Emilie und Jonathan

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Kaso

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Emilie und Jonathan
Emilie Fischer besaß die Launen des Oktoberwetters. Ich meine nicht den "goldenen Oktober" mit der bunt gefärbten Landschaft und den frischen Winden. Nein. Eher jene stürmische Zeit, wenn die Bäume sich im Unwetter biegen. Dem Erdreich entrissen, entwurzelt daliegen. Oder nackte Stämme, die in den Himmel ragen, Ihrer Kronen beraubt.
Ein solcher Emilie-Sturm raste im zarten Alter von sechs Jahren, über mich, Jonathan, hinweg. Damals zur Einschulung wählten wir beide den gleichen Stuhl im Klassenzimmer, nur das ich schon drauf saß und Emilie eben diesen Platz für sich beanspruchte.
"Das ist meiner!" Verkündete sie selbstsicher.
Noch ehe ich ihre Gesichtszüge deuten konnte, sauste ihre Faust mitten in mein Gesicht.
Ich fiel mit einer gebrochenen Nase vom Stuhl.
Vor meinem inneren Auge zog das Bild eines Mädchens, in einem Ruderboot auf unserem See, vorbei. Entspannt tauchte sie das Paddel in die reglose Wasseroberfläche ein. Hinter ihr im Boot lag die Rettungsweste. Nie würde sie die anlegen, flackerte ein Gedanke auf.
Ich blinzelte den Tränenschleier fort. Da saß sie bereits auf dem Stuhl und musterte mich interessiert. Dann wendete sie den Blick nach vorn, ihre Hand schnellte in die Höhe und sie rief: "Frau Lehrerin, hier ist jemand verletzt!"
Dieser Augenblick brannte sich in mein Gedächtnis, wie sie so dasaß, das Kinn leicht vorgeschoben. Ihr fusseliges Haar, dass an geschmortes Sauerkraut erinnerte. Kein Deut von Boshaftigkeit, oder gar Bedauern, spiegelte sich in ihren Gesichtszügen wider. Der Ausdruck, ähnelte eher dem meiner Mutter, wenn sie entschlossen daranging, das Schlachtfeld Küche zu beseitigen. Nach dem Motto: Was getan werden muss, muss getan werden.
Zwei Tage darauf begegneten wir uns zum zweiten Mal. Sie saß auf einer Bank am See, gedankenverloren bohrte sie in der Nase und steckte anschließend den Finger in den Mund.
"Was glotzte so dämlich!" Blaffte sie, sprang auf und verschwand.
Ich setzte mich auf die Bank und befühlte meine geschwollene Nase. Wie aus dem Boden gewachsen stand sie plötzlich vor mir. "Das ist mein Platz!" Sagte sie.
Diesmal war ich vorbereitet. Meine Hand schoss vor und hielt ihren Kopf auf Armeslänge zurück. Keine Sekunde zu früh, ihre Faust ruderte ins Leere. Während sie nun versuchte, mit beiden Fäusten nach mir zu schlagen, prasselte ein Sturm wüster Beschimpfungen auf mich nieder, der mir die Schamesröte ins Gesicht trieb. "Emilie", stammelte ich, "beruhige dich doch."
Ich dachte an unseren Hund, wenn er mich überschwänglich begrüßte, redete ich in dieser Stimmlage mit ihm. Und tatsächlich, sie beruhigte sich.
"Du hast mir deine Popelfinger in die Haare geschmiert", schimpfte sie.
"Und du hast deine gegessen!"
Von da an waren wir die dicksten Freunde. Sie kleidete meine Welt in schillernden Farben, einem Regenbogen gleich, auf dem ich mit ihr wandelte. Für sie gab es kein Netz und keinen doppelten Boden, der sie auffing. Wild und unbändig, als gäbe es kein Morgen, lebte sie.
Emelie war erst kürzlich mit ihrer Mutter, aus der Großstadt hier her, zur Oma gezogen. Sie bewohnten ein Haus direkt am See. In dem wir den Sommer herrlich planschend verbrachten. Mit einem Paddelboot fuhren wir zum Angeln hinaus, doch sahen wir nur die Rückenflossen der aufgescheuchten Karpfen.
Meine Eltern, der Anthroposophie zutiefst zugetan, hielten nichts von der Freundschaft zu Emelie. Ich hingegen wollte keinen unserer Tage missen. Der Spagat zwischen diesen beiden Welten belebte mich, schenkte mir das Gefühl von Ganzheit.
Genau drei Jahre blieb der Zauber erhalten. Bis zu dem Zeitpunkt, als mein Vater die Versetzung nach Hamburg bekam. Das Leben riss uns auseinander. Die bunten Farben die sie mir gezeigt hatte, verblassten. Der Regenbogen auf dem wir einst wanderten zerbrach. Zum ersten Mal erlebte ich den freien Fall: Kein Netz, kein doppelter Boden.
Emilie war so verletzt, dass sie nicht mehr mit mir redete.
Von Anderen erfuhr ich, dass die Oktoberstürme im ersten Jahr sehr heftig ausfielen. Doch auch diese Kontakte schliefen mit der Zeit ein.
Ein Teil von mir, war in dem kleinen Dorf, in dem Haus am See, in Emelie, zurückgeblieben.

Zur Freude meiner Eltern entwickelte ich mich auf der Waldorfschule gut, studierte anschließend Sozialpädagogik und trainierte zwei mal die Woche im Ruderverein. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, montags und mittwochs morgens vor der Uni ein paar Kilometer zu Rudern. Gerade ließ ich mein Kanu ins Wasser gleiten, da höre ich hinten am Bootssteg eine Stimme brüllen, "ihr verdammten Hohlköpfe, wenn ich sage, Ruder rein, dann meine ich das auch!..."
Die Stimme kenne ich doch, ich holte das Boot wieder aus dem Wasser. Drehte mich um und sah am Ende des Steges eine Frau, mit in den Hüften gestemmten Händen stehen. Ihr fusseliges rotes Haar erinnerte mich irgendwie an Rotkohl, nein Sauerkraut. Sie brüllte einen Trupp Kanufahrer zusammen. "Ich reiß euch den A..."
"Hallo!" Unterbrach ich ihre feurige Rede.
Wie der Blitz fuhr sie herum. Automatisch schoß mein Arm vor und meine Nase juckte. Einen Moment starrten wir uns an. "Jonatan?!"
"Emilie!"
Ich lernte den "goldenen Oktober" kennen und mit ihm seine Stürme, ich war wieder ganz.
 



 
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