sackte zurück. Sein Kreislauf machte nicht mehr so mit. Der Schlafentzug machte sich langsam bemerkbar. Langsam versuchte er es noch einmal, in seinem Kopf hämmerte ein Presslufthammer.
Er wankte hinüber zu seinem Schreibtisch und öffnete eine Schublade.
Er griff in die sich darin befindliche Schachtel und nahm einen eingeschweißten Chip heraus.
Mit den Zähnen befreite er diesen von seiner Verpackung und steckte ihn in den vorgesehenen Schlitz seines Computers.
Der Monitor zeigte immer noch die geraden Linien eines nicht mehr vorhandenen Herzschlags an. Er löschte den Bildschirm und klickte mit der Maus das Traumprogramm an.
Er gab die Daten seines Freundes und seine eigenen ein, das würde für ein Treffen genügen.
Er speicherte alles auf diesem Chip und legte einen Countdown von einer Stunde fest. Das würde genügen um einzuschlafen, danach steuerte sich der Chip selbst und würde sich aktivieren, sobald er in die R.E.M. Phase eintrat.
Kurz blieb er still sitzen und atmete tief durch, dann nahm er eine der Schlaftabletten aus der Dose, die immer noch von Michael auf dem Tisch stand und würgte sie mit einem Schluck Bier hinunter. Der Alkohol schmeckte schal und bitter, er verzog angeekelt das Gesicht.
Danach legte er sich auf die abgenutzte Couch und schloss die Augen. Es kam ihm eine Ewigkeit vor, als der Schlaf sich endlich über ihn legte.
Als er das nächste Mal etwas wahrnahm, war es um ihn herum dunkel.
Ein unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase. Er versuchte sich zu bewegen, war aber durch irgendetwas beengt. Er tastete sich vor und fühlte etwas kaltes, feuchtes was auf ihm lag.
Nachdem seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten sah er Umrisse vor seinem Gesicht.
Erschrocken zog er die knappe Luft in seine Lungen. Er war hier, bei seinem Freund.
Nur war sein Freund tot und bereits halb verwest und lag nun auf ihm, in seinem kalten Grab.
Irgendetwas Feuchtes tropfte ihm ins Gesicht, als er panisch versuchte, den Toten von seinem Körper zu schaffen.
Er schloss die Augen und versuchte ruhig zu atmen. Dies war nur ein Traum. Früher oder später würde er daraus erwachen, er würde erwachen. Niemals zuvor hatte er so einen furchtbaren Albtraum gehabt, er hätte dem Chip mehr Informationen geben müssen.
Er versuchte, sich auf das Aufwachen zu konzentrieren. Aber er war nach wie vor an diesem furchtbaren Ort, mit einer Leiche auf seinem Körper.
Etwas an seinem Bein bewegte sich, kroch langsam zu ihm hinauf…
Dies ist nur ein Traum, nur ein Traum, sagte er sich immer wieder und vergaß dabei, dass er schon immer ein schwaches Herz gehabt hatte.
 

Rumpelsstilzchen

Foren-Redakteur
Teammitglied
Ach schade!
So eine schöne Geschichte – könnte es sein.
Hättest Du sie nicht unter einem Erklärungsberg begraben.

Ist aus dem Stollen gekrochen und erschöpft zusammengebrochen
 

Gorgonski

Mitglied
Hallo Sumpfkuh

Bei einer gschichte am Rande zu Science Fiction kommt man ohne einen Erklärungsberg nicht aus.
Ich fand sie etwas zu lang, aber nicht ungelungen.

MfG;Rocco
 



 
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