Einsame Entscheidung

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Blackpoetcat

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Ein sanfter Wind trug die Möwen in den Abendhimmel. Das kurze Gras der Hallig war warm und weich unter den Füßen, wie ein Teppich. Die untergehende Sonne tauchte das Watt und den sich wie eine silberne Schlange darin räkelnden Priel in ein leuchtendes Orange.

Ein einsamer Mann lehnte sich gegen einen Pfahl, auf dem die Sturmfluthöhen der Vergangenheit angebracht waren, atmete tief ein und aus und fühlte langsam, wie die Ruhe der Umgebung sich auch auf ihn erstreckte.
Als die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war und nur ein Streifen Blau über der Nordsee noch etwas Licht spendete, schloss er die Augen und lauschte den fernen Schreien der Möwen. Seine Gedanken wanderten auf ihren Flügeln, fort von diesem Ort der Harmonie, über Dörfer und Felder bis zu der großen Stadt, die keine 2 Stunden entfernt war und doch auf einem anderen Kontinent zu sein schien.

Diese Stadt, in der er jetzt fast eineinhalb Jahre gelebt und gearbeitet hatte, wie schon in so vielen anderen, in die er geschickt worden war. Es war schon Routine geworden, trotz der ständigen Anspannung, die sein Beruf mit sich brachte.
Sie gehörte dazu, ohne sie wäre man nicht aufmerksam genug, würde mögliche Gefahren nicht rechtzeitig erkennen.
Gefahren – wie vielen war er schon begegnet, wie oft hatte er sich und die erbeuteten Informationen gerade noch in Sicherheit bringen können, manchmal auch um den Preis, seine Waffe benutzen zu müssen....
Er verabscheute das Töten, vermied es, wenn möglich. Doch es hatte Situationen gegeben, in denen er keine Wahl gehabt hatte, wenn sein Auftrag erfolgreich – und er selbst frei und lebendig sein sollte.
Siebzehn Jahre – in denen er jede Information beschafft hatte, auf die er angesetzt worden war. Siebzehn Jahre, in denen er die Karriereleiter steil emporgeklettert war.
Seit drei Jahren war er Oberst, obwohl er doch erst 42 war, und nie hatte er das Gefühl gehabt, dass in seinem Leben etwas fehlte oder dass das, was er tat, moralisch falsch war. Schließlich war alles zum Wohle seines Landes, seiner Heimat!
Und jetzt stand er hier, auf dieser verdammten deutschen Nordseehallig, und dachte nicht an seine Pflicht, nicht an seine Eltern im fernen St. Petersburg, und schon gar nicht an seine Vorgesetzten in Moskau, sondern nur an – SIE.......

Sie, die jetzt wahrscheinlich voller Angst in einer Zelle im Untersuchungsgefängnis saß, sich fragte, warum man ausgerechnet SIE verdächtigte, für einen fremden Geheimdienst zu spionieren; wieso chiffrierte Daten über IHREN Computer das interne Netz verließen; und weshalb er nicht bei ihr war, um ihr zu helfen, sie zu trösten und ihr zu sagen, dass er ihr vertraue und an ihre Unschuld glaube.......

Einen Augenblick glaubte er, ihre Lippen auf seinen zu spüren, ihre Hände auf seiner Wange, seinem Haar.
Doch im nächsten Moment fühlte er ihre Tränen, sah die Verzweiflung in ihren Augen.
Aber erst, als er den salzigen Geschmack auf seiner Zunge registrierte, bemerkte er, dass er es selbst war, der weinte – weinte, weil er zum ersten Mal in seinem Leben bitter bereute, jemanden so verletzt zu haben, jemand anderen benutzt zu haben, um die Spuren seiner Agententätigkeit zu verwischen.

Schlagartig wurde ihm klar, dass ihm das Schlimmste passiert war, was es in seiner
Branche gab:
Nach all diesen Jahren, in denen er Frauen nur zum Erreichen seiner Ziele oder als Sexpartner benutzt hatte, hatte er sich verliebt!

Nein, nicht nur verliebt - er liebte diese Frau, tief und ehrlich. Allein der Gedanke an sie, verzweifelt und verängstigt in einer Zelle, womöglich für 10, 20 Jahre oder gar den Rest ihres Lebens, verursachte einen so bohrenden Schmerz, dass ihm einen Moment schwarz vor Augen wurde.
Er griff nach seiner Pistole, zog sie ein Stück aus dem Halfter – und verharrte mitten in der Bewegung.
Was half es IHR, wenn er sich jetzt eine Kugel in den Kopf jagte?
Sie hatten doch ganz offen eine Beziehung gehabt; die Behörden würden natürlich seine Beteiligung am Verrat ermitteln, aber IHRE Unschuld wäre deshalb noch lange nicht bewiesen!
Nach einigen endlos scheinenden Minuten schob er die Waffe zurück.

