Elf Euro Zwanzig

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Kayl

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Was erzähle ich euch! Es ist doch ungeschriebenes Gesetz: Wenn Alte im Cafe zusammen sitzen, reden sie über Krankheiten.
Wilma hatte eine Brustkrebs-Operation überstanden und litt unter der Chemotherapie, Clara hat einen so hohen Blutdruck, dass sie wegen der Kopfschmerzen jeden Morgen erst nachmittags in die Gänge kommt, und ich brauche Krücken, die drüben im Schirmständer stehen. Ich habe seit einem Monat ein Hüftgelenk aus Titan und Kunststoff.
Wir bemühten uns, nicht über unsere Gebrechen zu reden, schafften es aber nicht.
Das Cafe war nur schwach besetzt, außer uns saß ein junges Paar an einem Tisch und an einem weiteren neben uns ein älterer Herr mit einem Glas Bier.
„Ich fühle mich ständig schwach, und übermorgen muss ich wieder an die Nadel.“ Angst und Hoffnungslosigkeit standen Wilma ins Gesicht geschrieben. Sie rührte lustlos in ihrer Tasse. „Immer habe ich Bedenken, aus dem Haus zu gehen und erst recht, ins Auto zu steigen. Ich fühle mich so unsicher.“
„Mir geht es nicht viel besser“, warf Clara ein, „die Arzttermine werden mir langsam zu viel. Von meinen Wanderungen bleiben mir nur Erinnerungen. Was soll ich machen bei meinen Schwindelanfällen. Irgendwann falle ich um und liege hilflos am Boden.
Und was machst du, mein Lieber? Kann man mit Krücken eine Segelyacht bedienen?“
„Das geht nicht, die Krücken wären mehr im Weg als eine Hilfe. Immerhin bleiben auch mir wunderschöne Erinnerungen, Logbücher in meinem Hirn. Am liebsten denke ich an meine erste Fahrt auf der Adria, mit einer gecharterten Yacht. Leider kann ich mich an ihren Namen nicht erinnern, Auf Wiedersehen auf Japanisch. Das ist ein halbes Jahrhundert her.“
„Wenn du in einigen Wochen gut zu Fuß bist, besuchst du ein japanisches Cafe und fragst, was Auf Wiedersehen heißt.“ Einer von Claras praktischen Tipps.
Ich war zuversichtlich. Ich hatte eine vierwöchige Kur vor mir und hoffte, danach ohne Stützen gehen zu können. Vom Schirmständer bis zu unserem Tisch hatte ich mich an Tischkanten entlang hangeln müssen.
Auch der Mann mit dem Bier griff hinter sich an die Stuhllehne, stemmte sich hoch und ging bedächtig und langsam zur Toilette.
Nach einigen Minuten kam er zurück, blieb stehen und sah suchend um sich. Und ging wieder zur Toilette. Wir sahen uns fragend an.
Er kam zurück, setzte sich, trank sein Glas aus und sah zur Theke, wo ein Mädchen bediente.
Er hob seine Hand, öffnete seine Lippen, gab sich einen Ruck, wollte etwas sagen.
Es fiel ihm sichtlich schwer.
„Zahlen!“
Das Mädchen kam mit gezückter Geldtasche an seinen Tisch.
„Das macht elf Euro zwanzig.“
Wir wollten nicht neugierig erscheinen und nahmen nur deshalb am Geschehen teil, weil Spannung im Raum stand und vielleicht Hilfe nötig war.
Der Mann sah die Bedienung verzweifelt an und tastete seine Kleidung ab, bis er endlich ein Papier aus der Tasche zog und ihr reichte.
„Das ist eine Busfahrkarte. Damit kann ich nichts anfangen.“
Er steckte die Karte wieder ein und suchte weiter, bis er Papiertaschentücher aus einer Packung zog, sorgfältig auf dem Tisch entfaltete und etwas darin zu suchen schien.
„Sie hatten einen Salat und ein Pils. Das macht elf Euro und zwanzig Cent. Lenken Sie doch nicht ab mit solchen Spielereien!“
Der Mann erschrak.
„Wo haben Sie denn Ihr Geld? In den Taschentüchern ist es doch nicht“, fragte das Mädchen.
Er suchte noch einmal reihum in seinen Taschen, setzte immer wieder zu reden an, brachte aber nichts heraus.
Er verbarg seine Augen mit der Hand.
Wir sahen auf unseren Tisch. Er weinte. Seine Tränen rannen zum Kinn.
Die Bedienung schien zu begreifen, dass ihr Gast keine bösen Absichten hatte und sah hilfesuchend zu uns herüber.
Das junge Paar hörten wir tuscheln. „Warum geht der in ein Cafe. Der sollte doch daheim bleiben mit dieser Behinderung. Selbst schuld!“
„Das können wir doch bezahlen“, schlug Wilma vor. Wir waren gleich damit einverstanden. Aber wäre es ihm am Ende nicht peinlich, von Fremden ausgehalten zu werden?
Ich nickte Clara zu, und sie verstand. Sie meistert mit ihrem herzensguten Wesen jedes Problem. Sie stand auf, ging zu ihm hinüber und redete beruhigend, aber bestimmt.
„Sie sind doch ein ehrlicher Mann. Wo haben Sie denn Ihre Geldbörse? Überlegen Sie mal! Sie sind doch bestimmt nicht ohne Geld fortgegangen. Stehen Sie doch bitte mal auf!“
Der Mann stand auf, streckte die Arme hilflos aus, wollte wieder etwas sagen.
Clara fasste sich ein Herz, tastete nach seinen Gesäßtaschen und zog im Nu seine Geldbörse hervor.
„Sehen Sie!“ Sie lachte, womit die Spannung etwas wich. „Sie sind doch kein Zechpreller!“ Wo nun der erste Schritt getan war, öffnete sie auch den Geldbeutel und fand 50-Euro-Scheine. Der Mann nickte und strahlte.
Einen Schein gab sie dem Mädchen, das aus ihrer Geldtasche das Wechselgeld holte und zurück gab. Clara verstaute es in seiner Geldbörse und belehrte ihn, diesmal laut und deutlich: „Geld steckt man nicht in die Gesäßtasche, da kann es leicht gestohlen werden. Tun Sie es bitte vorn in eine Tasche!“ Der Mann wischte sich die Tränen vom Kinn und tat, wie ihm geheißen, immer noch stumm.
Nun mussten wir lächeln, denn er breitete das soeben benutzte Papiertaschentuch auf dem Tisch aus, faltete es sorgfältig zusammen, faltete auch das zweite Papier und steckte beide in seine Brusttasche. Auch er lächelte und nickte Clara zu, öffnete den Mund und wollte etwas sagen.
Er ging langsam zum Ausgang und ließ Clara und das Mädchen an seinem Tisch stehen.
An der Tür drehte er sich um, gab sich wieder und wieder einen Ruck, bis er herausbrachte: „Sayonara!“
 



 
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