Empathie

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Bertram

Mitglied
In meinem Magen ist ein Loch und weit vorn der Brezelstand, der meine Fantasie mit braunen Salzkringeln behängt, sodass ich an nichts anderes mehr denken kann. Bis sich dieser Typ ins Blickfeld drängt, der da am Brückengeländer klebt, als wäre es der letzte Halt seines Lebens.

Die zerrissene Tasche seiner Jacke hängt schlaff herab. Er ist durch alle Maschen gefallen. Ich will vorbei, was geht es mich an? Die Brezel ruft! Aber mein Körper vollführt eine Neunzig-Grad-Drehung, als wäre er ferngesteuert und das massive Metallgeländer zieht mich an wie ein Magnet, sodass ich keinen halben Meter neben diesem Ausgesiebten lande.

Ich will protestieren, aber bringe nur ein schmerzliches Zucken der Mundwinkel zustande, bevor mein Blick in die Tiefe fällt und mein hohler Magen sich auskleidet mit weisser Höhenangst. Meine Lunge ist plötzlich eingesperrt zwischen zwei Brettern mit höchstens drei Zentimetern Abstand. Trotzdem versuche ich zu atmen. Atmen.

Wie kann jemand überhaupt erwägen, da hinunter zu springen? Allein der Gedanke ist schon eine Folter, auch wenn die Sehnsucht nach dem Verlöschen mir vertraut ist. Ich versuche es mit seinen Augen zu sehen.

Das Sonnenlicht spiegelt sich auf der Oberfläche des Wassers. Will er in diesen Spiegel springen, ihn zerbrechen, das Licht verscheuchen und eintauchen in eine Dunkelheit, die das Leuchten seines Lebens aufsaugen, das letzte Aufflackern schmerzlicher Erinnerungen in einem Sud aus totaler Finsternis ersticken würde?

Wenn dem so ist. Wenn alles nur noch Schmerz ist, was habe ich für ein Recht, ihm die Erlösung zu verweigern? Ich weiss ja nicht einmal, weshalb ich hier stehe, geschweige denn, was zu tun ist. Was sage ich zu jemandem, der springen will? Der vielleicht so wild entschlossen ist, dass er mich mit in die Tiefe reisst, wenn ich ihn daran hindern will?

Ich kann die positiven Aspekte des Lebens aufzählen. Verständnis, Freundschaft, Zuneigung, Geborgenheit, Genuss, Spass, Spannung. Aber wenn ich ihn so betrachte, komme ich mir vor, als suchte ich auf einer Müllhalde nach Designer-Möbeln.

Der Mann bewegt sich und mein Herz macht einen Satz. Atmen. Atmen. Schweiss.

„Ähm, ein schöner Tag heute“, versuche ich ihn mit unsicherer Stimme von seiner Absicht abzulenken.

Seine müden Augen, die von einem langen Leben künden, richten sich auf mich. Ja, ja, siehe, da ist ein menschliches Wesen, das nimmt Notiz von dir, nimmt Anteil an deinem Schicksal!

Starr schaue ich nach vorn, um mein leeres Gehirn mit einem Satz zu füllen, der sie fortsetzt, die Illusion von Anteilnahme. Denn ich kann ja nicht wirklich mit diesem mir völlig Fremden, diesem ...

„Die Aussicht ist beeindruckend. Eine herrliche Stadt!“, plappert mein Mund. „Wie ist es so, hier zu wohnen?“

Nicht, dass ich mit einer Antwort gerechnet hätte. Wer mit dem Leben abgeschlossen hat, ist wohl nur zögerlich bereit, sich wieder darauf einzulassen. Trotzdem empfinde ich die Unbewegtheit, mit der er wieder auf das Wasser starrt und mich ignoriert, als verletzend.

Das Wasser, so weit unten, dass mir schwindlig wird und meine Finger sich ans sonnenwarme Metall klammern, sodass es aussehen muss, als ob ich selber bald springen würde.

