Einsamkeit

Michael A.

Mitglied
Einsamkeit

von Michael Ackermann


Mit langsamen, gemütlichen Schritten schob die Altenpflegerin Josef in den großen Aufenthaltsratsraum. Sein
grauweißes Haar stand wirr vom Kopf ab und seine blasse, blauen Augen suchten nach dem Fernseher, der
nicht mehr in der Ecke stand, in dem er sonst immer war.
“Fräulein? Könnten sie mir sagen, wo der Fernseher ist?” fragte er leise.
Die Pflegerin, auf deren Schild “Schwester Maria” geschrieben stand, beugte sich zu ihm herunter.
“Er ist kaputt, Herr Schenkelberger! Aber in einer halben Stunde kommt eine Kindergartengruppe zu
Besuch, die extra für uns ein paar Liedchen singt.”
Josef Schenkelberger nickte nur knapp. Seit er in diesem Seniorenheim wohnte, war er es gewöhnt, jeden
Nachmittag seine Sendung zu gucken. Es war eine Fernsehserie, an der er sich Tag für Tag festhalten
konnte. Eine Serie, die ihm das Leben schöner macht, weil er in sie eintauchen konnte.
Eintauchen, in eine Welt, in der es für Josef keine Probleme, keine schlechten Erinnerungen gab.
Schwester Maria bemerkte seinen traurigen Gesichtsausdruck und legte ihm ihre sanfte Hand auf die
Schulter.
“Herr Schenkelberger, geht es ihnen nicht gut? Sie sehen so bekümmert aus.”
“Könnten sie mich in mein Zimmer bringen?” fragte er.
“Aber warum? Die Kinder …”
“Ich möchte die Kinder nicht sehen”, unterbrach Josef die blonde, junge Schwester barsch.
“Schon gut, Herr Schenkelberger”, sagte Maria und drehte kopfschüttelnd den Rollstuhl um.
Auf dem Weg in sein Zimmer dachte Maria nach. Aus welchem Grund wollte Herr Schenkelberger die
Kinder nicht sehen? Beim letzten Besuch der Kindergartengruppe, der knapp zwei Monate zurück lag, hatte
er doch noch vor Freude geweint, als die Kinder ihre einstudierten Lieder gesungen hatten.
Im Zimmer des alten Mannes - Maria wusste, dass er 92 Jahre alt war - parkte sie ihn an seinem Tisch, an
dem er gerne Kreuzworträtsel löste.
Die innere Unruhe, die Maria plagte, drohte zu explodieren. Sie musste es einfach wissen, deshalb fragte
sie ihn einfach.
“Herr Schenkelberger, ich würde gerne wissen, wieso sie so bedrückt sind. Der kaputte Fernseher wird es wohl
nicht sein, der war schließlich schon öfter kaputt.”
Josef schaute aus dem Fenster und schien zu träumen. Bei seiner Lebenserfahrung konnte niemand ahnen,
in welchem Jahr oder an welchem Ort er sich gerade in Gedanken befand. Er begann, leise zu reden:
“Ich kann den Anblick nicht ertragen. Singende, glückliche Kinder! Ich dachte, in all den Jahren kommt man
über so was hinweg …, aber … ich kann einfach keine glücklichen Kinder, die glückliche Lieder singen, sehen!” Er
schaute Schwester Maria in die Augen und stellte fest, dass sie sprachlos war. Ihr Unterkiefer schien nach
unten geklappt zu sein, als hätte jemand einen Bolzen herausgezogen, der den Unterkiefer festgehalten
hatte.
“Wollen sie damit etwa sagen dass sie Kinder … hassen oder so?”
“Nein!” antwortete Josef. “Natürlich hasse ich keine Kinder.” Er nahm das Glas Wasser, das vor ihm auf dem
Tisch stand und nippte daran.
“Ich würde ihnen gerne eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die über 70 Jahre zurückliegt.”
Schwester Maria nahm sich einen Stuhl, ohne Josef aus den Augen zu lassen und setzte sich dicht neben
ihn.
“Ich habe Zeit”, sagte sie nickend und hörte gespannt, was Josef zu erzählen hatte.
“Es war 1939, kurz nach dem Beginn des 2. Weltkrieges. Meine Frau Christa, unsere Tochter Hilde und ich
saßen an unserem Esszimmertisch. Hilde saß in einem Hochstuhl. Sie war gerade mal drei Jahre alt und hielt
ihr Stofftier fest.”
Jetzt schien Josef ein wenig zu lächeln, fand Maria.
“Wir hatten nicht viel zu essen und auch kaum Geld, aber an diesem Tag servierte meine Frau zum Gemüse
ein paar Stücke Fleisch.”
Er schaute Schwester Maria wieder aus tieftraurigen Augen an. “Fleisch gab es damals vielleicht einmal im
Monat. Ich werde diesen Tag niemals vergessen.”
“Weil es Fleisch gab?” fragte Maria dazwischen, aber ihr tat es direkt wieder Leid, Josef unterbrochen zu
