Endlich am Ziel

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AWAS

Gast
Endlich am Ziel

Noch 1.2 Sekunden zu spielen. Die Auszeit ist zu Ende.
Seine Mannschaft nimmt die vom Trainer vorgeschriebenen Positionen ein.
Drei Blocks sollen ihm einen freien Wurf verschaffen.
Zwei Punkte zur Verlängerung, drei zum Sieg.
Es ist das siebte Spiel, bereits die zweite Verlängerung.
Bisher hat Jason das Spiel seines Lebens gemacht.
Jeden Wurf in der Verlängerung hat er getroffen.
Er hat seinem Team die Chance auf die Meisterschaft gewahrt.
Es ist seine letzte Möglichkeit, den Titel zu holen.
Und das im Madison Square Garden, vor heimischen Publikum.
Zweimal ist er schon im Finale unterlegen gewesen.
Sein Rücktritt nach 13 Jahren Profibasketball nach diesem Spiel steht schon fest.
Er wird in den Trainerstab nachrücken.
Als Ersatzspieler hatte er die Saison begonnen,
bevor er in den Playoffs zum Starter wurde.
Er hatte sich zum Führer der Mannschaft entwickelt.
Er hatte sie ins Finale getragen.
Ihm gaben seine Mitspieler den Ball, wenn es eng wurde.
Er betrat jetzt das Feld. Seine letzte Chance wollte er nutzen.
Der Schiedsrichter pfeift an und gibt Charlie den Ball.
Fünf Sekunden hat Jason jetzt noch, bis der Ball in seinen Händen sein muß.
Er läuft los. Am dritten Block bleibt sein Verteidiger hängen.
Ganz sicher fängt er den Pass von Charlie. Ab nun läuft die Zeit.
Zwei Schritte, ein Dribbel, dann springt Jason.
Am höchsten Punkt lässt er den Ball los.
Hinter der Dreier-Linie. Für den Sieg.
Er schaut dem rotierenden Spielgerät hinterher.
Dann hört er die Schlusssirene.
Es wird auf jeden Fall der letzte Wurf sein.
Die Arena hält den Atem an. Es ganz ruhig.
Er schließt seine Augen. Er kann nicht hinsehen.

