Märchentante
Mitglied
Elsas letzte Weihnachtsfeier
Es war Elsas dritte Weihnachtsfeier in Folge im Seniorenheim. Als sie sich auf Drängen der Kinder entschloss, ihr Haus aufzugeben und hier her zu ziehen, hoffte die alte Dame, dass sie sich im Laufe der Zeit einleben würde. Jedoch das Gegenteil war der Fall. Kein Tag verging, an dem sie nicht vor Heimweh fast umkam. Sie konnte und wollte sich nicht daran gewöhnen, morgens um sechs von der Schwester laut aus den Träumen gerissen zu werden. Sie wehrte sich auch dagegen, noch schlaftrunken von der überforderten Pflegerin ans Waschbecken gezerrt und im Schnelldurchgang abgewaschen zu werden. Anschließend wurde vom Personal im Laufschritt das knappe Frühstück ins Zimmer gebracht, und nach zehn Minuten ging es schon wieder ans Abräumen. Ob ihre etwas demente Zimmernachbarin in dieser kurzen Zeit ihre Mahlzeit verspeisen konnte oder nicht, die Tabletts wurden wieder im Galopp abgeholt und in einen großen Essenswagen geschoben, der auf dem Flur stand. Hier wurde alles im Eiltempo erledigt. Ein eintöniger Tag nahm seinen Lauf und endete, wie er begonnen hatte. Dazwischen lag ein gähnendes Nichts.
Frühstück, Mittagessen, Kaffeetrinken, Abendbrot, das war´s. Es gab in dem Heim kaum eine Bewohnerin, mit der sie sich hätte normal unterhalten können und das Personal war ständig im Stress. Wenn Elsa nicht gelegentlich Besuch von ihren Kindern und Enkeln bekommen hätte, wäre sie wohl verrückt geworden. Sie seufzte. Am Anfang kamen ihre Angehörigen noch regelmäßig, doch die Besuche ließen nach einiger Zeit immer mehr nach. Zu Weihnachten holten Sohn und Tochter sie abwechselnd zu sich nach Hause, damit sie im Kreise der Familie die Feiertage verbringen konnte. Darauf freute sich die alte Dame schon Wochen vorher, es war einer der wenigen Lichtblicke in ihrem jetzt so trostlosen Leben. Seit drei Jahren verbrachten die Familien mit ihren Kindern nun die Weihnachtstage im warmen Süden. Elsa schüttelte den Kopf. Weihnachten in der Wärme, ohne Tannenbaum, Christstollen und Weihnachtsliedern, unvorstellbar! Und sie blieb einsam und allein hier zurück. „Im Leben meiner Familie spiele ich keine Rolle mehr“, dachte die alte Frau traurig.
Sie schaute sich um. Dort, in einer Ecke des Saales, stand ein großer, geschmückter Tannenbaum. „Unser Baum daheim war zwar nicht ganz so groß, doch er war viel schöner anzusehen.“, dachte Elsa wehmütig. Ihr Blick glitt hinüber zu dem Akkordeonspieler, der sich redlich mühte, mit den beiden Flötespielenden Schulkindern mitzuhalten. Heimleitung, Stationsleitung und Pflegekräfte saßen am Nebentisch, ihre Schützlinge stets im Visier. Sie sangen gemeinsam mit den Senioren ein paar der schönen alten Weihnachtslieder. Die Tische waren festlich gedeckt und auf Weihnachtstellern lagen Kuchen und Gebäck. Als das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ angestimmt wurde, stieg es heiß in Elsa auf. Energisch stand sie, zum Erstaunen aller Anwesenden, auf, stützte sich schwer auf ihren Stock, den sie seit ihrer Hüftoperation brauchte, und verließ die Feier. Langsam ging sie durch den stillen Flur.
In dem kleinen Zimmer angekommen, holte die alte Dame aus dem Nachtschrank einen mit einer Schleife zugebundenen Karton hervor. Leise stöhnend setzte sie sich damit in ihren alten Ohrensessel. Er war das Einzige, was ihr von all ihren schönen Möbeln blieb, als sie hier einzog. Ihr Hüftgelenk schmerzte, als sie sich setzte, und da war auch wieder dieser Schwindel, der sie schon den ganzen Tag über begleitete. Mit dem Behältnis auf dem Schoß sah sich die Greisin in dem Zimmer um. Das war also alles, was von ihrem langen Leben übrig geblieben war. Mit zittrigen Fingern zog Elsa die Schleife auf und betrachtete gedankenverloren die alten Erinnerungsstücke, von denen sie sich niemals getrennt hätte. Ein Päckchen sorgsam verschnürte Briefe ihres viel zu früh verstorbenen, geliebten Mannes Werner, ein kleines, goldenes Ringlein, der erste Schmuck, den er ihr schenkte, zwei in Seidenpapier eingewickelte blonde Haarlocken ihrer beiden Kinder, Fotos der Enkelkinder und längst vergilbte Bilder aus glücklichen Zeiten. Von den Erinnerungen übermannt, schlug Elsa die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. Sie trocknete ihre Tränen, legte ihre Schätze sorgfältig wieder zurück und stellte den Karton beiseite, um nach der Bibel zu greifen, die auf dem kleinen Tisch lag. Vor der Nachtruhe wollte sie dort noch die Geschichte der Heiligen Familie lesen. Mittlerweile war es aber zu dunkel geworden und so ließ Elsa das Buch zugeschlagen auf ihrem Schoß liegen. Sie schaltete kein Licht an, sondern schaute müde aus dem Fenster zum Park hinüber. Schneefall hatte eingesetzt und verwandelte ihn in eine Märchenlandschaft. Versunken dachte die Greisin über ihr Leben nach, über all die Höhen und Tiefen, die es für sie bereitgehalten hatte, über glückliche und traurige Momente.
