Eis essen

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Resjek

Mitglied
Sie fiel mir sofort auf, als sie das Café betrat. Sie war etwa dreissig, hatte
halblanges, schwarzes Haar, ein wachsbleiches Gesicht und trug ein eng-
anliegendes, violettes Samtkleid.
Sie setzte sich an den Tisch neben der Theke, öffnete eine kleine Leder-
tasche und zog mit spitzen Fingern ein Paket Zigaretten heraus. Als das
Feuerzeugzeug aufblitzte, glänzte ihr Gesicht und sie schloss sekundenlang die Augen.
„Einen Kaffee und ein Vanilleeis, bitte“ rief sie der Bedienung zu, die sich ihr auf ein paar Schritte genähert hatte. Sie sagte es sehr bestimmt und deutete ein Lächeln an.

Ich blätterte in der Zeitung und las ein paar Sätze. Die riesige Uhr beim
Eingang schlug elf, als die Kellnerin Kaffee und Eis brachte.
Sie begann sofort zu essen. Sie hielt den zierlichen Dessertlöffel ganz
leicht in der Hand und umspielte das Eis, bis sich eine winzige Menge auf
dem Löffelrand befand, balancierte es behutsam auf Augenhöhe, schaute
es sekundenlang an, öffnete langsam ihre dunkel gefärbten Lippen und
liess es sanft auf die Zunge gleiten, wo sie es hin- und herwog, wie eine kostbare Fracht.
Dann senkte sie die Hand bis zur Tischkante und blickte gedankenverloren
auf die gegenüberliegende Wand, als sähe, oder erwarte sie von dort etwas, das ihre ganze Aufmerksamkeit erfordere.

Plötzlich trat ein glatzköpfiger, dicklicher Mann an ihren Tisch, nickte ihr zu,
ergriff zögernd den andern Stuhl und setzte sich. Sie schaute ihn an, wie
sie vorher die Wand angeschaut hatte, so, als wäre sie weit weg und das
Eis nur ein Vorwand, der sie daran erinnern sollte, dass sie mitten in der Stadt in diesem Café sass.

Die Kellnerin kam. Der Mann hielt die Dessertkarte in der Hand, zeigte mit
dem Finger darauf und sagte:
„ Bringen Sie mir dies da.“
Als sie wegging behielt er die Karte in der Hand und tat, als würde er darin lesen.

Nach einer Weile kam die Kellnerin zurück und stellte ein Glas mit
mehreren Eiskugeln vor ihn hin. Der Mann räusperte sich, zog den Stuhl
mit einem Ruck näher an den Tisch und ergriff den Löffel, wie man eine Waffe ergreift.
Er senkte den den Kopf über das Eis, stach mit dem Löffel hinein, zerteilte
die Kugeln in drei, vier Stücke und schob sie in rascher Folge in den Mund.
Die Frau blickte auf und sah den Mann erstaunt an. Nach kurzem Zögern legte sie den Löffel neben die Tasse und lehnte sich zurück. Ihre Augen
schienen grösser zu werden, die Lippen öffneten sich leicht, sie sah aus wie ein überraschtes Kind.

Je länger sie in dieser Haltung verharrte, umso schneller schien der Mann
zu essen. Die Eisstücke auf dem Löffel wurden noch grösser, seine Hand begann zu zittern. Als ein grosses Stück vom Löffel zurück in den Becher fiel, hielt er kurz inne, hob den Kopf, sah der Frau für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen, setzte das Glas ohne zu zögern an die Lippen und schlürfte es aus.

Dann erhob er sich mit einem Seufzer, nickte der Frau mit einem
verlegenen Lächeln zu und war genau so schnell verschwunden, wie er gekommen war.
Kurze Zeit später kam die Kellnerin und fragte, wo der Mann denn geblieben sei.
„Er ist fort,“ sagte die Frau gleichgültig.
„Aber der hat doch gar nicht bezahlt,“ rief die Kellnerin empört.
Die Frau öffnete ihre Tasche und nahm einen schwarzen Geldbeutel
heraus auf dem Glasperlen glitzerten.
„Hier,"sagte sie und streckte der Kellnerin einen Geldschein entgegen.
"Das sollte für beide reichen, den Rest können Sie behalten.“

Dann stand sie auf und eilte dem Ausgang zu. Beim Vorübergehn streifte
ihr Ärmel meinen Tisch und der süssliche Duft eines Veilchenparfums wehte herüber.