haben.
“Nein!” Josefs Lippen bebten. Er fing an, im ganzen Gesicht zu zittern und Maria nahm ihn in den Arm.
“An diesem Tag verlor ich mein Leben!”
Verdutzt kniff Maria ihre Augen zusammen und wartete gespannt darauf, was passiert war.
“Wir wollten gerade essen, als irgendjemand mit heftigen Schlägen unsere Haustüre bearbeitete.”, sagte Josef.
“Ängstlich und mit pochendem Herz schlich ich verhalten auf die Türe zu, um zu sehen, welche Vandalen das
waren. Man konnte ja nie wissen... . Langsam öffnete ich die Haustür, und ...\"
Maria sah dicke Tränen Josefs Wange herunterrollen. Im ersten Moment war sie so perplex, dass sie nicht
wusste, wie sie sich verhalten soll. Sie versuchte, ihm nicht in die Augen zu schauen. Zu ihrer
Verwunderung hatte er sich aber schnell wieder im Griff und redete weiter.
“Fünf oder sechs Gestapo-Leute überrumpelten mich und zogen zielstrebig durch unsere kleine Wohnung.
Gerade als ich mich aufgerappelt hatte, hörte ich auch schon die verzweifelten Rufe meiner Frau Christa. Ich
wusste nicht, was hier gespielt wurde und rannte ins Esszimmer.”
Josef unterbrach seine Erinnerung und trank langsam und zittrig aus seinem Wasserglas.
“Sie nahmen sie mit! Beide!”
Maria war immer noch verblüfft.
“Warum denn das?” fragte sie, konnte sich die Antwort aber schon denken.
“Sie wurden mitgenommen, weil meine Frau eine Jüdin war. Infolgedessen war es meine Tochter auch.
Zumindest zur Hälfte. Damals wurde jüdische Geschäfte boykottiert und auch die Juden selbst hatten so gut
wie keine Rechte mehr. Aber zu Hause frei leben, sich frei bewegen, das durften sie bis zu diesem
Zeitpunkt noch. ” Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er mit belegter Stimme fort.
“Ich höre heute noch ihre Schreie. Die desperaten Hilferufe. Aber … aber ich konnte nichts tun. Ich hatte keine
…Chance. Meine Frau war schon draußen. Vier Leute hatten sie rausgezerrt … geschlagen … und beschimpft! Ich
wollte wenigstens meine Tochter retten und bettelte die beiden restlichen Gestapo- Leute an, mir
wenigstens meine Tochter zu lassen.\" Mit glasigen Augen sah er durch Maria hindurch. \"Ich
hatte sie gefragt, ob sie Kinder haben. Ob sie kein schlechtes Gewissen plagte. Aber sie ließen mich einfach
links liegen, … so als wäre ich Luft. Dann brachten sie meine Tochter weg.”
Josef fing an, hemmungslos zu weinen, was bei seiner Erziehung bestimmt ein Ausdruck von Schwäche war.
Aber es war ihm anscheinend egal, denn nach einer kurzen Pause sprach er weiter:
“Meine Tochter streckte ihre kleinen Ärmchen nach mir aus, als einer der Kerlen sie über der Schulter
Richtung Türe trug. Ich wollte sie ihm wieder entreißen, … aber ich bekam nur ihr Stofftier zu fassen. Mir brach
es für alle Zeiten das Herz.”
Mit verweinten Augen trank er sein Wasser aus. Maria saß neben ihm und schwieg, während auch ihr Tränen
die Wangen hinab rannen.
Dann umklammerte Josef die Räder seines Rollstuhls, fuhr langsam durch das kleine Zimmer und blieb vor
einer alten Kommode stehen. Er öffnete die quietschende Holztür und nahm etwas heraus.
Maria kam zu ihm, schaute ihm über die Schulter und erkannte ein uraltes Stofftier. Josef drehte sich zu ihr
herum und sagte:
“Vielleicht verstehen sie jetzt, warum ich keine fröhlichen Kinder sehen kann. Ich hatte diese Geschichte
niemals jemandem erzählt. Keinem, außer ihnen!
Das einzige, das ich von meiner Familie noch besitze, sind die getrockneten Tränen in diesem Stofftier.”
Maria war vor Sprachlosigkeit kristallisiert. Sie hatte keinen Schimmer, was sie ihm jetzt sagen sollte. Der
alte Mann war mit einem Male total gebrochen, aber nahm tapfer den Faden wieder auf:
“Ich war in diesem Leben nur in zwei Menschen verliebt. In meine Tochter und in meine Frau. Niemals mehr
hatte ich eine Frau, oder Freundin. Seit diesem Tag war ich wieder alleine.”
Maria hörte vom Aufenthaltsraum her leise, glückliche Kinderstimmen, die ein Lied anstimmten, doch auch sie
hatte für heute keine Lust mehr, glückliche Kinder zu hören.