Plötzlich wurde der einsamen betagten Frau sonderbar warm ums Herz. Ein überirdisches Licht näherte sich ihr vom Park her, begleitet von den Sternen, die vom Himmel herab gestiegen waren. Elsas Herz klopfte laut vor Glück. Das Licht wurde strahlend hell und erfüllte nun ihr ganzes Zimmer. Staunend blickte sie um sich. „Fürchte dich nicht“, sagte eine sanfte Stimme. Als sie aufsah, bemerkte sie zwei große weiße Engel, die rechts und links neben ihrem Sessel standen. „In dieser Heiligen Nacht wird deine Seele den himmlischen Frieden finden, den Christus als kleines Kind einst in die Welt gebracht hat. Alle Mühsal wirst du hinter dir lassen. Wir sind gekommen, um dich zu begleiten, Elsa. Schau, es wartet noch jemand auf dich.“ Eine Gestalt löste sich aus der unwirklichen Helligkeit und kam langsam auf sie zu. „Werner“, rief die alte Dame laut und erhob sich aus dem Sessel. Sie verspürte keinerlei Schmerzen mehr und fühlte sich federleicht. „Ja, mein Herz“, antwortete der geliebte Mann und reichte ihr seine Hand, „komm zu mir, so lang habe ich schon auf dich gewartet, jetzt wird alles gut.“ Begleitet von den Engeln, flogen beide Seelen dem Himmel zu.
Als die Pflegerin nach der Weihnachtsfeier das stille Zimmer betrat, saß Elsa mit friedlichem Gesicht und einem Lächeln auf den Lippen in ihrem alten Ohrensessel, ihre gefalteten Hände ruhten auf der Bibel.
Märchentante
Es war Elsas dritte Weihnachtsfeier in Folge im Seniorenheim. Als sie sich auf Drängen der Kinder entschloss, ihr Haus aufzugeben und hier her zu ziehen, hoffte die alte Dame, dass sie sich im Laufe der Zeit einleben würde. Jedoch das Gegenteil war der Fall. Kein Tag verging, an dem sie nicht vor Heimweh fast umkam. Sie konnte und wollte sich nicht daran gewöhnen, morgens um sechs von der Schwester laut aus den Träumen gerissen zu werden. Sie wehrte sich auch dagegen, noch schlaftrunken von der überforderten Pflegerin ans Waschbecken gezerrt und im Schnelldurchgang abgewaschen zu werden. Anschließend wurde vom Personal im Laufschritt das knappe Frühstück ins Zimmer gebracht, und nach zehn Minuten ging es schon wieder ans Abräumen. Ob ihre etwas demente Zimmernachbarin in dieser kurzen Zeit ihre Mahlzeit verspeisen konnte oder nicht, die Tabletts wurden wieder im Galopp abgeholt und in einen großen Essenswagen geschoben, der auf dem Flur stand. Hier wurde alles im Eiltempo erledigt. Ein eintöniger Tag nahm seinen Lauf und endete, wie er begonnen hatte. Dazwischen lag ein gähnendes Nichts.
Frühstück, Mittagessen, Kaffeetrinken, Abendbrot, das war´s. Es gab in dem Heim kaum eine Bewohnerin, mit der sie sich hätte normal unterhalten können und das Personal war ständig im Stress. Wenn Elsa nicht gelegentlich Besuch von ihren Kindern und Enkeln bekommen hätte, wäre sie wohl verrückt geworden. Sie seufzte. Am Anfang kamen ihre Angehörigen noch regelmäßig, doch die Besuche ließen nach einiger Zeit immer mehr nach. Zu Weihnachten holten Sohn und Tochter sie abwechselnd zu sich nach Hause, damit sie im Kreise der Familie die Feiertage verbringen konnte. Darauf freute sich die alte Dame schon Wochen vorher, es war einer der wenigen Lichtblicke in ihrem jetzt so trostlosen Leben. Seit drei Jahren verbrachten die Familien mit ihren Kindern nun die Weihnachtstage im warmen Süden. Elsa schüttelte den Kopf. Weihnachten in der Wärme, ohne Tannenbaum, Christstollen und Weihnachtsliedern, unvorstellbar! Und sie blieb einsam und allein hier zurück. „Im Leben meiner Familie spiele ich keine Rolle mehr“, dachte die alte Frau traurig.