 

Sebahoma

Mitglied
Hallo Resjek,

mir hat dein Text gut gefallen, vor allem die Beschreibung der unterschiedlichen Ess-Stile finde ich gelungen. Nur eine kleine Anmerkungen habe ich. Auf die Kommasetzung nach der wörtlichen Rede könntest du noch mal einen Blick werfen. Ich glaube, da ist manchmal das Komma verrutscht.

Viele Grüße,
Sebahoma
 

Resjek

Mitglied
Danke, liebe Sebahoma, für deine Rückmeldung.
Deine Anregung mit den Kommas (sagt man nicht mehr Kommata wie vor hundert Jahren?) in Ehren,
aber ich fürchte, ich bin beratungsresistent in dieser Hinsicht. Ein weiterer Grund: bin auch zu faul,
um herauszufinden, wo wann eines steht...

Herzlich Resjek

PS: Ich habe aber nichts dagegen, wenn du die entsprechenden Stellen markierst...vielleicht
lerne ich ja doch noch dazu....
 
A

aligaga

Gast
Hallo @Resjek,

@ali hat eine Schwäche für Schweizer Sichten. Deshalb hat er im Anfangsteil deiner Impression ein bisschen den Lektor gespielt und dir mit [blue]blauer[/blue] (statt mit roter) Tinte ein paar Vorschläge gemacht:

Sie fiel mir sofort auf, als sie das Café betrat. [blue]Was für ein grässlich abgedroschener, unnützer Beginn! Wer neu hereinkommt, fällt immer auf. Löschen![/blue]

Sie war etwa dreissig, hatte
halblanges, schwarzes Haar [blue]vor (oder über)[/blue] ein[blue]em[/blue] wachsbleiche[blue]n[/blue] Gesicht und trug ein [strike]eng-
[/strike]anliegendes, violettes Samtkleid.
Sie setzte sich an den Tisch neben der Theke, öffnete eine kleine Leder-
tasche und zog mit spitzen Fingern ein [blue]Päckchen[/blue] Zigaretten heraus. Als das
Feuerzeugzeug aufblitzte, glänzte ihr Gesicht[blue]. Sie [/blue]schloss sekundenlang die Augen.
„Einen Kaffee und ein Vanilleeis, bitte[blue]![/blue]“ [strike]rief sie der Bedienung zu, die sich ihr auf ein paar Schritte genähert hatte.[/strike] Sie sagte es sehr bestimmt [blue]zu der Bedienung [/blue]und deutete ein Lächeln an.

Ich blätterte in der Zeitung [strike]und las ein paar Sätze[/strike] [blue]und tat, als ob ich läse[/blue]. [blue]Es schlug (draußen)[/blue] elf, als die Kellnerin [blue]das Bestellte [/blue]brachte.
[blue]Die Schöne [/blue]begann sofort [blue]damit[/blue][blue],[/blue] hielt den [strike]zierlichen[/strike] Dessertlöffel ganz
leicht in der Hand und umspielte [blue]damit[/blue] das Eis, bis sich [blue]ein winziges Häufchen davon [/blue]auf
dem Löffelrand [blue]gesammelt hatte.[/blue] Sie balancierte es behutsam auf Augenhöhe, [blue]betrachtete[/blue]
es sekundenlang [strike]an,[/strike] [strike]öffnete langsam ihre dunkel gefärbten Lippen[/strike] und
liess es [blue]dann erst[/blue] sanft auf die Zunge gleiten, wo sie es hin- und herwog[blue](,)[/blue] wie eine kostbare Fracht.
[strike]Dann senkte sie die Hand bis zur Tischkante und[/strike] [blue]Nach jedem so zu ihrem purpurroten Mund geführten Löffelchen [/blue]blickte [blue]sie[/blue] [strike]gedankenverloren[/strike]
[blue]zur[/blue] gegenüberliegende[blue]n[/blue] Wand, als [strike]sähe, oder[/strike] erwarte[blue]te[/blue] sie von dort etwas, das ihre ganze Aufmerksamkeit erforderte.
Bei Kurzgeschichten ist weniger oft mehr. Viele "Requisiten" stellt der Lesser sich selbst hinein; du solltest ihm diese Spielräume lassen. Sonst sind's keine anregenden Miniaturen, sondern totgemalte Schinken wie die des nationalheiligen Albert Anker.