ENDE
 
S

Sabine.K

Gast
Hallo Michael,

die Geschichte finde ich sehr berührend erzählt.

Kleine Änderungsvorschläge hätte ich aus meiner persönlichen Sicht:

seine blasse, blauen Augen
blassen

in der Ecke stand, in dem er sonst
".., in der" (bezieht sich auf die Ecke, nicht auf den Fernseher)

Seit er in diesem Seniorenheim wohnte, war er es gewöhnt, jeden
Nachmittag seine Sendung [strike]zu gucken[/strike].
"zu sehen" fände ich besser.

die blonde, junge Schwester
Ich weiß nicht warum, aber für mich klingt junge, blonde Schwester besser.

Maria wusste, dass er 92 Jahre alt war
Als Pflegerin weiß sie natürlich, wie alt er ist. "- er war 92 Jahre alt -" würde meiner Meinung nach ausreichen.

ich kann einfach keine glücklichen Kinder, die glückliche Lieder singen,
Fröhliche Lieder fände ich passender.

“Ich höre heute noch ihre Schreie. Die desperaten Hilferufe. Aber …
Auch, wenn Du vorher schon verzweifelt verwendet hast, würde ich auch hier desperat durch verzweifelt ersetzen.

Maria war vor Sprachlosigkeit kristallisiert.
Vorschlag: Maria hatte es die Sprache verschlagen. oder: Maria war sprachlos. oder mit dem nächsten Satz verbunden: Vor Betroffenheit wusste Maria nicht mehr, was sie sagen sollte.

Was mir an der Gestaltung noch auffällt, sind die häufigen Zeilenumbrüche mitten im Satz. Mich haben sie beim Lesen manchmal etwas stolpern lassen.
 



 
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