Eingefahren

4,00 Stern(e) 5 Bewertungen

Silbenstaub

Mitglied
Wenn Mia den Geschmack nach Babyhaut im Mund hat und das Schreien des Kindes hört, obwohl es nicht da ist, dann geht sie in die Bar nebenan. Die gab es schon, als sie geboren wurde. Die Einrichtung ist mitgealtert. Eine verstaubte E.T.-Figur aus Plastik steht auf der Zapfanlage. Schummerige Beleuchtung mit einem Blaustich. Die anderen Gäste sind Schemen.
Sie setzt ihr Quatsch-mich-bloß-nicht-an-Gesicht auf. Der Barkeeper Luis grinst. Er kennt sie gut und schiebt ihr den Jim Beam Black rüber und verzieht sich. Mia kreist mit dem Zeigefinger in der Wasserlache auf der Theke, malt ein Herz auf das Holz. Die Musik ist mehr als nur Hintergrund. Sie ist so laut, dass sie das Pochen im Kopf übertönt. Sie schaut sich um. In der Ecke ein sich küssendes Paar. Schnell schaut sie weg. Heute zum Glück kein Tom Waits.
Das hat sie gestern nicht ausgehalten und ist raus an die Spree gegangen, wo die Afrikaner sitzen. Da riecht es gut. Tayo, Abed, Hanad. Ja, sie haben Namen. Sie haben ein Leben. Sie grillen direkt am Wasser. Auch im Winter. Mia hat ihnen vor ein paar Wochen Fleisch mitgebracht. Sehr gutes vom türkischen Lebensmittelhändler um die Ecke. Die haben sich irre gefreut, und klar hat sie mitgegessen. Danach noch verdammt gutes Gras geraucht. Der Mond war kitschig groß und erdfarben. Nach Mandarinen und Eukalyptus und ein bisschen nach Holzkohle roch der Fluss. Zum Abschied bekam sie ein Bild geschenkt. Ein Bild mit Tränen in den Augen von Nashörnern und Wildhunden.
Zu Hause nahm sie den leeren Rahmen von der Wand. Ein Jahr war er leer. Nun nicht mehr.
Yves war zurück nach Paris gegangen und hatte das Foto mitgenommen, das sie zusammen lachend mit der Kleinen zeigte. Einfach weggefahren an einem Sonntagmorgen. Gut, sie hatten gestritten. Ziemlich heftig. Aber den Vorfall mit dem Kind hätte er nicht erwähnen dürfen. Da rastet Mia aus. Darüber muss nicht mehr gesprochen werden. Sie hat es nicht vergessen. Er nicht. Sie werden es nie vergessen. Niemals.

Ein Lufthauch. Sie dreht sich um. Ein Mann ist in die Bar gekommen. Fadendünn oder haarfein. Schwarze Klamotten, was sonst. Er geht etwas zögerlich, das macht ihn sympathisch. Sie korrigiert ihre Gesichtszüge und streicht sich durch die Haare. Er steuert auf den Tresen zu. Könnte ihr Fall sein. Aber sie weiß gar nicht mehr, wie das ist.
Mia betrachtet die Flaschen im Spiegelregal hinter der Theke.
„Hast du schon mal einen Chartreuse getrunken. Ich lade dich ein“, sagt er.
Sie schaut ihn an und denkt, warum jetzt ausgerechnet was Französisches.
„Ne, kenn ich nicht“, erwidert sie.
Luis zwinkert ihr zu und schiebt die Gläser über das Holz. Das Zeug schmeckt ihr nicht, aber das ist ihr egal.
Ein Gespräch beginnt. Irgendetwas über bildende Kunst oder Literatur. Sie fragt sich, ob sie sich später noch erinnern wird, worüber sie geredet haben. Sie mustert sein Gesicht. Schon attraktiv. Aber irgendwie völlig falsch. Sie kündigt an, dass sie zur Toilette müsse. Hinten ist auch ein Ausgang. Luis wird das schon verstehen.
Mia geht nicht nach Hause. In der Küche stehen halbvolle Teller mit angeklebten Nudelresten. In den Räumen tauchen nur wieder die Schatten auf, sie lauern in den Zimmerecken. Die Erinnerung an vertrocknete Schneeglöckchensträuße und kleine Engelfiguren. Sie blättert ab wie Farbe von der Wand.
Mia streift durch die Nacht und weicht den Radfahrern aus. In der hell erleuchteten Außenvitrine der Galerie sieht sie ein Foto. Ankündigung einer Vernissage. Das Gesicht kennt sie, hat sie gerade erst gesehen. Auf dem Foto sieht er noch besser aus als eben.
Regentropfen fallen auf ihre Jacke und versinken im Stoff. Das Kopfsteinpflaster glitzert. Ein Lichtfest.
Mülltonnen am Straßenrand, aufgereiht wie ein lückenhaftes Gebiss. Eine quietschende Tür. Ein Straßenbrunnen in Chromoxidgrün. Menschen mit Bierflaschen. Nur wenige. Mia blickt auf ihre ausgetretenen Turnschuhe und kickt eine Dose weg.
Sie läuft zum Berliner Hauptbahnhof und kauft ein Ticket nach Paris. Nachtzug in einer Stunde. In der Bahnhofshalle hausen die Tristesse und die Einsamkeit. In Lumpen gehüllte Gestalten schlafen auf den Bänken aus Stahl. Ein Einkaufswagen mit den Habseligkeiten. In Bahnhöfen ist immer noch eine Schippe mehr von allem, denkt sie und geht in den Presseshop und studiert die französischen Zeitungen. Der Verkäufer ist anscheinend übermüdet, er kann das Gähnen nicht unterdrücken. Sie nimmt nur einen Coffee-to-go mit.
Coffee-tut-gut, Coffee-tot-go.