Natürlich gibt's für jeden Änderungsvorschlag eine gute Begründung, aber das würde jetzt zu weit führen.

Gut gelaunt

aligaga
 

Resjek

Mitglied
Danke, aligaga, ich weiss, du meinst es gut und einige Vorschläge sind sicher bedenkenswert,
aber soviel Arbeit...da muss ich zuerst ein Eis essen...

Apropos: Zu "Sie fiel mir sofort auf, als sie das Lokal betrat.." Du meinst, das sei ja sowieso
klar, jedermann falle auf, wenn er ein Lokal betritt..."

Nun, inzwischen gibt es die Generation SmartPhone....alle sind jederzeit über ihr
Gerät gebeugt...da fällt kein Schwein mehr auf, das irgendwo die Szene betritt...

Herzlich Resjek
 

DocSchneider

Foren-Redakteur
Teammitglied
Hallo Resjek,

wann hat die Dame denn den Kaffee getrunken? :)
Die Kombination aus Heiß und Kalt ist ungewöhnlich, deshalb suchte ich nach dem Kaffeetrinken.

Den ersten Satz würde ich lassen. Denn nicht jeder fällt auf, wenn er einen Raum betritt. Sie ist aber aufgefallen, Du beschreibst ja auch, weshalb.

Weshalb bezahlt sie für ihn? Eine kleine Andeutung würde mir besser gefallen.

VG,
DS
 
A

aligaga

Gast
Dass eine Frau nicht auffiele, die im engen, violetten(!) Samtkleid ein Café beträte, ist undenkbar. Die fällt jedem auf, der hinguckt. Daher ist der millionenfach gezogene, grausige Intro überflüssig wie ein Kropf.

Das mit den Smartphone zieht nicht - das Lyrich hat ja keins, sondern gibt vor, Zeitung zu lesen. Und: In der Schweiz gilt in Lokalen bereits seit 2009 Rauchverbot. Davor waren Smartphones aber eher eine Rarität.

Die Kombination aus Heiß und Kalt ist ungewöhnlich, deshalb suchte ich nach dem Kaffeetrinken.
O je - wo leben wir denn? Tipp: hier (eis)guhgeln!


Heiter

aligaga
 

Resjek

Mitglied
Toll, die Idee mit dem affogato al caffè...ich habe jahrelang in Bella Italia gelebt, aber auf diese
Delikatesse bin ich erst dank aligaga gestossen....so kann man denn wohl sagen: Nicht nur Reisen
bildet, auch aligaga...

Sehr heiter Resjek
 
A

aligaga

Gast
Eine textbezogene Antwort wäre mir lieber gewesen ...
Hm - @ali könnte sich vorstellen, dass der profane Schluck Kaffee zwischendurch literarisch nichts hergegeben hätte und deshalb wegfiel. Wie erfahren ja auch nicht, wie die Dame rauchte, ohne dass dies der Geschichte Abbruch täte: Es treffen sich in ihr zwei Welten ebengerade nicht - ein Gourmet und ein Gourmand.

Was die beiden sonst noch trennt, überlässt die AutorIn der Fantasie des Betrachters. Das ist bei Kurzgeschichten nicht das Ungeschickteste!

Quietschvergnügt

aligaga
 

Resjek

Mitglied
Danke Silberne Delfine,

Damit hat die Geschichte ihren Sinn erfüllt und deine Rückmeldung bereichert meinen Tag.

Gruss Resjek
 



 
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