Engelshemd

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wondering

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Engelshemd

Ich sitze in einem „Engelshemd“ auf der Bettkante und starre auf meine Beine. Die Haut ist rötlich-blau marmoriert. Es fröstelt mich. Meine Füße sind mit blauen Plastikfüßlingen verziert; es raschelt, wenn ich die Zehen bewege. Es schüttelt mich wieder. Der steif gestärkte Stoff des OP-Hemdes ist mir unangenehm auf der Gänsehaut. Ich lasse die Beine lässig baumeln und rede mir Unbekümmertheit ein. ‚Hey, das hast du schon tausend Mal über dich ergehen lassen, na ja einige Male, und jedes Mal ist alles gut gegangen. Nachher bist du wieder zu Hause, sitzt auf deinem Sofa und genießt den Abend. Es war immer so.’ Trotzdem habe ich eiskalte Füße und Fingerspitzen. Der Kloß in meinem Hals stört beim Schlucken und meine aufgestellten Nackenhaare wollen sich nicht wieder legen. Ich ertappe mich dabei, wie ich immer wieder sehr tief einatme; ich habe das Gefühl, nicht genügend Luft zu bekommen.
Es ist der Geruch der Umgebung, rede ich mir ein. Ich mag diesen Geruch von Bohnerwachs und Sterillium nicht. Nein, es ist das Geräusch. Das Geräusch der Schiebetür zum OP: ssssssssit...auf, ssssschhhht..zu... das ist es, deshalb habe ich Angst. Das Geräusch, der Geruch, es ist beides. Und dieses Gefühl, dass ich dieses Mal nicht wieder aufwachen könnte.
Die Umgebung, in der ich sitze und auf den Eingriff warte, ist mir bekannt. Ich kenne die Zelle, die mir vom Fenster aus den Blick über Köln erlaubt, immerhin befinde ich mich im fünften Stock. Wenn ich morgens ankomme, orientiere ich mich jedes Mal am Ausblick und stelle fest, dass noch alles dort ist, wo es hingehört. Es gibt mir ein Gefühl von Sicherheit.
Damit mein Denken für einen Augenblick die Angst vor der OP verlässt, schaue ich mich um und registriere wie durchdacht und patientenorientiert dieses ambulante Operationszentrum aufgebaut ist. Auf vielleicht fünf Quadratmetern steht ein Bett auf Rollen, zwei Stühle für Begleiter, die ich nicht habe und ein rollbarer Nachttisch, auf dem sich ein Stapel Papiertücher, eine Nierenschale und der vorbereitete Entlassungsschein befinden. Auf der Fensterbank liegen, fein geordnet, verschiedene Zeitschriften, mehr oder weniger aktuell, für die Wartephasen vor dem Eingriff und für später bis zur Entlassung. Ein bodenlanger, weißer Vorhang, trennt die Zelle vom Flur. Neun solcher Zellen, wie meine, liegen nebeneinander. Auf dem Flur befindet sich eine kleine Bar mit Kaffee, Tee, Mineralwasser, Keksen und Salzstangen zur Selbstbedienung, sobald man wieder dazu in der Lage ist. Moderne Kunst an endlosen Wänden zerstreut das Auge und ungefähr alle fünf Meter mahnt ein gerahmter Hinweis zur Ruhe und Rücksicht auf Mitpatienten.
Inzwischen kenne ich alle Details meiner Umgebung auswendig, und es sollte sich nach der Zahl der Wiederholungseingriffe eine gewisse Routine bei mir eingestellt haben, doch nun sitze ich wieder fröstelnd auf meinem Zellenbett und warte auf den Anästhesisten.
Ich greife eine der Zeitschriften und blättere. Ich höre Schritte auf dem Flur und hoffe, sie gelten mir. Meistens aber höre ich die automatische Tür zum OP und wie die Schritte dahinter verhallen.
Wieder Schritte. Der Vorhang zu meiner Zelle wird beiseite geschoben und ein Mann in Blau tritt lächelnd zu mir vor: „Guten Morgen, ich bin ihr Anästhesist. Sind Sie nüchtern?“ Als ich dies bestätige, erklärt er mir das bereits wohl bekannte Procedere: „Ich werde Sie jetzt noch einmal abhören und dann geht es auch schon los.“ Schön, denke ich, mache meinen Rücken frei und bin froh, dass ich am Vorabend aufgehört habe, zu rauchen. „Haben Sie Wertsachen hier?“, fragt mich der Arzt und ich deute auf meine Handtasche, die er daraufhin am Fußende in mein Bett legt. Dann schiebt er mich über den Flur und hinter diese Tür, deren Geräusch ich nicht leiden kann.
Ab hier wird mir richtig mulmig. Jedes Mal. Ich höre das Überwachungs-EKG aus einem der OPs, sehe wuselnde Leute in Blau und weigere mich innerlich stark, der Bitte zu folgen, aus meinem Bett zu steigen und in OPII zu gehen. Es hilft nicht, ich stehe auf und tapse in meinem Engelshemd frierend hinter dem Anästhesisten her. Eine OP-Schwester empfängt mich und zeigt mir, wo ich hinauf zu klettern habe, als ob ich das nicht wüsste, während der Narkosearzt an seinen Spritzen und Mitteln herum nestelt. Ich fühle mich elend. Befinde mich zwischen Schicksalsergebenheit und Zorn auf die Routine um mich herum. Ich möchte schreien: „Legt Ihr euch doch dahin und macht das alles zum x-ten mal mit. Interessiert es euch überhaupt, dass ich schon wieder hier liege? Habt Ihr einen Ahnung, was ich für Ängste ausstehe, jedes Mal, wenn ich wieder hier sein muss? He, Herr Dr. Knips-mich-aus, sind Sie ausgeschlafen? Wissen Sie sicher, was Sie tun? Und Sie, Frau OP-Schwester, warum sehen Sie mich nicht an, wenn Sie das große blaue Tuch über mich legen? Bin ich jetzt schlachtreif, oder was? Mir ist kalt, warum bekomme ich keine Heizdecke, ich bin privatversichert!“
Und dann wieder fühle ich Dankbarkeit. Empfinde diese Routine als Beruhigung. Denke, klar, sie machen das täglich, Jahr für Jahr. Es sitzt jeder Handgriff und sie wissen genau, was sie tun. Es ist besser, keine Fragen mehr zu stellen und sie in ihren gewohnten Abläufen nicht zu stören. Und so ergebe ich mich, jedes Mal.
„So, nun machen Sie mal eine feste Faust“, sagt der Anästhesist und ich gehorche. Sekunden später sitzt die Braunüle in meiner Vene und ich habe nichts gespürt. Dankbar lächle ich ihn an. Er tätschelt meine Schulter während die OP-Schwester meine Beine festschnallt. „Ich klemme Ihnen nun noch das EKG an den Finger an und dann hören Sie Ihr Herz. Gleich wird Ihnen warm und schummerig.“ Ich höre mein Herz und es schlägt schneller, als ich es wahrnehme. „Ganz ruhig“, mahnt der Arzt und setzt eine Spritze an die Braunüle an. Mir wird warm und schummerig. Ich höre mein Herz, wie es gleichmäßig schlägt und meine Augen werden schwer. Ich fühle mich gut, wie etwa nach einer halben Flasche Rotwein und sage: „Und tschüß...“, starre an die Decke und genieße den Dämmerzustand. Jemand hat das Licht ausgemacht.
Doch dann rufe ich besorgt: „Ich bin noch wach!“ und höre von weit weg: „Nein, nein, sie sind wieder wach, es ist alles gut gelaufen.“
Gut. Bis zum nächsten Mal.
 
