Eiszeit

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Olgeke

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Es war ein wunderschöner Wintertag. Der Schnee hatte die ganze Landschaft und das kleine Dorf in ein Wintermärchen verwandelt und die Sonne schien vom strahlend blauen Himmel herab.
Diese Zeit mochte Daniel am liebsten, die Vorweihnachtszeit. Und wenn dann auch noch das Wetter mitspielte und es Schnee gab, hatte er alles was er brauchte um glücklich zu sein.
Der kleine zugefrorene See im Wald war eine Augenweide. Das erste mal seit einigen Jahren, wurde er endlich wieder von einer tragenden Eisschicht bedeckt. Beinahe täglich trieb sich Daniel mit seinen Klassenkameraden auf dem sogenannten Todeshügel herum. Sie rasten mit allem was sie finden konnten den Berg hinab. Der mittlerweile ordentlich festgefahrene Schnee brachte ihre Schlitten und sonstige Fahrzeuge immer wieder auf Höchstgeschwindigkeiten.
Anfangs hatte er noch seinen kleinen Bruder mitgenommen und war mit ihm zusammen dort heruntergefahren. Doch als sein Vater bei einem Spaziergang mal vorbeischaute, und sah wie schnell die Kinder dort rodelten, verbot er Daniel seinen Bruder mit auf den Schlitten zu nehmen. Er sei ja gerade mal knapp vier Jahre alt, und das wäre dann doch zu gefährlich. Daniel und seine Kumpels hatten aber schon bald keine Lust mehr auf den Todeshügel
Es wurde mit jedem Tag voller dort und man musste schon schauen, dass man nicht gleich wen über den Haufen fuhr.

Also wurde beschlossen, dass sie sich nach dem Mittagessen am See treffen würden, um ein wenig darauf rumzuschliddern oder es sogar mit ihren Fahrrädern zu versuchen. Einige der älteren Jungs aus dem Dorf fuhren auch schon mal mit ihren Mofas auf dem See rum und hatten dabei eine Menge Spaß.
Gesagt, getan. Daniel holte nach dem Essen sein Fahrrad aus der Garage und zog los. Er erzählte seinen Eltern nicht was er vorhatte, den sein Vater hatte sich schon einmal riesig aufgeregt und geschimpft, wie man nur so bescheuert sein konnte mit Mofas aufs Eis zu gehen. Daniel wusste, es hätte seinem Dad mit einem Fahrrad auch nicht viel besser gefallen.

Sie waren zwar nicht die einzigen, doch der See reichte für alle aus. Keiner kam sich in die Quere.
Einige Kinder spielten Eishockey und einige Spaziergänger wanderten über die gefrorene Wasseroberfläche, die nur an zwei Stellen am Ufer großzügig aufgeschlagen worden war, damit die ganzen Enten und Schwäne noch etwas von ihrem See hatten. Daniel wusste es nicht, aber er vermutete, dass der Förster oder der Jagdverband dies gemacht hatte. Eigentlich war es ihm auch egal, er wollte nur nicht zu nah an diese Stellen rankommen, um womöglich mit seinem Fahrrad dort reinzurutschen. Nach einiger Zeit, und nach vielen mehr oder weniger spektakulären Stunts, versuchten sie aber genau das.
Wer wohl nach einer Vollbremsung so nahe wie möglich an eines der Wasserlöcher kam, ohne drin zu landen.
Zuerst hatten sie alle reichlich Respekt vor dem eiskalten Wasser, doch mit jedem Versuch trauten sie sich mehr.

Daniel und seine Kumpels erregten viel Aufmerksamkeit bei den anderen Eisspaziergängern. Allerdings war wohl keiner on ihren Aktionen begeistert. Die meisten schüttelten nur den Kopf und man konnte förmlich Sätze wie „ Die sind wohl lebensmüde“ von ihren Lippen ablesen. Es dauerte nicht lange, da entdeckte Daniels Vater die Jungs auch schon. Der hatte sich wohl ausgerechnet an diesem Nachmittag auch vorgenommen zum See zu kommen.
Er hatte Daniels kleinen Bruder auf seinem Schlitten dabei und zog ihn übers Eis.
Der Kleine hatte irre Spaß daran von Papa gezogen zu werden.
Als dieser jedoch sah, was Daniel und seine Freunde dort trieben, entwich ihm genauso wie Daniel als er seinen Vater entdeckte, jeder Spaß aus dem Gesicht.
Er schrie Daniels Namen quer über den kleinen See. Daniel erkannte sofort, dass es großen Ärger geben würde.
Beinahe jeder der auf dem See war blickte nun zu seinem Paps.
So auch sein Kumpel Marco.
Als der dann wieder nach vorne blickte versuchte er noch zu bremsen, doch es war einfach zu spät. Er verschwand samt Fahrrad im eiskalten Wasser.