Der Jubel der Zuschauer lässt ihn zum Würfel über dem Spielfeld blicken.
Tatsächlich. Mit einem Punkt gewonnen.
Er reißt seine Arme hoch und sinkt auf die Knie.
Als nächstes bemerkte seine Mitspieler, die auf ihn zustürmten.
Sie heben ihn hoch, werfen ihn immer wieder in die Luft. Mindestens fünf Minuten lang.
Dann kommen die Offiziellen und trennen die Jubelnden.
Jason muß jetzt Interviews geben. Für drei Fernsehsender und ebenso viele Radiostationen.
Dann die Siegerehrung. Der Besitzer des Teams übergibt ihm die Meistertrophäe.
Mit Tränen in den Augen küsst er den Pokal. Endlich am Ziel.
Sein Leben lang hat er auf diesen Augenblick gewartet,
die letzten 13 Jahre als Profi.
Er ist überglücklich.
„Ich hab’s geschafft, ich hab’s geschafft!“, ist das einzige, was er im Moment denken kann.
Dann verkündet der Hallensprecher, Jason Miller ist der wertvollste Spieler der Finalserie.
Er geht zum Podium und nimmt auch diese Ehrung entgegen.
Man reicht ihm das Mikrophon.
Er weiß nicht, was er sagen soll.
Mit tränenerstickter Stimme stammelt er: „Danke, Danke, Danke!“
Er dankt seinen Mitspielern, den Trainern, dem Manager und Besitzer.
Dann blickt er auf die Tribüne. Dort sitzen seine Frau und sein Sohn.
Ihnen widmet er seinen Erfolg. Die Zuschauer lieben das. Er erntet Begeisterungsstürme.
Auf dem Weg in die Kabine schüttelt er Hunderte Hände, die ihm die Fans entgegenstrecken.
Unter der Dusche findet er einen Moment der Besinnung.
Die vergangenen zwei Jahre lässt er Revue passieren.
Seine Verletzung im Finale, das sein Team verlor.
Ein Jahr schuftete er in der Reha, nur um dann entlassen zu werden.
Zur alt, lautete die Begründung.
Da kam der Anruf aus New York.
Man wollte ihm eine Chance geben, aber er müsse mit einem Platz auf der Bank rechnen.
Das war ihm egal. Er wollte es allen noch einmal zeigen.
Jetzt hatte er es allen gezeigt.
NBA-Champion und wertvollster Spieler.
Verdammt, er hatte es geschafft.
Er würde aufhören auf dem Höhepunkt seiner Karriere.
Als er aus der Dusche kommt, ist sein Spint von Reportern umlagert.
Eine Stunde muß er deren Fragen beantworten,
bis endlich alle verschwunden sind und er sich ankleiden kann.
Er will zu seiner Familie.
Dann kommt der Anruf des Präsidenten,
der Jason und der Mannschaft zu der hervorragenden Leistung gratuliert.
Im Gang vor der Kabine warten seine Frau und sein Sohn. Sie fällt ihm um den Hals.
Minutenlang drückt er sie an sich. Er will diesen Moment voller Glück festhalten.
Sara hatte ihn immer unterstützt, besonders nach dem Kreuzbandriß.
Er kann spüren, wie sie sich mit ihm freute.
Seinem Sohn Sean schenkt er das Trikot und die Mütze,
auf der NBA-Champion steht. Der Kleine freut sich riesig.
Sara und Sean schickt er nach Hause.
Diese Nacht muß er mit dem Team feiern.
Die nächsten Monate sollen seiner Familie gehören.
Mit der Mannschaft macht er sich auf zum Times Square, wo die Fans schon feiern.
Es gibt sogar ein Feuerwerk.
Einige Stunden feiern sie am Times Square mit den New Yorkern.
Danach touren sie durch die Bars im Village. Bis morgens um acht Uhr.
Jason findet keinen Schlaf,
denn schon um zehn Uhr muß sich die Mannschaft am Garden treffen.
Zwei Stunden später steht die für New York übliche Konfetti-Parade an.
Total übermüdet sitzt er neben seinem Trainer im Cabrio
und winkt der begeisterten Menge zu.
Um ihn herum schneit es Konfetti und Luftschlangen.
Er genießt den Triumph.
Auch die Feier danach beim Besitzer.
Um acht Uhr abends ist er endlich zu Hause.
Er hat seit 34 Stunden nicht mehr geschlafen und will nur noch ins Bett.
Dennoch erzählt er beim Abendessen Sean immer wieder vom letzten Wurf.
Den Zeitungen entnimmt er,
daß er einen neuen Rekord für die Trefferquote in den Endspielen aufgestellt hat.
Um zehn legt er Sean schlafen.
Sara wartet bereits im Bett.
Er legt sich zu ihr. Er umarmt sie, küsst sie.
Überglücklich schläft er in ihren Armen ein.
Er träumt von dem Spiel, in dem er sich das Kreuzband gerissen hatte,
von seiner Rückkehr, und vom letzten Wurf seiner Karriere,
vom Jubel in der Halle, von den Meisterfeiern.
Als er wach wird, scheint bereits die Sonne ins Zimmer.
Er spürt die warmen Strahlen auf seinem Gesicht.
Er dreht sich noch einmal rum. Sara hat ihm Frühstück ans Bett gebracht.
Der Duft von Kaffee und frischem Spiegelei lässt ihn die Augen aufschlagen.

Er sieht, wie der Ball am Ring vorbeifliegt.
Airball.
Das Spiel, die Serie, die Meisterschaft.
Alles verloren.
 



 
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