Hi wondering,

ja ich schließe mich Rainer an. Sehr dicht. Unter die Haut gehend. Eine Szene zwischen Alptraum und beruhigender Routine. Beruhigend und beklemmend zugleich wirkt das genaue Registrieren der Details. Irgendwie fragte ich mich nur vom dritten Satz an, um was für einen Eingriff handelt es sich? Sicher, die Geschichte lebt von der Atmosphäre und im Grunde tut die Art des Eingriffs nicht viel zur Sache.
Beste Grüße
 

wondering

Mitglied
genau

...danke Monfou,
ja, ich denke auch, es tut nichts zur Sache, um welchen Eingriff es sich handelt, im Gegenteil. Es wäre mit einem Wort irgendwo einzubringen, aber ich denke, gerade weil es unerwähnt bleibt, konzentriert sich der Text auf die "Vorher-Situation"... ich hatte es erst drin, dann aber wieder gestrichen, weil der Text dadurch an Wirkung verlor.
Komisch, ist aber so. Vielleicht, weil der Leser sich dann zu viele Gedanken darum macht, was geschnibbelt wird und die Angst vorher nicht mehr so mitverfolgt.

Viele Grüße
wondering
 

Estrella

Mitglied
Hallo Wondering,
auch mir hat Deine Geschichte sehr gut gefallen. Ich konnte die Gedanken und Ängste Deiner Prot gut nachvollziehen, obwohl ich selber Gott sei Dank noch nie operiert worden bin. Deine Prot (autobiografisch?) muss das ja wohl leider öfter über sich ergehen lassen.
Den Titel fand ich übrigens auch gelungen.

Liebe Grüsse
Estrella
 



 
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