Vor seinem geistigen Auge sah er deutlich die Gesichter seiner Eltern;
das kleine Haus in St. Petersburg, in dem er aufgewachsen war; die Newa,
wie sie in der Sonne glitzerte, gerade so wie der Schnee im langen russischen Winter.
Ganz kurz blitzte das Gesicht des Generals drohend auf, wurde jedoch sofort von einem anderen Bild verdrängt: SIE, wie sie ihn morgens nach dem Aufwachen anlächelte, voller Liebe und Vertrauen........

Er schloss kurz die Augen, seufzte tief auf, dann straffte er die Schultern, ging zu
seinem Wagen und stieg ein.
Er zündete sich eine Zigarette an, startete den Motor und fuhr zurück in die Stadt.
 

Andrea

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6 von 10 Punkten

Generell ein nicht übler Text, aber mir scheint, man könnte noch mehr daraus hervorkitzeln.

Inhaltlich ein schönes Spotlight auf den Seelenleben eines russischen 007 mit Gewissensbissen und Liebeskummer. Natürlich ist auch ein kleines bißchen Klischee dabei, obwohl die Zeiten des kalten Krieges ja vorüber sind. Aber das macht nichts. Was ich nicht wirklich begriffen habe, ist, ob die Frau, die er so liebt, jetzt in Rußland oder in Deutschland oder wo auch immer ist. Ich denke, sie ist in einem deutschen Gefängnis, aber sicher bin ich mir nicht.. Außerdem finde ich es fraglich, ob ein Topagent wie er nicht längst auf dem Weg über die Grenze wäre. Zumindest legt mir das meine JamesBond-Erfahrung nahe; und irgendwie erwarte ich einen Hinweis darauf, was er eigentlich gerade tun sollte.

Sprachlich mag ich deinen Stil weitestgehend. Nicht ganz so schön ist, daß du mehrfach mit ganz vielen Punkten arbeitest (sparsamer einsetzen!), dieses sie/ihren in Großbuchstaben (laß den Leser selbst seine Betonung finden bzw. erzeuge sie durch die Syntax) und (apropos Syntax) deine Vorliebe im 3. Absatz, Hauptwörter an den Anfang zu stellen und dann, entweder mit Komma oder Gedankenstrich abgesetzt, näher zu erklären ("Diese Stadt", "Gefahren" und "Siebzehn Jahre"); auch hier gilt: weniger ist mehr.

Womit wir bei den Informationen wären.
Du gibst eine ganze Menge davon, und einiges scheint mir entbehrlich. Sein Verhältnis zum Töten etwa mag zwar theoretisch zur Charakterzeichnung dienen, aber in einer Kurzgeschichte? Könntest du streichen.
Ganz am Anfang gibst du eine sehr detaillierte Beschreibung. Könntest du vielleicht ein wenig straffen. Übrigens würde ich vorschlagen, statt "Ein einsamer Mann" gleich mit "Er" zu beginnen. Du schreibst personal, also fang am besten damit an. Die Informationen, die du im ersten Absatz gibst, könntest du dann nachschieben, so daß man glaubt, es aus seinen Augen zu sehen.

Mein persönlicher Tiefpunkt: "Schlagartig wurde ihm klar, dass ihm das Schlimmste passiert war, was es in seiner
Branche gab: Nach all diesen Jahren, in denen er Frauen nur zum Erreichen seiner Ziele oder als Sexpartner benutzt hatte, hatte er sich verliebt!" Juppeidi, eine Erklärung an den Leser. Und dann auch noch in einer sehr - nun: gewöhnungsbedürftigen Formulierung (das Betreffende habe ich unterstrichen). Zumindest hättest du "Sexpartnerinnen" schreiben können, aber es klingt auch dann noch wahnsinnig steif und fremdartig.
Vertrau ruhig darauf, daß der Leser nach deiner Beschreibung seiner Gewissensbissen erkennt, wie es um ihn steht, es ist nicht nötig, es ihm auch noch so explizit aufs Butterbrot zu schmieren.

Mein persönlicher Höhepunkt: Davon gibt es zwei: ich mag die Stelle mit der Pistole (sehr stimmig) und ich mag das Ende. Natürlich müßte er nicht unbedingt rauchen.. ;)

Fazit: Ausbaufähig und überarbeitungswürdig. Sprachlich bis auf wenige Stellen angenehm zu lesen. Insgesamt aber noch steigerungsfähig.
 



 
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