Auf dem Bahnsteig in der Ferne ihr Kind mit dem Teddybären. Es lief auf die Schienen zu. Mia fing zu schreien an und stürmte auf das Kind zu. Es fiel in das Gleisbett. Ein Zug rauschte heran. Ein Knacken und ein splitterndes Geräusch. Menschenreste. Überall Blut. Ein rotes Teddybärbein.

Mia steht dicht an der Bahnsteigkante und starrt in die Schwärze des Tunnels.
‚Ich werde Yves schon finden. Geht ja nicht anders.‘
 

Marker

Mitglied
n'abend silbenstaub

das ist ziemlich gut geschrieben, mir gefaellt dein sprachduktus und die art, wie du die saetze baust: kurz, praegnant, knackig und stimmig. alles liest sich rund und wie aus einem guss - sehr cool. das ende indes ist nicht so cool, es greift einem mit einem kalten haendchen direkt ans herz und laesst einen leer schlucken. fazit: ein starkes stueck, das du da ausgeblutet hast, gut gem-8!

muss und werde noch mehr von dir lesen, soviel sicher.

lg, marker
 

Silbenstaub

Mitglied
Was lange währt....
Dieser Text wurde in der vor kurzem erschienenen Ausgabe der Salzburger Literaturzeitschrift erostepost Nr. 59 veröffentlicht.
 

Ji Rina

Mitglied
Hallo Silbenstaub,

Da kann ich mich Marker nur anschliessen.

Deine Nachricht kannst du ürbigens auch hier posten:


Gruss, Ji
 

Vagant

Mitglied
Glückwunsch zur Veröffentlichung.
Mia und Yves verlieren durch einen Unfall ihr Kind. Yves macht sich aus dem Staub, Mia bleibt, vernachlässigt den Haushalt und zieht nachts um die Häuser; ich weiß ja nicht, aber das ist ja wohl das klassische Setting für ein paar rumpelnde Tom Waits Songs. Und dann dieser Satz: Heute zum Glück kein Tom Waits.
Na ja, ich hab's trotzdem gern gelesen.
...got the head full of lightning, a hat full of rain...
Vagant.
 

Silbenstaub

Mitglied
Hallo Ji Rina, danke! Auch für den Hinweis; da es schon so lange her ist, hab ich meinen ergänzenden Hinweis lieber direkt zum Text getan. Gruß Silbenstaub
 

Silbenstaub

Mitglied
Danke Vagant für Kommentar und Wertung! Das ist sicherlich ein klassisches Tom-Waits-Setting, aber das ist der Protagonistin wohl nicht bewusst.;) She takes the long way home. Gruß Silbenstaub
 



 
Oben Unten