Elsa

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eli-fant

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Die alte Frau mustert das Gesicht der jungen. Ihre gerunzelte Stirn verrät die Anstrengung, die sie das kostet. Und dann, auf einmal, verklären sich ihre Züge wie bei einem plötzlichen Erkennen und sie beginnt zu strahlen.
"Elsa!" flüstert sie ungläubig. "Elsa, daß du wieder da bist...! Mein Gott, Elsa!"
Die Miene der Angesprochenen verrät Unbehagen. Hilfesuchend heftet sie ihren Blick auf die andere junge Frau, die mit ihr das Zimmer der Alten betreten hat. Die lacht leise auf.
"Sie verwechselt dich mit irgendjemandem. Vielleicht siehst du einer ehemaligen Schulkameradin ähnlich."
Die Hände der alten Frau umklammern die Armlehnen des Rollstuhls, ihr Bein wippt in stetem Rhythmus auf und ab.
"Elsa, wo warst du die ganze Zeit? Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht! Solche Sorgen!"
"Ich heiße Sabine", sagt das junge Mädchen laut. "Sa-bi-ne. Ich komme von der Altenpflegeschule und mache hier ein Praktikum."
Die Alte murmelt etwas Unverständliches, man sieht ihr nicht an, ob die Worte zu ihr durchgedrungen sind.
"Nett von dir, daß du dich vorstellst, aber das checkt sie nicht mehr", meint Schwester Hannelore. "Die ist schon ordendlich daneben. Aber sie ist eine ganz Gutmütige - gell, Frau Schrader?"
Sie streicht der alten Frau über den Kopf. "Wirklich pflegeleicht - macht uns keine Schwierigkeiten. So, ich schau mal, was nebenan auf 17 noch zu tun ist und du kannst nach vorne gehen und Marianne beim Essenverteilen helfen."

Brei, immer gibt es Brei.
Frau Schrader rührt mit zittriger Hand in ihrem Teller herum.
Gelber Brei und grüner Brei.
In ihrem Kopf bilden sich bruchstückhafte Gedanken - Gedanken, die nicht zusammenpassen und sie verunsichern.
Die Ansichtskarte - was ist mit der Ansichtskarte gewesen? Woher ist sie gekommen?
Die alte Frau wiegt den Oberkörper hin und her. Dann taucht sie den Löffel, an dem noch Kartoffelpürree klebt, in das Schüsselchen mit dem rosa Nachtisch. Sie führt den Löffel zum Mund und verzieht das Gesicht.
Süß und salzig. Paßt nicht zusammen. Ist nicht gut.
Sie seufzt.
Nein, nichts ist gut.
Wo ist nur Elsa? Elsa müßte kommen. Elsa hat immer eingegriffen, wenn etwas nicht in Ordnung war.

"Grete, du bist einfach zu naiv, zu gutmütig", hatte Elsa immer zu ihr gesagt. "Du mußt dich durchsetzen, du mußt dich wehren. Laß dir doch nicht immer alles gefallen! Wie wir als Schwestern nur so verschieden sein können!"
Elsa hatte sich von nichts und niemandem einschüchtern lassen und war für Grete stets so etwas wie ein Schutzschild gewesen.
Sie war es, die wütend zum Lehrer gelaufen war, als Grete ungerecht bestraft wurde und sie hatte sich bei den Mitschülerinnen gerächt, die die Schwester hänselten. Auf Elsa hatte sie sich immer verlassen können. Bis sie auf einmal fort gewesen war.

Frau Schrader hält abrupt in ihrer wiegenden Bewegung inne.
München. Die Ansichtskarte ist aus München gekommen.
"Ich gehe mit Sam nach Amerika, macht euch keine Sorgen. Lebt wohl - Elsa"
Sorgen - all die Jahre solche Sorgen. Und Enttäuschung und Trauer.Wie hat Elsa ihr gefehlt - so oft hätte sie sie gebraucht!
Sie wendet ihren Blick von dem Teller ab, in dem jetzt Kartoffel-, Zucchinibrei und Quarkspeise zu einer Masse von undefinierbarer Farbe gemischt sind und schaut aus dem Fenster.
Die Sonne ist so blaß. Früher hat sie anders ausgesehen. Gelber. Die Äste des großen Baumes sind mit Schnee bedeckt. Vage Erinnerungsfetzen drängen sich in ihr Bewußtsein: Lange Winterspaziergänge, eisige, klare Luft... Frau Schrader hat die kalte Jahreszeit stets geliebt. Auf einmal steigt Panik in ihr hoch. Hier drinnen ist es so warm, so stickig. Sie will hinaus in die Kälte, tief durchatmen, fortgehen.
"Ich will raus!" sagt sie laut, als der Zivi das Essenstablett abholt. "Raus, raus!"
"Na, na, Frau Schrader - immer mit der Ruhe", entgegnet der junge Mann gelassen. "Hab gerade 'ne Menge zu tun. Nachher schieb ich Sie auf den Gang raus, o.k.?"

Frau Schrader verbringt den halben Nachmittag auf dem Gang der Pflegestation. Alte Menschen schlurfen langsam an ihr vorbei, junge, meist weiß gekleidete, hasten vorüber. Kaum jemand schenkt ihr Beachtung. Irgendwann nickt sie ein. Als es dämmrig wird, öffnet sie die Augen. Verwirrt blickt sie um sich. Sie hat keine Ahnung, wo sie ist. Nur das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das schon so lange ihr Begleiter ist, ist ist ihr vertraut.
"Der Essenswagen kommt!" ruft jemand. "Hilfst du beim Verteilen, Sabine? Ach so, du hast schon Feierabend."
Sabine eilt den Gang entlang. Sie ist heilfroh, ihren ersten Praktikumstag hinter sich gebracht zu haben.
Sie nickt Frau Schrader kurz zu, öffnet die große Glastür und läuft, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter.
Die alte Frau sitzt auf einmal kerzengerade in ihrem Rollstuhl.
Das ist doch, das war doch...
Wie aus einem Nebel taucht die Erinnerung auf.
Elsa! Natürlich - Elsa ist ja wieder da! Wie hat sie das nur vergessen können!
Sie seufzt befreit auf. Alles wird wieder gut.
Elsa wird sie hier herausholen.
Als ein Pfleger sie ins Zimmer zurückschiebt, lächelt sie.
 

eli-fant

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Vielleicht bist du schon recht nah dran, wenn du die Geschichte "nicht ganz verstehst"... :)
Ich hab versucht, die Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit deutlich zu machen, in der verwirrte Menschen oft leben. Sie scheinen sich in einer ganz anderen Welt zu befinden; ihr Gehirn gaukelt ihnen Dinge vor, die man von außen nicht nachvollziehen kann und man hat oft keine Ahnung, was in ihnen vorgeht und warum sie dies oder jenes sagen oder tun.
(Und im pflegerischen Alltag bleibt auch keine Zeit, auf den einzelnen einzugehen, um das "Verstehen" wenigstens zu versuchen.)

Liebe Grüße,
 

eli-fant

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Hallo Michael,

na ja, wahrscheinlich siehst du das ganz richtig :)
War eben nur ein Versuch...
Werde nochmal drüber nachdenken -

liebe Adventsgrüße,
 

Buffy

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Hi

Schließe mich Michaels Aussage an. Ich würde die Greisin in die Mitte stellen und mehr auf ihre Gedankenwelt eingehen.
Gefühlsmäßig.
Gruß Buffy
 



 
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