Dann ging alles ganz schnell. Daniel sah einige Spaziergänger, darunter auch seinen Vater, in ihre Richtung losrennen. Besonders schnell kamen sie auf dem Eis aber nicht voran.
Einige andere rührten sich nicht vom Fleck, sondern fummelten an ihren Handys rum, um wie er vermutete, die Polizei oder die Feuerwehr zu rufen.
Er selbst und seine Klassenkameraden waren nun hoffnungslos überfordert und nicht in der Lage irgendetwas zu unternehmen. Aus allen Richtungen hörten sie die Leute rufen. Daniel starrte auf das große Loch im Eis, doch von Marco war nichts zu sehen. Er war ungefähr fünf Meter davon entfernt, und selbst wenn er gewollt hätte, er konnte sich vor Schreck keinen Schritt weit bewegen.
Ein Spaziergänger, ein kräftiger Mann der etwa so alt wie sein Vater war, hatte die Jungs fast erreicht und rief ihnen zu, sie sollten nicht versuchen zum Loch zu gehen, die Feuerwehr sei schon auf dem Weg.
Daniel drehte sich zu seinem Dad um. Der hatte alle Mühe mit seinem kleinen Bruder auf dem Schlitten voran zu kommen. Er konnte dem Kleinen am Gesicht ansehen wie es ihm gefiel, dass Papa ihn jetzt schneller zog. Er wusste natürlich nicht, dass dies jetzt kein Spaß mehr war. Sein Vater schaute beim laufen kurz nach Hinten, wohl um zu sehen ob sein Jüngster mit dem Tempo klar kam. Dann brachen sie ein.
Es musste eine dünnere Stelle im Eis gewesen sein, die das Laufen nicht ausgehalten hatte. Daniel starrte mit weit aufgerissenem Mund auf das Loch im Eis, wo nun der Schlitten im Wasser schwamm.
Endlos lange Sekunden passierte nichts, nur das Geschrei der Leute um ihn herum wurde chaotischer und lauter. Plötzlich brach sein Vater durch die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Mit dem nächsten Atemzug schrie er nach seinem jüngsten Kind. Vergebens.
Von da an hasste Daniel die Winterzeit. Es würde nun nur noch eine kalte, dunkle Zeit der Trauer und Schmerzen sein.

Die Feuerwehr konnte Marco recht schnell bergen. Bewusstlos zwar, aber sie konnten ihn wiederbeleben. Sein kleiner Bruder hatte keine Chance. Es dauerte einfach zu lange für seinen kleinen jungen Körper.
Es war einfach zu spät, als Daniel ihn unter seinen Füßen unterm Eis hertreiben sah. Als die Rettungstaucher ihn dann aus dem Wasser geholt hatten, wurde er sofort mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus gefahren. Doch es brachte nichts. Sein kleines Herz verkraftete das kalte Wasser nicht. Es hörte einfach auf zu schlagen.
Noch am nächsten Tag wurde er beerdigt. Seine Eltern sahen schrecklich aus. Sie hatten die ganze Nacht geweint und auch Daniel hatte nicht geschlafen. Er würde das Bild seines kleinen Bruders, wie er unterm Eis trieb, nie vergessen. Er war für den Rest seines Lebens traumatisiert und würde es wohl nie wirklich verarbeiten können.
Nun standen sie am Rand des zwei Meter tief ausgehobenen Grabes seines Bruders, der kleine Sarg war schon herabgelassen worden. Seine Mutter erlitt gerade den dritten Nervenzusammenbruch und Vater musste sie stützen. Das ganze Dorf nahm an der Beerdigung teil.
Als das Grab zugeschüttet wurde brach auch Daniel unter Tränen zusammen.
Er suchte die ganze Schuld bei sich und dachte an alles was er mit seinem kleinen Bruder erlebt hatte.
Er hatte noch das Lieblingskuscheltier seines Bruders mit in den Sarg gelegt. Er lag so friedlich da als würde er schlafen. So sehr es ihn auch immer genervt hatte, wenn sein Bruder Nachts nach ihrer Mutter rief, und er dadurch wieder wach wurde. Daniel musste oft genug Rücksicht auf den Kleinen nehmen. Doch das war ihm nun egal. Er würde doppelt soviel Ärger mit ihm auf sich nehmen und alles dafür tun, könne er nur die Zeit zurückdrehen und alles ungeschehen machen.
Nun lag er zwei Meter unter ihnen und würde nie mehr lachen, nie mehr unbeschwert im Garten herumtollen.
Sie standen alle in sich gekehrt und voller Schmerz an seinem Grab und merkten nicht wie es anfing zu schneien. Der Himmel weinte um einen kleinen Jungen der sich noch nicht selber helfen konnte. Der auf andere angewiesen war. Doch sie hatten versagt.
Der Himmel weinte Wintertränen.
Und zwei Meter unter ihnen würde ein kleines Augenpaar nie mehr diese wunderschönen Eisblumen sehen, die sie immer voller Vorfreude erwartet hatten.
Sie bemerkten nicht, wie die Bewohner des Dorfes nach und nach den kleinen Friedhof verließen.
Und zwei Meter unter ihnen würde sich ein kleiner Junge über jeden zukünftigen Besuch an seinem Grab, über jeden abgelegten Blumenstrauß freuen, wenn er es könnte.
Sie bemerkten nicht, wie die Sonne unterging und den Friedhof in eisige Kälte und Dunkelheit hüllte.
Und zwei Meter unter ihnen würde es für immer kalt und dunkel sein.
Sie bemerkten nicht, wie der Pfarrer spät in der Nacht zu ihnen kam, denn er wollte die Friedhofstore schließen.
Und zwei Meter unter ihnen spielte es keine Rolle, ob die Tore verschlossen waren oder nicht.
Sie bemerkten nicht, wie weit und eisig dieser Heimweg in dieser dunklen, kalten Nacht war.
Und zwei Meter unter ihnen begann ein kleines Herz wieder zu schlagen.
Sie bemerken nicht, wie die Trauer sie innerlich auffraß.
Und zwei Meter unter ihnen griff eine kleine Hand nach dem so vertrauten Kuscheltier und umfasste es sanft.
Sie bemerkten nicht, dass sie sich langsam, aber stetig voneinander abwendeten.
Und zwei Meter unter ihnen rief ein kleiner Junge im Dunkeln mit leiser Stimme nach seiner Mutter.
Sie bemerkten nicht, wie ihr Leben endgültig zerbrach.
Und zwei Meter unter ihnen?
Da wartete ein kleiner Junge auf eine Antwort seiner Mutter.
Er würde keine bekommen.
 



 
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