Plötzlich ist da wie ein Felsen in meinem schwimmenden Blick seine Hand, deren Finger aussehen wie aneinander gereihte Würstchen, und eine Stimme knarzt, als wäre sie von einer eingerosteten Mechanik erzeugt: „Vous avez un franc?“

Er schaut mich an. Ja, ich habe einen Franken. Wenn sein Leben von einem Franken abhängt. Ich gebe ihm zehn.

Sein zerklüftetes Gesicht verformt sich zu einem Lächeln, wie mir scheint. Dann dreht er sich um und entfernt sich mit einem bedächtigen, wiegenden Gang, als gehörte ihm alle Zeit dieser Welt, während ich, eingebunden in die Hektik des Alltags, dastehe, innerlich zitternd wegen eines Abenteuers, das wohl nur in meinem Kopf stattgefunden hat.

Unwillkürlich folgt ihm mein Blick bis zum Brezelstand, wo er sich mit meinem Geld meine Brezel kauft. So simpel. Ein Lächeln bricht sich Bahn und wird unaufhaltsam breiter. So simpel. Gleichzeitig lässt mich ein Hauch von Ehrfurcht erschauern, denn ich bin eben dem genialsten Bettler meines Lebens begegnet.
 

Val Sidal

Mitglied
Bertram,

Die Idee ist gut, der Aufbau der Geschichte gelungen, die Sprache zeigt gute Einfälle. Wir sehen und erkennen den Hungrigen von der Sonnenseite und den „Ausgesiebten“ wieder.

Es ist bedauerlich, dass die Entstehung des Kopfkinos sonderbar mechanisch und kaum nachvollziehbar gezeigt wird:
Die Brezel ruft! Aber mein Körper vollführt eine Neunzig-Grad-Drehung, als wäre er ferngesteuert und das massive Metallgeländer zieht mich an wie ein Magnet, sodass ich keinen halben Meter neben diesem Ausgesiebten lande.
Der Protagonist leidet unter Höhenangst – lesen wir. Grelles Licht und bunte Adjektive verhindern es, davon auch nur einen Hauch zu spüren:
Ich will protestieren, aber bringe nur ein schmerzliches Zucken der Mundwinkel zustande, bevor mein Blick in die Tiefe fällt und mein hohler Magen sich auskleidet mit weisser Höhenangst. Meine Lunge ist plötzlich eingesperrt zwischen zwei Brettern mit höchstens drei Zentimetern Abstand. Trotzdem versuche ich zu atmen. Atmen.
Die Belichtung und das Kolorit (übertriebene, abundante Attributierungen) lenken den Leser auf den Text und verhindern das Abtauchen in das sich anbahnende (vermeintliche, doch für den Protagonisten zunächst reale) Drama. Ein Beispiel:
Will er in diesen Spiegel springen, ihn zerbrechen, das Licht verscheuchen und eintauchen in eine Dunkelheit, die das Leuchten seines Lebens aufsaugen, das letzte Aufflackern schmerzlicher Erinnerungen in einem Sud aus totaler Finsternis ersticken würde?
Die häufigen Selbstbetrachtungen des Ich-Erzählers reißen den Leser immer wieder aus dem Geschehen heraus; wenn sie unlogisch sind, dann ärgern sie regelrecht:
Starr schaue ich nach vorn, um mein leeres Gehirn mit einem Satz zu füllen, der sie fortsetzt, die [red]Illusion von Anteilnahme[/red].
Die drohende Katastrophe ist Illusion – die Anteilnahme ist real.
Wer mit dem Leben abgeschlossen hat, ist wohl [strike][red]nur zögerlich[/red][/strike] [blue]kaum[/blue] bereit, sich wieder darauf einzulassen.
Der Schluss kann verlustfrei (mit Gewinn) gekürzt werden:
Unwillkürlich folgt ihm mein Blick bis zum Brezelstand, wo er sich mit meinem Geld meine Brezel kauft. [strike]So simpel. Ein Lächeln bricht sich Bahn und wird unaufhaltsam breiter. So simpel. Gleichzeitig lässt mich ein Hauch von Ehrfurcht erschauern, denn ich bin eben dem genialsten Bettler meines Lebens begegnet.[/strike]
Wenn meine Anmerkungen nicht hilfreich sind, dann - Pardon.
 



 
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