Sie schaute sich um. Dort, in einer Ecke des Saales, stand ein großer, geschmückter Tannenbaum. „Unser Baum daheim war zwar nicht ganz so groß, doch er war viel schöner anzusehen.“, dachte Elsa wehmütig. Ihr Blick glitt hinüber zu dem Akkordeonspieler, der sich redlich mühte, mit den beiden Flötespielenden Schulkindern mitzuhalten. Heimleitung, Stationsleitung und Pflegekräfte saßen am Nebentisch, ihre Schützlinge stets im Visier. Sie sangen gemeinsam mit den Senioren ein paar der schönen alten Weihnachtslieder. Die Tische waren festlich gedeckt und auf Weihnachtstellern lagen Kuchen und Gebäck. Als das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“ angestimmt wurde, stieg es heiß in Elsa auf. Energisch stand sie, zum Erstaunen aller Anwesenden, auf, stützte sich schwer auf ihren Stock, den sie seit ihrer Hüftoperation brauchte, und verließ die Feier. Langsam ging sie durch den stillen Flur.
In dem kleinen Zimmer angekommen, holte die alte Dame aus dem Nachtschrank einen mit einer Schleife zugebundenen Karton hervor. Leise stöhnend setzte sie sich damit in ihren alten Ohrensessel. Er war das Einzige, was ihr von all ihren schönen Möbeln blieb, als sie hier einzog. Ihr Hüftgelenk schmerzte, als sie sich setzte, und da war auch wieder dieser Schwindel, der sie schon den ganzen Tag über begleitete. Mit dem Behältnis auf dem Schoß sah sich die Greisin in dem Zimmer um. Das war also alles, was von ihrem langen Leben übrig geblieben war. Mit zittrigen Fingern zog Elsa die Schleife auf und betrachtete gedankenverloren die alten Erinnerungsstücke, von denen sie sich niemals getrennt hätte. Ein Päckchen sorgsam verschnürte Briefe ihres viel zu früh verstorbenen, geliebten Mannes Werner, ein kleines, goldenes Ringlein, der erste Schmuck, den er ihr schenkte, zwei in Seidenpapier eingewickelte blonde Haarlocken ihrer beiden Kinder, Fotos der Enkelkinder und längst vergilbte Bilder aus glücklichen Zeiten. Von den Erinnerungen übermannt, schlug Elsa die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. Sie trocknete ihre Tränen, legte ihre Schätze sorgfältig wieder zurück und stellte den Karton beiseite, um nach der Bibel zu greifen, die auf dem kleinen Tisch lag. Vor der Nachtruhe wollte sie dort noch die Geschichte der Heiligen Familie lesen. Mittlerweile war es aber zu dunkel geworden und so ließ Elsa das Buch zugeschlagen auf ihrem Schoß liegen. Sie schaltete kein Licht an, sondern schaute müde aus dem Fenster zum Park hinüber. Schneefall hatte eingesetzt und verwandelte ihn in eine Märchenlandschaft. Versunken dachte die Greisin über ihr Leben nach, über all die Höhen und Tiefen, die es für sie bereitgehalten hatte, über glückliche und traurige Momente.
Plötzlich wurde der einsamen betagten Frau sonderbar warm ums Herz. Ein überirdisches Licht näherte sich ihr vom Park her, begleitet von den Sternen, die vom Himmel herab gestiegen waren. Elsas Herz klopfte laut vor Glück. Das Licht wurde strahlend hell und erfüllte nun ihr ganzes Zimmer. Staunend blickte sie um sich. „Fürchte dich nicht“, sagte eine sanfte Stimme. Als sie aufsah, bemerkte sie zwei große weiße Engel, die rechts und links neben ihrem Sessel standen. „In dieser Heiligen Nacht wird deine Seele den himmlischen Frieden finden, den Christus als kleines Kind einst in die Welt gebracht hat. Alle Mühsal wirst du hinter dir lassen. Wir sind gekommen, um dich zu begleiten, Elsa. Schau, es wartet noch jemand auf dich.“ Eine Gestalt löste sich aus der unwirklichen Helligkeit und kam langsam auf sie zu. „Werner“, rief die alte Dame laut und erhob sich aus dem Sessel. Sie verspürte keinerlei Schmerzen mehr und fühlte sich federleicht. „Ja, mein Herz“, antwortete der geliebte Mann und reichte ihr seine Hand, „komm zu mir, so lang habe ich schon auf dich gewartet, jetzt wird alles gut.“ Begleitet von den Engeln, flogen beide Seelen dem Himmel zu.
Als die Pflegerin nach der Weihnachtsfeier das stille Zimmer betrat, saß Elsa mit friedlichem Gesicht und einem Lächeln auf den Lippen in ihrem alten Ohrensessel, ihre gefalteten Hände ruhten auf der Bibel.
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